Daniel Williams ist Assistenzprofessor für Philosophie an der University of Sussex. Er schreibt den Newsletter Conspicuous Cognition, der philosophische Einsichten und wissenschaftliche Forschung zusammenführt, um die Kräfte zu untersuchen, die unsere heutige Gesellschaft und Politik prägen.
Diese Woche sprechen Yascha Mounk und Dan Williams darüber, ob der Begriff „Desinformation“ zu weit gefasst ist, wie man beurteilen kann, ob etwas Fake News ist, und was mit dem „everyone is biased“-Bias gemeint ist.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Vielleicht war der erste Artikel von dir, der mir aufgefallen ist, einer über Desinformation. Ich finde es bemerkenswert, wie sehr das Thema Desinformation inzwischen im Mainstream angekommen ist. Ich war kürzlich auf dem World Expression Forum in Norwegen, das vorgibt, sich für Meinungsfreiheit einzusetzen – aber soweit ich das beurteilen konnte, drehte sich jede zweite Rede nur darum, dass man der Demokratie und Freiheit am besten diene, wenn man alles zensiert, was irgendjemand als Desinformation empfinden könnte. Die Idee, dass wir nicht nur besorgt über Desinformation sein sollten, sondern auch sehr proaktive politische Maßnahmen ergreifen müssen, um politische Desinformation einzudämmen – Maßnahmen, die ich Zensur nennen würde – ist extrem mehrheitsfähig geworden. Was ist aus deiner Sicht das Problem mit dem Diskurs über Desinformation? Was wird dabei häufig falsch verstanden?
Dan Williams: Ich finde es ehrlich gesagt schwer zu wissen, wo man anfangen soll. Es gibt so viele Probleme mit der Art und Weise, wie dieses Thema Desinformation dargestellt wird. Vielleicht lohnt es sich, etwas zur Geschichte hinter dem Aufkommen dieser Erzählung über Desinformation zu sagen, denn vieles davon geht zurück – und das ist gut dokumentiert – auf das Jahr 2016, als es zwei überraschende populistische Aufstände gab. Brexit hier im Vereinigten Königreich und dann die erste Wahl von Donald Trump. Diese Ereignisse haben viele Menschen überrascht und beunruhigt – mich eingeschlossen. Die Leute wollten verstehen, was da los war mit diesem populistischen Backlash gegen das, was als Establishment oder Eliten wahrgenommen wurde.
Eine der Erzählungen, die sich damals ziemlich schnell durchsetzte, war, dass das Ganze irgendwie mit Desinformation zu tun hatte. Die Idee war: Falsche oder irreführende Kommunikation – verbreitet von populistischen Politikern, Meinungsmachern, aber auch über soziale Netzwerke – habe viele Menschen dazu gebracht, Falsches zu glauben, an Verschwörungstheorien zu glauben, Demagogen zu unterstützen, und das habe in irgendeiner Weise hinter diesem populistischen Backlash gesteckt. Das Erste, was man dazu sagen sollte – und das ist eine dieser nervigen Philosophensachen, aber es ist wichtig –, ist: Was genau meinen wir überhaupt mit dem Begriff „Desinformation“? Der ist heute allgegenwärtig im politischen Diskurs und das schon seit zehn Jahren. Es gibt ganze Forschungszentren und sozialwissenschaftliche Studien, die sich mit Desinformation beschäftigen. Es wird regelmäßig als eines der größten globalen Risiken aufgeführt. Aber worauf genau soll sich dieser Begriff eigentlich beziehen?
Mounk: Und das Problem ist ja, dass der Begriff für unglaublich viele verschiedene Dinge verwendet wird. Ich sage manchmal – vielleicht ein bisschen provokativ –, dass man zwei Hauptkategorien unterscheiden kann. Die erste ist das, was man früher einfach eine Lüge genannt hätte. Jemand sagt etwas, das eindeutig falsch ist. Wir können nachweisen, dass es falsch ist. Wir sollten es einfach eine Lüge nennen – oder, wenn man vermutet, dass der Politiker selbst nicht weiß, dass es falsch ist, dann eben eine Unwahrheit. Das ist klar und eindeutig. Und dann gibt es diese zweite Kategorie, wo Leute einfach Argumente machen, die uns nicht gefallen – sie haben eine Erzählung, von der wir denken, dass sie gewisse Dinge übertreibt. Aber das wird dann sehr schnell zu einem Mittel, um zu sagen: Ich mag deinen Punkt nicht, ich bin nicht einverstanden. Und so landet eine riesige Bandbreite von Dingen unter dem Begriff „Desinformation“.
