Christine Rosen über die Gefahren der digitalen Welt
Christine Rosen ist Senior Fellow am American Enterprise Institute. Außerdem schreibt sie als monatliche Kolumnistin für das Commentary Magazine, ist Co-Host des „Commentary Magazine Daily Podcast“, Fellow am Institute for Advanced Studies in Culture der University of Virginia und Senior Editor bei The New Atlantis.
Diese Woche sprechen Yascha Mounk und Christine Rosen über die Tücken des Online-Datings, die Folgen öffentlicher Beschämung – und darüber, warum das Internet es so viel schwerer macht, ein stabiles Selbstverständnis zu entwickeln.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Es gibt ja eine Menge Sorgen darüber, wie KI die Welt verändern wird. Jonathan Haidt war schon mal im Podcast und hat inzwischen ein Megabestseller-Buch darüber geschrieben, welchen Einfluss soziale Medien vor allem auf Teenagerinnen und andere junge Menschen haben, die in dieser Kultur aufwachsen.
Deine Sorge ist eine etwas andere – vielleicht weniger drastisch, aber viel breiter angelegt: nämlich wie die Erfahrung, die wir alle von der Welt haben, inzwischen komplett durch digitale Geräte vermittelt wird, die in jeden Aspekt unseres Lebens eingedrungen sind. Warum sollten wir unsere Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht weiten?
Christine Rosen: Mich haben diese scheinbar banalen Erfahrungen fasziniert, weil mir in den letzten, sagen wir, zehn Jahren immer stärker aufgefallen ist, wie viele Dinge inzwischen durch Geräte vermittelt werden, die früher nicht vermittelt wurden. Ich bin Gen X, also so ein Hybrid: Ich bin ohne all diese Tools aufgewachsen und habe sie erst im Erwachsenenalter übernommen. Ich erinnere mich noch an die Zeit davor – vor Smartphones, vor dem Internet. Und ich fand es erstaunlich, wie schnell wir davon ausgegangen sind, dass jede neue Technologie unser Leben verbessert. Das stimmt in vielen Fällen, aber bei manchen unserer Alltagsinteraktionen – vor allem im zwischenmenschlichen Bereich: wie wir uns als Individuen, in Familien, in Gemeinschaften oder im öffentlichen Raum begegnen – haben sich Dinge verändert, die mir eher Sorgen machen.
Das lag nicht nur an der digitalen Technik, aber diese Technik hat es uns ermöglicht, genau jene Reibungen und Unannehmlichkeiten zu eliminieren, die früher selbstverständlich zu menschlichen Beziehungen gehörten. Deshalb fand ich es wichtig, auch andere Lebensbereiche genauer anzuschauen, die wir vielleicht vorschnell als »Verbesserungen« durch das Smartphone, das Internet oder Social-Media-Plattformen abgehakt haben – und zu fragen, ob das wirklich stimmt.
Mounk: Ich bin da selbst hin- und hergerissen. Auf der einen Seite finde ich das Argument für das Smartphone durchaus überzeugend: dass es im Grunde einfach ein einziges Tool ist, das viele Dinge bündelt, die wir früher ohnehin gemacht haben. Früher hatte man Bücher dabei, wenn man lesen wollte, vielleicht auch Kassetten, um ein Hörbuch zu hören. Man hatte ein Festnetztelefon, um Leute anzurufen, und einen Fernseher im Wohnzimmer, um die Nachrichten zu sehen.
Wenn man das alles zusammenzählt, hat all das in den Achtziger- oder Neunzigerjahren wahrscheinlich auch schon viele Stunden am Tag in Anspruch genommen. Heute ist das alles in einem Gerät gebündelt. Also klar, ich verbringe Zeit am Smartphone – aber in der Zeit lerne ich Vokabeln, lese Zeitung oder ein Buch, höre ein Hörbuch und spreche mit Freunden. Was ist daran falsch?
Auf der anderen Seite ertappe ich mich natürlich dabei, dass ich beim Kaffeetrinken mit jemandem alle paar Minuten aufs Handy schaue – etwas, das ich früher mitten im Gespräch nicht getan hätte. Da hätte ich auch nicht mal eben die Zeitung aufgeschlagen oder den Fernseher angemacht. Wie soll man diese beiden Sichtweisen zusammendenken?
Rosen: Du hast völlig recht, dass sich die Art, wie wir unsere Zeit verbringen, nicht komplett verändert hat und dass all diese Tätigkeiten Dinge sind, die Menschen sowieso machen – mit oder ohne Technik. Der qualitative Unterschied ist aber wichtig: Die Mobilität der Geräte bedeutet, dass diese Dinge nicht mehr orts- oder zeitgebunden sind. Und es zeigt sich, dass genau diese Grenzen – ob wir mit Freunden, Familie oder im Büro sind – einen großen Einfluss darauf haben, wie gut und intensiv unsere Interaktionen eigentlich sind.
Wenn du mit einer Freundin Kaffee trinkst und niemand hat ein Smartphone dabei, dann hörst du dir aller Wahrscheinlichkeit nach gegenseitig zu. Es wäre unhöflich, mitten im Gespräch ein Buch vor die Nase zu halten. Aber heute, wo sich neue Normen eingeschlichen haben – Leute tippen unterm Tisch Nachrichten, während der andere redet –, finden manche das unhöflich, andere wiederum sagen: „Ich checke nur kurz meine Nachrichten.“ Diese Dringlichkeit, dieses ständige Jetzt, dieses „Ich muss sofort antworten“ – das ist wirklich neu. Genauso wie die Geschwindigkeit, mit der wir Zeit und Raum auflösen können.
Das bedeutet: Unsere individuellen Erfahrungen haben sich in vielerlei Hinsicht verbessert, so wie du es beschrieben hast. Aber unsere kollektiven Erfahrungen sind ärmer geworden. Denk nur an den öffentlichen Raum und die kleinen, unausgesprochenen Regeln, die unser Verhalten steuern: Man schaut sich im Fahrstuhl kurz in die Augen. Wenn man jemanden anrempelt, entschuldigen sich beide. Solche Mini-Rituale schmieren das Getriebe des sozialen Miteinanders. Wenn sie verschwinden, steigt die Anspannung: mehr Angst, mehr Frust, mehr Gereiztheit.
Das sieht man an skurrilen Phänomenen. Die Zahl der Fälle von „Verkehrswut“ steigt. Menschen erwarten, dass alles sofort verfügbar ist, auch im öffentlichen Raum. Und genau auf dieser subtilen Ebene fördert die Technologie neue Verhaltensweisen und Denkgewohnheiten – deren Auswirkungen wir noch längst nicht abschließend verstanden haben.
Mounk: Das ist wirklich spannend. Ich denke gerade darüber nach, was das alles für unser kollektives Erleben bedeutet. Eine der auffälligsten Sachen ist ja: Als das Internet in den 1990ern aufkam, waren sich die Evangelisten sicher – und eigentlich dachten das die meisten –, dass es uns näher zusammenbringen würde. Es sollte uns leichter machen, miteinander zu reden.
Damals war selbst ein Telefonat von der US-Ostküste zur Westküste teuer. Ich bin in Deutschland aufgewachsen, mit Familie in Dänemark und Schweden. Meine Großeltern haben mich alle paar Tage oder einmal die Woche für zwei, drei Minuten angerufen – und das war für sie schon eine erhebliche Ausgabe. Deshalb war es völlig plausibel zu glauben: Sobald wir für null oder fast null Euro telefonieren können, werden diese Familienbeziehungen viel enger.
Und noch breiter gedacht: Warum gibt es Vorurteile, warum Tribalismus? Nun, weil es früher extrem schwer war, mit jemandem in Kenia oder Afghanistan zu reden. Viel zu weit weg, viel zu teuer. Einen Brief konnte man verschicken – der kam nach Wochen an, und bis eine Antwort zurück war, war ein Monat vorbei. Wie soll man da wirklich in Austausch treten? Die Hoffnung war: Mit Skype & Co. können wir einfach abhängen, und die Vorurteile werden verschwinden.
Doch tatsächlich ist das Gegenteil passiert: ein seltsames Comeback der Identitätspolitik. Das ist das Paradox des Internets: Wir haben die Kosten der Kommunikation verschwinden lassen – und statt engeren Familienbeziehungen, mehr Sozialleben und größerem Verständnis über kulturelle Grenzen hinweg haben wir Entfremdung bekommen, weniger Zeit miteinander und einen Rückzug in tribale Organisationsformen. Damit hätte damals kaum jemand gerechnet.
Wenn man da mal „reinzoomt“: Warum macht es dieses Online-Leben so viel schwerer, Zeit für echte Begegnungen zu finden? Es gibt ja viele Statistiken über Teenager, die viel weniger Zeit miteinander verbringen – und die vielleicht deshalb auch weniger typische „Erwachsenenmarker“ erleben: Sie trinken weniger, sind seltener in Beziehungen usw.
Aber es betrifft auch Erwachsene. Ich habe kürzlich eine Zahl gesehen: Demnach gibt es ziemlich überzeugende Hinweise, dass die Zahl an Partys, Abendessen, Barbecues usw. unter Erwachsenen in den letzten 20 Jahren massiv eingebrochen ist – um mehr als 40 Prozent. Woran liegt das?
Rosen: Ich bin froh, dass du das ansprichst – ich nenne das immer den Kumbaya-Moment in der Geschichte des Internets. Ich erinnere mich gut daran. Ich war anfangs genauso euphorisch wie alle anderen: Diese Vorstellung, dass Verbindung automatisch mehr Verständnis schafft, dass Menschen sich öfter und intensiver austauschen. Dass leichte Kommunikation auch unsere Beziehungen leichter machen würde. Aber all das blendete einen entscheidenden Faktor aus: die menschliche Natur.
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Das Problem, wie ich es im Laufe der Jahrzehnte mit dem Internet und dann dem Smartphone live beobachtet habe, war: Jeder konnte sich äußern – aber immer weniger wollten wirklich zuhören. Das führt direkt zu deiner Frage nach persönlichen Begegnungen. Persönliche Interaktionen sind nicht immer einfach. Oft sind sie sogar anstrengend. Man muss lernen, die sozialen Signale anderer zu lesen: Mimik, Gestik, all diese nonverbalen Kommunikationsformen. Und das lernen wir von klein auf. Das Erste, worauf ein Baby schaut, ist ein Gesicht.
Wenn man die Tiefenwahrnehmung eines Neugeborenen betrachtet, sieht es ungefähr so weit wie von der Armbeuge bis zum Gesicht von Mutter oder Vater. Wir sind also evolutionär darauf programmiert, Gesichter zu suchen – und uns auf diese Weise gegenseitig zu verstehen.
Sobald du aber einen Bildschirm dazwischen schaltest – und Sozialwissenschaftler untersuchen das seit Jahrzehnten –, tritt der sogenannte Online-Disinhibition-Effekt ein. Das heißt: Man ist viel eher bereit, Dinge zu sagen oder zu tun, weil da eine Barriere ist. Man ist nicht physisch im selben Raum, nicht direkt gegenüber. Also schreibt oder macht man Dinge, die man im echten Leben nie sagen oder tun würde.
Mounk: Genau das war, glaube ich, ein Teil dieser seltsamen kulturellen Phase 2020 – mit all den irrationalen „Cancellations“ und den überzogenen Vorwürfen. Es ist eine Sache, in einem Konferenzraum mit 20 Leuten zu sitzen und zu sagen: „Diese Person da drüben ist ein böser Rassist“ – auch wenn es sich um ein ganz normales Mitglied der Gesellschaft handelt, das nie etwas besonders Schlimmes getan hat. Aber es ist eben sehr viel leichter, das in einen Chat zu tippen oder auf Slack zu schreiben.
Rosen: Absolut. Denn die Konsequenzen spürst du nicht sofort. Gleichzeitig hast du das Gefühl, unglaublich viel Kontrolle auszuüben. In echten Beziehungen haben wir diese Kontrolle nicht. Wir können den anderen nicht einfach wegklicken. Aber wenn man stundenlang an digitalen Interaktionen teilnimmt – ob auf einer Social-Media-Plattform oder in einem Slack-Channel –, gewöhnt man sich genau an diese Erwartung: dass man jemanden einfach löschen oder canceln kann.
Schau dir die Tasten auf deinem Computer an: Escape, Backspace, Delete. So können wir mit Menschen nicht umgehen. Aber die meiste Zeit kommunizieren wir genau mit diesen Werkzeugen. Da kommt McLuhan ins Spiel: „Das Medium ist die Botschaft.“ Wir werden selbst maschinenähnlicher in unseren Interaktionen, anstatt Maschinen zu bauen, die uns helfen, menschlicher zu werden.
Und genau da entstehen dann auch Cancel Culture und diese radikalisierenden Verhaltensweisen, die durch die Plattformen belohnt werden. Denn sie sind so konstruiert, dass sie Zuspitzung, Drama und Konfrontation belohnen – nicht Nachdenklichkeit, Ambivalenz oder Großzügigkeit im Gespräch.
Mounk: Man sollte ja eigentlich meinen: Wenn das Online-Sein einerseits so bedrohlich und konfliktreich sein kann, andererseits die Kommunikation einfacher geworden ist – es war noch nie so leicht, ein Treffen zu organisieren, spontan zu sagen „Hey, ich habe heute Abend Zeit, kommt doch vorbei“ –, dann müsste es doch mehr Grillabende geben, mehr gesellige Treffen. Aber stattdessen passiert genau das Gegenteil: weniger und weniger.
Ein Teil liegt sicher an der Suchtmechanik der Algorithmen. Das kenne ich auch von mir: In einem Moment der Langeweile denkt man „Ich schaue kurz bei Instagram rein“ – und plötzlich ist eine halbe Stunde mit belanglosen Reels verflogen. Aber ich hatte nie das Gefühl: „Da ist eine tolle Einladung, aber ich bleibe lieber zu Hause und scrolle Reels.“ Deshalb fällt es mir schwer zu verstehen, wie dieser kollektive Effekt zustande kommt. Warum fesselt uns das Online-Sein gesellschaftlich so stark, warum verschiebt es die sozialen Anreize, oder warum macht es echte Begegnungen vielleicht so riskant oder anstrengend, dass am Ende viel weniger Leute zusammen grillen oder feiern?
Rosen: Ich würde sagen, ein Punkt ist: Du gehörst wahrscheinlich zu der Generation, die diese Fähigkeiten noch üben konnte, bevor so vieles über Bildschirme vermittelt wurde. Da gibt es wirklich einen Generationenunterschied. Jede neue Generation verbringt weniger Zeit von Angesicht zu Angesicht miteinander. Und ich glaube, das liegt auch daran, dass es eben Fähigkeiten sind, die man trainiert. Früher haben wir das gar nicht als „Training“ wahrgenommen – es war einfach die einzige Art, miteinander umzugehen.
Sobald du aber eine Alternative einführst – eine, die es viel leichter macht, zu kommunizieren, ohne das Haus zu verlassen, sich anzuziehen, in den Bus zu steigen oder all die Mühen normaler sozialer Interaktion auf dich zu nehmen –, werden Menschen immer den einfachen Weg wählen. Das wissen wir über uns. Manchmal ist das auch völlig in Ordnung. Aber wenn man an die jüngeren Generationen denkt, die schon sehr früh den Großteil ihrer Interaktionen in einem mediatisierten Umfeld hatten – und ich habe viel Verständnis für diese Kids –, dann steckt da eben eine große Unsicherheit drin, es auf die altmodische Art zu machen.
Ich habe mit vielen Jugendlichen gesprochen, die das erzählen: Sie wollen sich mit ihren Freunden treffen, aber schon allein alle dazu zu bringen, wirklich zuzusagen, und dann auch noch alle Handys wegzulegen und diese Interaktionen zuzulassen – das ist schwierig. Wenn sie es tun, genießen sie es, und viele machen es auch. Aber es ist heute eine Fähigkeit, die sie aktiv einüben müssen. Sie müssen sich bewusst dafür entscheiden. Sie müssen die logistischen Hürden und die gefühlte Umständlichkeit überwinden.
Ich glaube tatsächlich, dass der Mensch immer den bequemeren Weg wählt. Das bedeutet: Auch in diesen vermittelten Umgebungen haben wir echte emotionale Erfahrungen. Wir fühlen tatsächlich etwas, selbst wenn wir allein in unserem Zimmer sitzen und durch Instagram-Reels scrollen. Wir nehmen bereitwillig eine qualitativ ärmere Erfahrung in Kauf, weil sie so viel bequemer ist, direkt verfügbar, ohne Anstrengung.
Mounk: Ich merke, dass ich dir diese Frage immer wieder stellen möchte, weil es mich einfach so sehr beschäftigt. Was ist mit den grundlegendsten menschlichen Trieben? Das Bedürfnis von Jugendlichen, Zeit mit Freunden zu verbringen, scheint doch eigentlich so stark. Oder der Wunsch nach romantischen Beziehungen, die sexuelle Anziehung – das alles ist doch normalerweise so mächtig, dass es alles andere überlagert. Und trotzdem passiert genau das nicht.
Ich war gerade zweieinhalb Wochen in China und habe dort mit einem Forscher gesprochen, der Zugang zu sehr guten Daten hat. Er konnte mir überzeugend zeigen, dass die Zahl romantischer Beziehungen dort drastisch gesunken ist. Viele heiraten nicht, wollen nicht heiraten, wollen keine Kinder – was man ja auch in den sinkenden Geburtenraten sieht. Und wenn man junge Menschen nach ihren Prioritäten im Leben fragt, nennen sie Liebe und Partnerschaft am seltensten als wichtig – und am häufigsten ausdrücklich als unwichtig.
Zuerst war ich skeptisch. Ich dachte, das ist vielleicht wieder diese westliche Brille, die den „seltsamen“ Trend in Korea oder Japan beschreibt: dass dort angeblich keiner mehr datet. Aber in China selbst sagen kluge Leute dasselbe. Also kein orientalistisches Klischee, sondern eine Beobachtung, die dort selbst ernst genommen wird. Natürlich kann es trotzdem falsch oder unvollständig sein. Aber ich war ziemlich erstaunt. Müsste der Drang, einen Partner zu finden, dieses Lebensfeld zu teilen, nicht eigentlich so stark sein, dass er all das überwindet? Vor 15 oder 20 Jahren hätte ich jede solche Prognose nicht ernst genommen. Doch inzwischen gibt es genug empirische Belege, dass es tatsächlich passiert. Und ich frage mich: Wie können all die Mechanismen, die du beschreibst – und die mir durchaus plausibel erscheinen – wirklich stark genug sein, um so fundamentale menschliche Antriebe zu überlagern?
Rosen: Lustig, dass du sagst, du hättest so eine Prognose nicht geglaubt. Denn eines meiner ersten Projekte bei The New Atlantis, als wir das Journal vor mehr als 20 Jahren gründeten, war genau Online-Dating. Damals fing das erst richtig an, und mich hat genau diese Frage fasziniert: Wird das verändern, wie Menschen sich treffen, sich verlieben, Familien gründen?
Wir hatten damals kaum Daten, nur Eindrücke und kleine Studien zu den ersten Plattformen. Aber zwei Muster sprangen mir sofort ins Auge. Sie wirken widersprüchlich, aber genau das, was du beschreibst, spielte sich da ab: eine enorme Risikoaversion. Kaum etwas im Leben ist so riskant wie romantische Beziehungen. Natürlich überwindet man dieses Risiko normalerweise – weil man jemanden treffen, sich verlieben will. Aber die frühen Nutzer begannen, all das Risiko sofort nach vorne zu verlagern: „Ich will schon vor dem ersten Treffen alles wissen. Ein ganzes Dossier. Ich darf keine Zeit verschwenden mit jemandem, der vielleicht ein Detail hat, das mir nicht passt.“
Gleichzeitig entstand der gegenteilige Impuls: Selbst wenn man jemanden mochte, blieb immer im Hinterkopf, dass es da draußen Tausende andere potenzielle Matches gibt – vielleicht bessere. Unendliche Optionen – und gleichzeitig wachsende Angst vor der Unsicherheit einer echten Beziehung. Diese beiden Kräfte zusammen prägen besonders die jüngeren Generationen.
„Einfach so“ jemanden im echten Leben kennenzulernen, ist für viele fast unvorstellbar. Natürlich kenne ich Paare, die über Apps glücklich verheiratet sind. Aber die erfolgreichsten waren oft jene, die sofort klare Grenzen zogen: jüdische Dating-Plattformen, katholische, vegetarische, sogar karnivore Dating-Seiten. Da fanden sich die Richtigen, was vor dem Internet viel schwieriger gewesen wäre.
Die Kombination aus Risikoaversion und endlosen Optionen hat das Verhalten wirklich verändert. Dieses „Flattening“ – die Nivellierung durch digitale Vermittlung – betrifft nicht nur Gesellschaften, die man für besonders konformistisch hält. Auch in individualistischen Kulturen reagieren die Menschen ähnlich. Studien zeigen: Die Praktiken menschlicher Partnersuche haben sich weltweit und spürbar verändert.
Mounk: Ich bin allerdings etwas skeptisch, wenn man die Bosheit der Social-Media-Firmen überbetont. Vieles davon wirkt für mich eher wie ein emergentes Verhalten unserer eigenen Psychologie in diesen Online-Umgebungen, nicht wie ein genialer Masterplan, uns süchtig zu machen.
Aber eines der schockierendsten Dinge, die ich über Dating-Plattformen gehört habe – und ich glaube, das stimmt tatsächlich – ist Folgendes: Sie haben natürlich Zugriff auf die IP-Adressen. Sie wissen, wenn zwei Nutzer ein Match haben. Und sobald zwei Leute öfter über dieselbe IP-Adresse eingeloggt sind – also wahrscheinlich anfangen, sich regelmäßig zu treffen –, spielt der Algorithmus ihnen bewusst attraktivere Alternativen ein. Frei nach dem Motto: „Schau mal, da draußen gibt’s noch heißere Optionen.“ Mit anderen Worten: Die Plattform versucht, die Bildung eines Paares aktiv zu untergraben, um beide Nutzer weiter an sich zu binden.
Rosen: Ja, das habe ich auch gehört. Klar – da draußen gibt es immer „jemanden Besseren“. Am Ende ist es eben ein Geschäft.
Mounk: Das ist wirklich eines der bösartigsten Dinge, die ich je gehört habe. Auf Social-Media- und Dating-Plattformen zeigt sich ja auch ein anderes Muster: Männer und Frauen verhalten sich dort sehr unterschiedlich. Das ist gut dokumentiert. Männer wischen viel häufiger nach rechts, bekunden also Interesse an einem deutlich größeren Anteil von Frauen, als Frauen das bei Männern tun.
Die Folge: Es gibt eine riesige Gruppe von Männern, die überhaupt keine Matches bekommen. Gleichzeitig gibt es eine kleine Gruppe von Männern, die ständig Matches haben – und diese Männer gehen dann auf viele Dates, schlafen vielleicht mit mehreren Frauen und ziehen weiter. Für Frauen, die oft auf eine feste Beziehung hoffen, ist das ein frustrierendes Muster: Sie daten jemanden mehrfach, entwickeln ernsthafte Gefühle, und plötzlich bricht der Kontakt ab. Am Ende bleiben Bitterkeit und Wut. Also fühlen sich Frauen oft unfair behandelt, während Männer, die gar nicht erst zum Zug kommen, das Gefühl haben, komplett ausgeschlossen zu sein. Auf zwei sehr unterschiedlichen Wegen landen beide Gruppen im gleichen Resultat: Sie ziehen sich vom Dating-Markt zurück.
Rosen: Erwachsenwerden heißt auch: lernen, mit Zurückweisung umzugehen. Aber was sich verändert hat, ist das Ausmaß. Wir sind evolutionär nicht darauf vorbereitet, Zurückweisung in dieser industriellen Masse zu erleben. Ob es nun die Frau ist, die nach ein paar Dates geghostet wird, oder der Mann, der bei allen nach links aussortiert wird – diese systematisierte Form von Ablehnung, die die Plattformen ermöglichen, überfordert uns.
Können wir uns daran anpassen? Ich glaube ja. Es entstehen immer wieder neue Nischenmärkte im Online-Dating. Als Frauen genug von Plattformen wie Match.com oder Plenty of Fish hatten, kamen neue Seiten auf, bei denen Frauen den ersten Schritt machen. Es gibt unzählige Wege, wie sich die Spielregeln ändern.
Aber die entscheidende Frage ist doch: Ist dieses System besser als frühere Formen des Kennenlernens? Früher geschah das im öffentlichen Raum, mit Geduld, mit dem langsamen Entdecken einer Persönlichkeit. Besonders in romantischen Beziehungen – aber auch in Freundschaften oder Familien – muss man lernen, mit der Langsamkeit und Unvollkommenheit anderer umzugehen. Unsere Geräte, an denen wir täglich sieben, acht Stunden hängen, fördern genau das Gegenteil: Ungeduld. Und das schwappt massiv in unsere sozialen Interaktionen hinein.
Mounk: Was ich daran bizarr finde: Ich erinnere mich noch gut, wie merkwürdig es war, als die ersten Dating-Seiten aufkamen. Lange Zeit war Online-Dating für „Loser“. Wer im echten Leben niemanden fand, ging halt ins Internet – das galt als peinlich. Heute ist es völlig normal. Mittlerweile entstehen die meisten Beziehungen über Dating-Apps, bei Jüngeren ist es sogar die Mehrheit. Und es steigt weiter rapide an.
Interessant ist: In den 1990er-Jahren hätte man eher gedacht, dass es leichter sei, online Freunde zu finden als einen Partner – weil die Fallhöhe niedriger ist. Man könnte doch meinen: „Hey, wir haben beide dieses obskure Band-Hobby, lass uns Freunde werden.“ Aber bis heute gilt es als merkwürdig, aktiv online nach Freunden zu suchen. Man kann über Twitter Bekanntschaften machen, sich austauschen – klar. Aber wenn jemand sagt, er sei gezielt ins Netz gegangen, um Freunde zu finden, fragen viele sofort: „Was stimmt nicht mit dir?“
Dabei gab es Versuche. Bumble wollte mal eine Freundschafts-App etablieren. Gerade in einer mobilen Gesellschaft wie den USA sollte es ja einen Markt dafür geben. Nehmen wir jemanden, der nach Cleveland zieht, niemanden kennt und gern Leute zum Kaffee treffen würde – eigentlich perfekt für einen Algorithmus. Aber trotzdem bleibt es ein Randphänomen. Auch mit Plattformen wie Meetup gilt es als etwas seltsam, wenn man Freundschaften online knüpfen muss.
Müsste die Lösung nicht sein, die Online-Welt zu erweitern statt zurück in die Offline-Welt zu fliehen? Bräuchte es nicht einfach eine Normenverschiebung, die es selbstverständlich macht, dass man in einer neuen Stadt online Freunde sucht? Warum ist da diese Diskrepanz – Online-Dating völlig normal, Online-Freundschaftssuche immer noch stigmatisiert?
Rosen: Ich denke, Plattformen wie Meetup sind nützlich, und Leute nutzen sie auch. Aber sie sind nicht annähernd so allgegenwärtig wie Dating-Apps. Der Unterschied liegt hier: Das Internet ist sehr hilfreich, wenn man bereits ein Interesse hat und an einem neuen Ort Leute finden will, die das teilen. So kann man effizienter Anschluss finden – im echten Leben. Das ist großartig.
Aber, wie Neil Postman schon über Fernsehen und Politik sagte: Wenn du ein Medium einführst, hast du nicht einfach das Alte mit einem Zusatz. Du hast etwas Neues. Genau so ist es mit Freundschaften, romantischen Beziehungen, Nachbarschaften. Sobald du eine Plattform dazwischenschaltest, verändert sich das Ding selbst.
Nehmen wir Nextdoor. Die Idee war, Nachbarn näher zusammenzubringen. Flohmarkttermine, Notfälle – alles schön und gut. Und teilweise funktioniert das: Man muss sich identifizieren, wirklich in der Nachbarschaft wohnen, um mitzumachen. Aber schnell kippte es: in übelste Nachbarschaftstratscherei, Denunziationen, Schuldzuweisungen. Ich beobachte meine lokale Gruppe manchmal fassungslos.
Das liegt an der schieren Größe, am Enthemmungseffekt online. Statt rauszugehen und dem Nachbarn zu sagen, er soll bitte seinen Hund anleinen, schreibt man lieber eine scharfe Nachricht ins Forum. Weil es sonst riskant wäre: Der andere könnte unfreundlich reagieren, sogar aggressiv.
Genau deshalb sollten wir uns klarmachen: Das hier ist nicht einfach die alte Form von Beziehung in digitaler Verpackung. Es ist ein neues Ding. Wir sind noch dabei, Normen zu entwickeln, die dazu passen. Manche haben wir schon gefunden. Aber wichtig ist: Wir dürfen nicht so tun, als gälten die alten Regeln noch – denn in vielen Fällen tun sie es nicht.
Mounk: Ich frage mich, ob ein weiterer Aspekt mitwirkt, dass man heute sehr viel oberflächliche Gemeinschaft findet, die dann die tiefere Gemeinschaft ersetzt. Die Leichtigkeit, mit der man oberflächliche Gemeinschaft findet, verdrängt irgendwie die echte.
Die extreme Form davon sehe ich manchmal auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen. Ich mag Reddit eigentlich ganz gern, weil ich finde, dass der Algorithmus besser funktioniert und es auf seltsame Weise unterhaltsam sein kann. Aber so oft stößt man dort auf Geschichten wie: „Ich kenne diese Person seit 20 Jahren, und gestern hat sie etwas gesagt, das ich verletzend fand – jetzt habe ich entschieden, sie komplett aus meinem Leben zu streichen. Bin ich das Arschloch?“ Und die Antwort ist immer: Nein. Wenn jemand nicht in jedem Moment perfekt deinen Wert anerkennt, ist er toxisch, und du musst ihn sofort aus deinem Leben kicken. Ich glaube, das ist in den letzten Jahren ein bisschen besser geworden, aber die Tendenz ist klar: Mitglieder einer völlig oberflächlichen Online-Community – Leute, die man nie persönlich getroffen hat, mit denen man vielleicht nie ein echtes Gespräch geführt hat und die nur auf irgendeinen Post kommentieren – ermutigen dich, echte Bindungen im Leben zu kappen. Das ist nur ein Beispiel, es gibt sicher auch Gegenbeispiele, aber vielleicht ist das der Mechanismus, den wir hier beobachten.
Rosen: Ich finde, das ist ein wirklich wichtiger Punkt, weil er zeigt, dass wir Menschen nun einmal evolutionär darauf programmiert sind, Anerkennung und Verbindung in Gemeinschaften zu suchen. Nur dass unsere Gemeinschaft online potenziell grenzenlos ist. Wenn man weniger Zeit mit den Menschen verbringt, die einen wirklich kennen – die dir zum Beispiel widersprechen würden, wenn du sagst, du streichst jemanden aus deinem Leben, weil er dich komisch angeschaut hat – dann fehlt diese mäßigende Stimme. Ein Freund oder eine Freundin würde vielleicht sagen: Du übertreibst, denk nochmal drüber nach, schlaf eine Nacht darüber. Solche Ratschläge bekommt man aber nur, wenn man diese Leute tatsächlich sieht oder ihnen schreibt.
Online hingegen kannst du sofort Tausende Fremde fragen, und die sagen dir dann: „Du bist mutig, du musst das tun, ich habe das auch gemacht.“ Unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird da getriggert und belohnt. Und belohnt wird das Extreme, auch wenn es nicht das Beste für dich ist. Kombiniere das mit der Gegenwartslastigkeit unseres Alltags: Wir wollen sofortige Antworten, so wie wir auch unser Essen sofort geliefert bekommen wollen, wenn uns nach einem Cheeseburger ist. Diese Ungeduld sickert in unsere Entscheidungen.
Mein Lieblings-Reddit-Thread ist übrigens „Instant Karma“ – wenn Raser sofort von der Polizei gestoppt werden. Ich liebe das: Endlich Gerechtigkeit. Diese Impulse werden online extrem verstärkt – und wir werden dafür extrem belohnt. Also machen wir weiter. Sich davon zu distanzieren ist schwer. Das ist einer der Gründe, warum ich in den Zwischenmomenten des Tages nicht aufs Handy schaue. Es ist zu leicht, eineinhalb Stunden später dazusitzen und sich zu fragen: Was habe ich da eigentlich gemacht? Dasselbe gilt für Beziehungen: Such dir jemanden, dessen Urteil du wirklich vertraust, und frag ihn oder sie. Geh nicht zuerst zu Reddit. Du kannst da immer noch hingehen, aber hol dir zuerst die Einschätzung von jemandem, der dich kennt. Genau diesen Schritt überspringen wir inzwischen.
Mounk: Ich habe übrigens ein generelles Problem mit den Vorwahlen in den USA. Der Grund ist folgender: Es gibt zwei Arten von Verfahren, denen ich vertraue. Erstens die Stakeholder. In Europa haben die meisten Parteien Mitglieder, die Beiträge zahlen. Diese Mitglieder wählen die Funktionäre, die dann wichtige Entscheidungen treffen – etwa, wer Kanzlerkandidat wird. Diese Leute haben ein langfristiges Interesse am Wohlergehen der Partei. Sie haben viel Arbeit hineingesteckt, kennen die Geschichte, die Erfolge und Misserfolge. Sie haben Skin in the Game.
Und dann vertraue ich zweitens demokratischen Wahlen, an denen alle teilnehmen können. Ich glaube tatsächlich, dass die meisten Menschen vernünftig sind. Ich stimme nicht immer mit der Mehrheit überein, aber im Großen und Ganzen sind die Leute anständig. Deshalb funktioniert Demokratie.
Das Problem der Vorwahlen ist, dass dort hochengagierte Leute abstimmen, die aber kaum echtes Risiko tragen. Sie sind bereit, hinzugehen und sich einzubringen, haben aber nicht das gleiche langfristige Interesse wie Insider. In gewisser Weise bilden diese Online-Communities genau dieses System nach. Es sind nicht deine Eltern. Nicht dein bester Freund. Nicht diejenigen, die deine Geschichte kennen und wissen, dass du schon drei Leute aus deinem Leben geworfen hast wegen Kleinigkeiten. Vielleicht bist du einfach ein bisschen zu empfindlich. Es sind nicht die Leute, die dein langfristiges Wohl im Blick haben. Auch nicht die Durchschnittsbürger, die vielleicht mehr gesunden Menschenverstand haben und psychologisch stabiler sind.
Es ist diese kleine Subgruppe von Leuten, die ihr ganzes Leben damit verbringen, in „Bin ich das Arschloch“-Threads auf Reddit zu kommentieren. Mit allem Respekt für diese Community: Psychologisch sind sie ziemlich anders gestrickt als der Durchschnitt. Es ist also ein sehr merkwürdiger Auswahlmechanismus, wem man da erlaubt, Entscheidungen für das eigene Leben zu beeinflussen.
Rosen: Ich glaube, du sprichst hier noch etwas anderes an, worunter die amerikanische Politik schon seit einiger Zeit leidet – den Bedeutungs- und Autoritätsverlust der Institutionen. Früher gab es in diesem Land noch starke politische Parteien, die tatsächlich Einfluss hatten und mitentschieden, wer auf lokaler oder Bundesebene kandidieren sollte. Das ist verschwunden.
In unserem aktuellen populistischen Moment zählt, wer die meisten Follower auf X oder Bluesky oder sonstwo hat. Mein geschätzter Kollege Yuval Levin hat viel darüber geschrieben – wie Institutionen, die eigentlich das Verhalten und die Urteilsfähigkeit von Menschen prägen sollten und denen wir Autorität zuschreiben, wie der Kongress, sich ins Gegenteil verkehrt haben. Heute nutzen Menschen die institutionelle Bühne, um ihre individuellen Ziele voranzutreiben. Die individuelle Kontrolle, die uns das Internet bietet, passt perfekt zu einer radikal individualistischen Gesellschaft wie der amerikanischen. Ein Großteil unserer Politik ist dadurch zu einem Spiel gegenseitiger Überbietung geworden – nicht nur unter den besonders engagierten, aber nicht unbedingt mehrheitsfähigen Leuten, die an Vorwahlen oder Online-Debatten teilnehmen, sondern auch unter den Politikern selbst. Sie spiegeln diesen Impuls wider, weil sie dafür belohnt werden.
Ich kann es nicht oft genug sagen: Sowohl rechts wie links haben wir eine ganze Reihe von Politikern, denen ihre Follower wichtiger sind als ihre Wähler. Eigentlich müssten sie den Menschen in ihrem Wahlkreis Rechenschaft ablegen. Stattdessen reagieren sie auf die Erwartungen von Followern, die oft gar nicht in ihrem Distrikt leben und deren einziges Anliegen darin besteht, online ihre Stammeszugehörigkeit zu signalisieren. Für die Demokratie ist das fatal – und es bleibt eine große Herausforderung für unseren Wahlprozess.
Auch in unseren persönlichen Beziehungen gilt: Die vermittelnden Institutionen – die menschlichen Institutionen – sind wichtig. Ich werde manchmal als „Erzieherin“ verspottet, weil ich im Acela-Zug gern im Ruheabteil sitze und sofort höflich, aber bestimmt einschreite, wenn jemand laut telefoniert: „Das ist das Ruheabteil, könnten Sie bitte aufhören?“ Ich versuche immer, freundlich zu bleiben, aber ich bin da konsequent. Das ist eine soziale Rolle, die ich ausfülle. Doch genau solche Rollen erodieren. Zuerst, weil heute jeder nur noch auf sein Handy starrt und den Menschen um sich herum im öffentlichen Raum keine Beachtung mehr schenkt. Aber das sind institutionelle Strukturen, die wir nicht aufgeben sollten. Ja, wir können Fehlverhalten filmen und Menschen innerhalb von Sekunden im Netz bloßstellen. Aber tun wir wirklich noch die anstrengendere Arbeit, gute Mitmenschen zu sein, die Fehlverhalten direkt ansprechen und Leute im Moment selbst zur Verantwortung ziehen? Nicht filmen, sondern hingehen und sagen: „Hör auf damit!“ oder einen Streit schlichten. Das ist eine Art kulturelle Funktion von Institutionen, die, fürchte ich, verschwindet.
Mounk: Diese Frage nach sozialen Normen ist wirklich entscheidend, weil manche Normen sehr gesund sind. Es ist großartig, wenn es im Amtrak einen Wagen gibt – neben vielen anderen, in denen man sich unterhalten kann –, in dem man in Ruhe arbeiten oder einfach Stille genießen kann. Aber dafür braucht es die richtige Balance. Wenn jedes Mal, wenn jemand ein Wort sagt – und das habe ich im Ruheabteil durchaus schon erlebt –, sofort jemand loschreit und einen Riesenkrach macht, ist das kontraproduktiv. Dann stört die Zurechtweisung mehr als die ursprüngliche Störung. Außerdem wird das soziale Klima dadurch extrem unangenehm. Gleichzeitig: Wenn nie jemand die Regel durchsetzt, verschwindet sie schnell.
In der analogen Welt gibt es Mechanismen, die dabei helfen, das richtig auszutarieren. Sie funktionieren nicht immer, aber wir haben lange eingeübte Instinkte dafür. Online dagegen sind die Normen oft vage, nicht an einen bestimmten Ort gebunden wie im Ruheabteil. Unterschiedliche Normen prallen aufeinander, oder man weiß nie, welche Regel in welcher Situation gelten soll. Und dann kann es passieren, dass Verstöße völlig unverhältnismäßig geahndet werden. Wir nehmen dieses Gespräch ein paar Tage nach einem eigentlich banalen Vorfall auf – einer unter buchstäblich Millionen, die täglich passieren. Zwei Ehepartner betrügen einander, und ein Kuss beim Coldplay-Kiss-Cam wird zum Skandal, der das Internet verschlingt.
Genau diese Angst ist präsent: Wenn ich mich ins echte Leben hinauswage, könnte ich für eine Kleinigkeit an den Pranger gestellt werden – völlig unverhältnismäßig. Wie bei vielen „Cancel“-Fällen: Manche werden berühmt, die meisten aber nicht. Jugendliche erleben inzwischen unzählige solcher Dramen – oft in Form lokaler Mini-Cancel-Culture, die nie Schlagzeilen machen. Sie erscheinen nicht in der New York Times und gehen nicht viral auf Twitter. Aber die Betroffenen können davon trotzdem so traumatisiert sein, dass sie sagen: Ich habe Angst vor jeder Form sozialer Interaktion, weil sie mich dieser kollektiven Dynamik aussetzen könnte.
Rosen: Das ist die Ironie unserer Zeit: Eines der frühen Versprechen dieser Technologien war ja, uns zu befreien. Mehr Freiheit, mehr Kontrolle, mehr Verantwortlichkeit für den Einzelnen. Der Staat könne uns nicht mehr erdrücken, weil wir seine Missbrauchstäter filmen und öffentlich machen könnten. Aber tatsächlich ist es heute so: Weil wir uns alle gegenseitig überwachen können, verhalten wir uns anders. Wir wissen aus unzähligen Studien: Wenn man weiß, dass man beobachtet wird, handelt man anders, als wenn man unbeobachtet ist.
Ein Aspekt bekommt meiner Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit: wie das unsere Erwartungen an Gerechtigkeit formt. Diese Plattformen belohnen nicht nur die Bloßstellung von Prominenten, sie belohnen auch moralisches Auftrumpfen. Sie verwandeln fast jede Diskussion in eine moralische. Doch nicht alles ist eine moralische Frage – so wie auch nicht alles Politik ist. Wenn moralisches Urteil aber das ist, was auf diesen Plattformen belohnt wird – auf denen die meisten Menschen ihre Gespräche führen und, leider, auch ihre Nachrichten konsumieren, oft indem sie nur den Link sehen, aber den Artikel nie lesen –, dann verstärkt das den menschlichen Drang, Gerechtigkeit zu exekutieren, Verhalten zu verurteilen und Menschen zu beschämen.
Ich empfinde großes Mitgefühl für die Familien der beiden betroffenen Ehepartner. Auch sie sind hineingezogen worden in diese globale Beschämungskampagne, in all das Spottfeuer. Die Strafe, die durch solches Shaming entsteht, ist um Größenordnungen härter, als es Menschen in gewachsenen Gemeinschaften normalerweise handhaben würden. Dass dieses Urteil heute an das Internet ausgelagert wird, ist fatal – nicht nur für die Politik, sondern auch für persönliche Beziehungen. Wie oft haben wir es gesehen: Jemand fängt in der Öffentlichkeit an zu streiten, und sofort zücken alle ihre Handys. Es ist wie eine Drohung: Jetzt filme ich dich, jetzt zeige ich deine schlimmste Seite. Das ist zur Waffe geworden in den Händen von Leuten, die Konflikte nicht mehr so austragen wollen, wie man es sollte. Es ist ein Ablenkungsmanöver und ein Instrument, um andere bloßzustellen. Und das ist verheerend. Das passiert seit Jahren – und wir haben bis heute keine tragfähigen Normen entwickelt. Der Fall, den du gerade beschrieben hast, zeigt das nur zu deutlich.
Mounk: Meine Produzentin hat mich zu Recht darauf hingewiesen: Das Paar hat gekuschelt, nicht geküsst. Aber ich bin sicher, irgendwann haben sie auch geküsst.
Rosen: Küssen war impliziert. Das war kein HR-abgenommenes Kuscheln – sagen wir es mal so.
Mounk: Vielleicht gab es einmal eine goldene Phase städtischer Anonymität, die nie zurückkehrt. Im Dorf war man nie anonym – Freunde, Nachbarn, Verwandte wussten immer, was man tat. Das war für viele einschränkend. Es führte außerdem zu einem ganzen Set konservativer sozialer Normen, die zum Teil aus dem damaligen Stand der Reproduktionstechnologie herrührten, zum Teil aber schlicht aus der sozialen Überwachung, die in den geografischen Strukturen verankert war, in denen die Menschen über Jahrhunderte lebten. Man war eben sehr leicht zu beobachten.
Dann kam eine kurze Phase, in der etwa die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten lebte – relativ anonyme Orte. Die Nachbarn konnten einen zwar sehen, gehörten aber nicht zum gleichen Freundes- oder Familiennetzwerk und kümmerten sich im Zweifel auch nicht so sehr darum, was man tat. Das gab den Menschen tatsächlich viel Freiheit. Eine Art, die heutige Online-Überwachung, das soziale Shaming und die allgegenwärtigen Handyvideos zu verstehen, ist, dass wir eine Art sporadische „Re-Villagization“ erleben. Normalerweise kann man in New York tun und lassen, was man will. Aber wenn man sich so verhält, dass es – aus welchem Grund auch immer – als besonders empörend empfunden wird, oder wenn es etwas Alltägliches ist wie Ehebruch, der leider ziemlich verbreitet ist, und es dennoch auf die denkbar perfekte Weise festgehalten wird – ein sechssekündiger Clip, der die Scham wie in einem Tableau einfängt –, dann unterliegt man plötzlich wieder den Normen des alten Dorflebens.
Das erinnert an die Binsenweisheit: Das Internet verwandelt uns in ein globales Dorf – und zwar in einigen sehr schlechten Aspekten. Interessant ist aber: Auch das Dorf hatte seine Stärken. Ein griechischer Freund von mir sagt immer: „Mein Land hat das Problem der Einsamkeit gelöst.“ In einem griechischen Dorf sei es unmöglich, einsam zu sein. Sobald man vor die Tür tritt, reden die Nachbarn mit dir, fragen, wie es dir geht.
Wenn ich Zeit in Italien verbringe: Vom Haus meiner Mutter bis zur Dorfbar sind es eigentlich nur 60 Sekunden. Aber oft dauert es eine halbe Stunde, weil man so vielen Nachbarn und Bekannten begegnet. Man denkt: Ich will doch nur einen Kaffee holen – und dann vergeht eine halbe Stunde mit freundlichen Gesprächen. Das ist einer der schönen Aspekte dort. Was du beschreibst, ist das Gegenteil: soziale Ächtung, moralischer Rigorismus. Teilweise sogar, wie man es manchmal in angeblich progressiven Milieus sieht, die Wiederkehr konservativer Normen. In den letzten Tagen hieß es von linker Seite fast unisono: „Diese bösen Ehebrecher!“ – ein Tonfall, der eher an strenge Lehrerinnen des 19. Jahrhunderts erinnert. Aber eben ohne die Vorteile des Dorfes: ohne das soziale Netz, ohne die tiefen Bindungen, ohne jemanden, der fragt: „Du siehst traurig aus – alles okay? Soll ich dir etwas zu essen bringen?“ Es ist sozusagen die schlechteste Version des Dorfes.
Rosen: Genau, weil in diesem „Dorf“ kein Vertrauen existiert. Wenn man an frühere Formen denkt – gerade in der Stadt –, war die Sorge vieler ja, dass die Menschen, die vom Dorf in die Großstadt zogen, dort anonym und schutzlos wären.
Jane Jacobs hat in New York gezeigt, dass es auch dort ein informelles Netzwerk gab: die „Augen auf der Straße“. Menschen beobachten sich gegenseitig – nicht feindselig, nicht unbedingt wohlwollend, sondern einfach, weil man sich den öffentlichen Raum teilt. „Wir sitzen alle im selben Boot, also schauen wir aufeinander.“ Ja, es gab auch neugierige Nervensägen, die mehr wussten, als einem lieb war. Aber es war eben auch ein Schutz. Wenn man Hilfe brauchte, konnte man mehrere Leute ansprechen – die Augen auf der Straße waren gemeinsam aufmerksam.
Das ist es, was mir Sorgen macht, vor allem bei den jüngeren Generationen. Heute gibt es keine „Augen auf der Straße“ mehr, sondern ständige Überwachung. Und weil die Plattformen so gebaut sind, fördert das sofortige Verurteilungen.
Für Kinder bedeutet das: Sie wachsen in einer Welt auf, in der sie kein sogenanntes „offenes Zukunftsfeld“ haben. In der Bioethik bezeichnet man damit die Vorstellung, dass die Zukunft nicht vorbestimmt sein darf. Deshalb warnen viele Ethiker vor genetischen Eingriffen: weil man den Kindern damit Freiheiten nimmt, die sie sonst hätten. Das ist irreversibel. Genau deshalb manipulieren wir Gene nicht – weil es den Kindern Freiheit raubt.
Mounk: Kleine Nebenbemerkung: Aber haben die Kinder nicht so oder so ein genetisches Set?
Rosen: Ja, natürlich. Sie sind immer eine Mischung ihrer Eltern. Aber der Punkt ist: Man manipuliert das nicht. Man wählt nicht im Labor: „Ich will ein Mädchen, ich will ein Kind mit diesen Genen.“ Manche sagen sogar: außer bei genetischen Krankheiten sollte man nicht einmal das Geschlecht auswählen. Denn in dem Moment, wo die Eltern das Embryo gezielt gestalten, schneiden sie ihm Freiheitswege ab.
Mounk: Verstanden. Es scheint mir so: Da gibt es einen Unterschied zwischen dem Auswählen innerhalb einer Bandbreite von Möglichkeiten – was in diesem Fall ja zutrifft – und einer ganz anderen Frage: ob Eltern die Wahlmöglichkeiten ihrer Kinder übermäßig festlegen dürfen.
Ein klassisches Beispiel ist die weibliche Genitalverstümmelung. Damit nimmt man Mädchen jede Möglichkeit, später unterschiedliche Formen sexueller Lust zu entdecken. Wir akzeptieren zwar, dass Eltern über kleine Kinder viel bestimmen, weil Kinder es nicht selbst können. Aber wir akzeptieren nicht, dass Eltern grundlegende Entscheidungen für das spätere Leben der Kinder verbauen. Irgendwann – mit 18 oder wann auch immer – sollen sie selbst wählen können.
Aber hier ist es ja so: Ob dein Gen-Set A oder B ist, liegt nie in deiner Hand. Du wirst so oder so mit einem festen Genpool geboren. Die Eltern schränken also keine freie Wahl ein, sondern legen eine von zwei Möglichkeiten fest – eine Wahl, die das Kind ohnehin nie gehabt hätte.
Rosen: Es geht eher um die Überdeterminierung. Nehmen wir das Beispiel Geschlechtswahl. Eltern, die zwei Söhne haben und unbedingt eine Tochter wollen – welche Erwartungen sind da eingebaut? Was, wenn das Mädchen dann ein Wildfang ist, kein Ballett mag, obwohl die Eltern sich eine Ballerina erträumt haben? Dann zwingen Erwartungen ein Kind in ein unglückliches Leben, in dem es sich nicht entfalten kann. Vielleicht ist es ein schiefes Bild, aber ähnlich ist es bei Kindern im Netz. Jeder macht Jugendsünden. Ich zum Beispiel war in der Marching Band in der High School – Gott sei Dank ohne Internet. Das hätte zwar meine Karriere nicht zerstört, aber es wäre peinlich gewesen. Heute verfolgen solche Peinlichkeiten Kinder ein Leben lang.
Die Fähigkeit, sich neu zu erfinden, gehört zu den Kernwerten der amerikanischen Geschichte. Als wir noch eine Frontier hatten, konnte man wegziehen, neu anfangen. Heute geht das kaum. Früher schämte man sich für Online-Dating, heute gilt das Gegenteil: Eine Freundin wurde über Bekannte verkuppelt und googelte den Mann. Weil er keine Online-Präsenz hatte, fand sie das verdächtig und war überzeugt: Serienkiller. Innerhalb weniger Jahre hat sich unsere Erwartung gedreht: Jeder muss eine digitale Identität haben, überprüfbar und auffindbar.
Für Kinder – und für uns Erwachsene auch – hat das enorme Folgen. Wir arrangieren uns damit, aber Kinder wachsen in einer Welt auf, in der jede Peinlichkeit mitläuft. Mit 12 ist ihr digitaler Fußabdruck riesig. Da rede ich noch nicht von den Daten, die große Konzerne handeln. Wie soll da ein gesundes Selbst entstehen? Was, wenn jemand mit 15 merkt: Ich bin gar kein Gothic mit Piercings, ich mag Philosophie. Es wird immer schwieriger, Fehler zu machen, sich auszuprobieren, das Selbst zu entwickeln. Da setzt Jonathan Haidts Arbeit an: Vielleicht rührt die Krise vieler Jugendlicher daher, dass sie diese Freiheit verloren haben – und es wissen. Sie wissen es jedes Mal, wenn sie ihr Handy in die Hand nehmen.
Mounk: Ich bin immer etwas skeptisch, wenn man soziale Normen rein materialistisch erklärt. Aber es ist schon auffallend, wie stark digitale Kommunikation die Normen verschoben hat – auf eine Weise, die mich vor 20 Jahren, vielleicht sogar noch vor fünf Jahren, überrascht hätte.
Einerseits gibt es eine Verschiebung hin zu deutlich konservativeren Normen, weil moralische Verfehlungen, die früher zwar real, aber begrenzt waren, nun in großem Maßstab geächtet werden können – und die soziale Strafe dadurch viel härter ausfällt. Das Beispiel des kuschelnden Coldplay-Paares zeigt genau das.
Andererseits verschwinden Normen, die es etwa gegen Sexarbeit gab, vollständig. Das interessanteste Beispiel ist OnlyFans: eine Plattform, auf der man einzelnen Content-Erstellern folgen kann, die Soft- oder Hardcore-Pornografie produzieren. Bemerkenswert ist nicht nur, dass es dort offenbar ein Bedürfnis nach sozialer Nähe gibt. In den Siebzigerjahren kaufte man wohl ein Magazin wie den Tatler, wenn man Pornografie konsumieren wollte – man musste das Haus verlassen, man musste bezahlen. Heute gibt es online unendlich viele kostenlose Angebote; ein 15-Jähriger könnte sein ganzes Leben lang – 80 Jahre, jede wache Stunde – Pornos schauen und würde nie ans Ende kommen. Trotzdem geben Menschen viel Geld aus, um einzelnen Personen zu folgen, parasoziale Beziehungen zu pflegen. Teil des Reizes ist, dass man als „Super-Abonnent“ vielleicht eine persönliche Nachricht bekommt und so das Gefühl hat, eine Art Pseudo-Verbindung zu der Person zu haben, deren Inhalte man konsumiert.
Das andere ist – auch wenn ich die Datenlage nicht überprüft habe, aber immer wieder tauchen sie in sozialen Medien und Zeitungsartikeln auf –, dass die Zahl der Menschen, die in diesem Geschäft tätig sind, enorm ist. Es heißt, rund fünf Prozent der jungen Frauen in den USA hätten ein OnlyFans-Konto. Das bedeutet, dass ein erheblicher Teil junger Menschen damit beschäftigt ist, seine Sexualität online zu vermarkten – einige verdienen damit enorme Summen. Aber wie in jeder Superstar-Ökonomie gilt: Die meisten machen damit sehr wenig oder gar kein Geld. Das ist eine faszinierende, aber auch höchst beunruhigende gesellschaftliche Transformation.
Rosen: Weniger alarmierend wirkt es, wenn man bedenkt, in welchem Wasser diese Generationen ihr ganzes Leben geschwommen sind – vor allem die unter 30. Sie sind es gewohnt, ständig zu performen, ständig gefiltert aufzutreten. Sie haben scheinbar viel Kontrolle über ihr Auftreten – und gleichzeitig schrumpft ihre Privatsphäre rapide. Wie viele unter 20 sind wirklich jemals allein – ohne Handy, ohne Entertainment? OnlyFans spiegelt Einsamkeit wider, aber auch eine Risikoscheu in Beziehungen, über die wir schon gesprochen haben. Man will Nähe, aber risikofrei: Man zahlt, es ist rein transaktional.
Viele Plattformen fördern diese Logik des Tauschgeschäfts. Aber so funktioniert das nur, wenn man schon Denkgewohnheiten entwickelt hat, die Beziehungen als Transaktionen begreifen. Bei den Jüngeren sehe ich das sehr stark: „Diese Person ist toxisch – weg damit.“ „Account löschen.“ „Ich ghoste ihn.“ Das alles zeigt, was du meintest: Normen funktionieren nicht mehr. Und ersetzt wurden sie durch die schlimmsten Exzesse menschlicher Natur.
Das hat Folgen. Wenn eine 25-Jährige mit einem skurrilen OnlyFans-Account 1000 Dollar extra verdient, sagen viele: „Respekt, mach dein Ding.“ Aber 20 Jahre später, mit Kindern, sitzt sie vielleicht beim Elternabend, und die Lehrerin sagt: „Ach, ich habe früher Ihre Inhalte gesehen.“ Vielleicht passt das überhaupt nicht mehr zu ihrem Selbstbild. Vielleicht war es eine Phase, ein halbes Jahr, weil man Geld brauchte. Aber das geht nie wieder weg. Es wird Teil der Identität – für immer. Wachstum ist so kaum möglich.
Ich sehe das bei vielen Jungen: Sie stecken in Momenten fest und können nicht darüber hinauswachsen, weil ihr Leben – auch das Arbeitsleben – online stattfindet. Diese Vermittlung nimmt ihnen den Rückzugsraum. Erving Goffman, der große Soziologe des 20. Jahrhunderts, hat das „Backstage“ genannt: den Bereich, in dem man einfach seltsam sein kann, ohne beurteilt zu werden. Für die meisten ist das das eigene Zuhause. Aber womit starten wir morgens als Erstes, was berühren wir abends als Letztes? Mit dem Handy. Damit ist selbst diese Privatsphäre überflutet. Und genau da könnten wir anfangen, bewusst zu sagen: Hier nicht.
Mounk: Ja, ein Aspekt daran ist die soziale Ächtung – die vielleicht erst später im Leben zurückschlägt, wenn alte Bilder oder Videos wieder auftauchen. Eine progressive Antwort darauf wäre: Wir müssen noch stärker gegen diese Ächtung kämpfen. Ich räume auch ein: Manche Menschen empfinden Sexarbeit tatsächlich als erfüllend, ohne psychische Schäden. Das gibt es, ohne Zweifel. Aber bei vielen anderen – und darüber gibt es zahllose persönliche Berichte – bleibt am Ende Bedauern. Sie fühlen sich von ihrer eigenen Sexualität entfremdet, erleben sich selbst nur noch als Objekt. Die Vorstellung, dass die Zahl der Menschen, die so etwas machen, heute hundert- bis tausendmal höher ist als vor 20 Jahren, ist ein wirklich bemerkenswerter – und beunruhigender – Befund unserer Gegenwart.
Rosen: Und das sagt noch gar nichts darüber, was passiert, wenn jemand tatsächlich eine Beziehung im echten Leben eingeht – mit einem Partner, einer Partnerin, einem Ehemann oder einer Ehefrau – und trotzdem an einer Online-Verbindung festhält, ob über OnlyFans oder Pornografie. Etwas, das man nicht aufgeben kann. Das schleicht sich zwangsläufig in die täglichen Interaktionen ein. Interessant ist: Sobald das in Skandale mündet, wird genau darüber gesprochen. Ich erinnere mich an die Anthony-Weiner-Affäre. Immer wieder hieß es in solchen Fällen: Die Frauen sagten, wir hatten eine Beziehung. Der Politiker antwortete: Ich habe sie nie berührt, wir haben uns nie getroffen. Aber es war eine Beziehung. Beide haben recht, oder?
Der Mann, der seine Frau betrügt, sagt: Wir hatten keinen physischen Kontakt. Aber die Verbindung war da. Diese Bedrohung – für den Aufbau früher Beziehungen – ist ein weiterer Aspekt der Frage, warum es Menschen heute so schwerfällt, Partner zu finden, Familien zu gründen.
Die Geburtenrate ist ein Thema. Ich erinnere meine Studenten immer wieder daran: Sie sinkt – überall. Nicht nur in den USA, nicht nur im Westen. Irgendetwas verändert sich also in unserem Verständnis von Bindung und Familie. Kinder zu bekommen ist immer ein Votum für die Zukunft. Und irgendwie, auf seltsame Weise, stimmen wir nicht mehr für die Zukunft – wir treffen andere Entscheidungen.
Mounk: Du hast vorhin etwas Interessantes gesagt: Dass der Sprung vom zufälligen 18- oder 19-Jährigen zum OnlyFans-Creator für meine Generation riesig wirkt. Was diesen Übergang leichter macht, ist, dass viele junge Leute ohnehin das Gefühl haben, ständig auf einer Bühne zu stehen. Sie kuratieren ihr Online-Ich längst so attraktiv wie möglich – teils sexuell, teils anders – auf Instagram und TikTok, während sie Teenager sind und erwachsen werden. Der zusätzliche Schritt, zu sagen: Warum nicht noch ein, zwei Kleidungsstücke ausziehen und Geld damit verdienen? – wirkt da vielleicht gar nicht so groß wie für jemanden, der nicht mit dieser Form öffentlicher Selbstdarstellung aufgewachsen ist.
Das erinnerte mich an ein anderes virales Video, nicht von einem Konzert, sondern aus dessen Umfeld. Vor etwa einem Jahr kursierte ein Clip eines Mädchens aus den 1990ern, die einer Band hinterherreiste und erklärte, warum. Viele fanden sie charmant. Interessant war: Sie war hübsch, aber nicht auffallend schön. Sie trug nichts besonders Freizügiges. Sie wirkte nicht wie jemand, der so charismatisch ist, dass er in einer Hollywood-Romcom die Hauptrolle spielen könnte. Was die Leute faszinierte, war: eine 18- oder 19-Jährige vor einer Kamera, ungekünstelt, eigensinnig, persönlich – nicht geprägt von den Einflüssen, die wir heute sehen. Auch ich fand das Video deshalb sehr gewinnend. Und die Reaktion in den sozialen Medien wirkte so heftig, weil es uns so fremd geworden ist.
Rosen: Genau das ist wichtig: Viele suchen in Beziehungen Authentizität – echte Nähe. Doch das, was wir in unseren medial vermittelten Beziehungen akzeptieren, ist oft nur Ersatz. Die Plattformen erzeugen das Trugbild von Authentizität. Politiker beherrschen das perfekt: „Hier koche ich zuhause, und übrigens: das ist das Gesetz, das ich im Kongress eingebracht habe.“ Alles einstudiert, wahrscheinlich fünf Takes für das richtige TikTok-Video. Wir misstrauen dem. Und wenn wir dann echte Spontaneität sehen, so wie früher, wenn das Lokalfernsehen jemandem das Mikro unter die Nase hielt, dann merken wir es. Ein Passant sagte dann: „Ich wohne um die Ecke, hätte nie gedacht, dass er so verrückt ist. Er war immer unauffällig.“ Genau die Leute sind interessant.
Aber online sind wir zu Recht misstrauisch. Denn viele haben gelernt, Fake-Authentizität zu monetarisieren. Auf Instagram gab es mal den Trend: keine Filter mehr, nur „so sehe ich morgens aus, mein echtes Chaoszimmer“. Aber auch das wurde sehr schnell hochgradig kuratiert.
Mein Problem – und du hast das mehrfach angesprochen – ist: Jede neue Generation muss ein gesundes Selbst entwickeln. Der Autor Nick Carr, der gerade ein Buch Super Bloom über Informationsflut veröffentlicht hat, sagte, er habe früher über Narzissten nachgedacht, die sich im Wasser spiegeln oder im Spiegel selbst. Das war auch die frühe Sorge bei Social Media. Heute, sagte er, sei es eher wie eine Diskokugel: zahllose Spiegelungen, ständig zersplittert, ständig in Bewegung. Eine fatale Grundlage, um ein stabiles Selbst zu entwickeln. Genau das erleben wir: Junge Menschen kämpfen damit. Und wir können sie nicht moralisch verurteilen. Sie sind so aufgewachsen – immer beobachtet, immer im Performance-Modus. Die Frage ist: Wie helfen wir ihnen, die nächste Stufe zu erreichen? Zu erkennen, was an diesen Tools nützlich ist – und was hochgradig schädlich.
Mounk: Was tun wir also? Und zwar auf gesellschaftlicher Ebene: Soll das mit politischer Regulierung korrigiert werden? Und was tun wir auf persönlicher Ebene? Reicht es, öfter mal Freunde ohne Handy zu treffen? Was sind konkrete Wege, wieder unvermittelte Erfahrungen zu machen – mit der Realität, mit unseren sozialen Situationen, mit Momenten geselliger Nähe?
Rosen: Meine Redakteure verzweifeln regelmäßig an mir, weil ich als Historikerin gern sage: Lösungen sind nicht mein Job. Aber ein paar Gedanken habe ich doch. Wir müssen aktiv das Menschliche verteidigen. Damit meine ich: bewusst überlegen, in welchen Bereichen wir keine technische Vermittlung wollen – sei es im Klassenzimmer zwischen Lehrer und Schüler oder im Altenheim, wo wir keine Roboter als Begleiter wollen, sondern Kinder und Enkel ermutigen, ihre Verwandten zu besuchen. Wir müssen diese Entscheidungen jetzt bewusst treffen. Denn der bequeme Weg ist immer da. Aber der menschliche Weg lohnt sich – auch wenn er mehr Mühe kostet.
Besonders wichtig finde ich Künstler und Kreative. Viele sagen heute schon, gerade im Kontext von KI: Nein, Handgemachtes zählt. Und sie begründen das. Das ist ein Argument, das wir offensiv vertreten müssen.
Wir müssen Kindern ihre Kindheit zurückgeben. Ich bin eine große Befürworterin klarer Altersgrenzen für soziale Medien – durchsetzbar, nicht nur symbolisch. Ob 14 oder 16 – das mag regional unterschiedlich sein, aber es muss Grenzen geben. Das Netz war nie für Kinder gedacht, sondern für Erwachsene. So wie wir keine 12-Jährigen ans Steuer lassen, können wir auch hier Regeln aufstellen.
Erwachsene müssen ebenfalls besser vorleben. Ich sprach mit einem Schulleiter, der sagte: Das größte Problem seiner Schüler – die inzwischen von Glocke zu Glocke ohne Handys auskommen müssen, was ich für eine hervorragende Regel halte – sei, dass ihre Eltern ständig am Telefon hängen. Schulen sollten Smartphones während der Unterrichtszeit verbannen. Aber es reicht nicht, Kinder zu maßregeln. Wir müssen anerkennen: Wir leben es ihnen selbst vor.
Und schließlich: Probieren Sie 24 oder 48 Stunden lang zwei Dinge. Erstens: Schauen Sie Menschen in die Augen. Wenn Sie im öffentlichen Raum sind, greifen Sie nicht zum Handy. An der Ampel, an der Bushaltestelle – kein Handy. Nehmen Sie ein Buch. Oder lassen Sie Ihre Gedanken treiben. Dieses „Dazwischen“ haben wir früher mit Tagträumen gefüllt. Vielleicht langweilen Sie sich. Vielleicht nervt es. Aber vielleicht haben Sie plötzlich Ideen, sehen Dinge, die Ihnen sonst entgehen. Klingt banal, fast esoterisch – aber es funktioniert. Ich übe das selbst, weil ich viel zu oft reflexhaft zum Handy greife.
Das Wichtigste bleibt: direkter Kontakt. So oft wie möglich anderen Menschen direkt begegnen. Wir alle brauchen dieses kleine Anerkennen. Wenn Sie einkaufen gehen – nicht liefern lassen – schauen Sie der Kassiererin in die Augen. Nehmen Sie die Menschen um sich herum wahr. Diese kleinen Gesten machen die Welt für alle ein Stück erträglicher.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.