Manchmal frage ich mich, ob man den Begriff nicht einfach ganz streichen sollte – und entweder sagt: Das ist eine Lüge, und wir können das beweisen. Oder: Ich stimme dir in dieser Sache nicht zu. Ich weiß nicht, ob das wirklich so wichtig ist, wie du behauptest. Ich glaube, du vereinfachst die Welt ein bisschen zu sehr. Ein Teil der Nützlichkeit des Begriffs „Desinformation“ scheint genau darin zu liegen, dass er so ein bisschen wie „Lüge“ klingt, aber trotzdem auch für Dinge verwendet werden kann, wo es eigentlich nur um eine Meinungsverschiedenheit geht.
Williams: Da stimme ich dir zu. Und ich glaube, du hast recht: Der Begriff fasst ganz viele Dinge zusammen, für die wir eigentlich schon ein Vokabular haben – Lüge, Bullshit, Irreführung, Unwahrheit und so weiter. Ich beschreibe das in meinen Texten so: Im Diskurs über Desinformation steht man sehr schnell vor einem Dilemma. Man kann den Begriff sehr eng definieren, also als ganz klar falsche Aussagen und Erfindungen. Und tatsächlich konzentrierte sich die Debatte über Desinformation um 2016/2017 stark auf einen ganz bestimmten Punkt: Fake News im wörtlichen Sinne – fragwürdige Webseiten, die sich einfach erfundene Nachrichten ausdenken, wie zum Beispiel „Eilmeldung: Der Papst unterstützt Donald Trump“. Das ist Fake News im buchstäblichen Sinn. Wenn man Desinformation so eng definiert, dann gibt es das auf jeden Fall, und ich denke, es kann in gewissem Maße schädlich sein.
Aber die Sozialwissenschaften legen inzwischen ziemlich eindeutig nahe, dass dieses Phänomen nicht annähernd so weit verbreitet ist, wie viele denken. Und es ist auch nicht so einflussreich, denn diese wirklich extremen Inhalte, die dann von Faktencheckern widerlegt werden, erreichen in der Regel sowieso nur die Leute, die ohnehin schon eine stark verschwörungstheoretische oder anti-institutionelle Haltung haben. Sie misstrauen den Institutionen sowieso und suchen gezielt nach Inhalten, die ihre Sicht bestätigen. Wenn man es also sehr eng definiert, dann existiert das, aber es ist bei weitem nicht so weit verbreitet oder einflussreich, wie viele glauben.
Mounk: Lass mich da ganz kurz noch nachhaken. Das erscheint mir psychologisch auch ziemlich plausibel – nämlich die Frage: Wer konsumiert solche Inhalte überhaupt? Wenn es um komplett absurde Geschichten geht wie „Brigitte Macron war früher ein Mann“ oder „ein kleines Kind wurde im Keller von Hillary Clintons Haus gefunden“, dann fällt es schwer, sich einen halbwegs vernünftigen Wähler vorzustellen, der noch unentschieden ist, wen er wählen soll, und dann so eine Geschichte hört und denkt: „Jetzt, wo ich diese schockierende Wahrheit kenne, wähle ich sicher nicht Hillary Clinton.“ Was viel, viel plausibler ist: Es gibt ein paar politische Verrückte, die einen brennenden Hass auf bestimmte Figuren haben, und die stoßen dann auf so eine Geschichte – und teilen sie entweder aus Trollerei oder weil sie sie tatsächlich glauben. Aber das ist niemand, der sich vorher offen mit verschiedenen Meinungen beschäftigt hat, der vielleicht mal eine positive Meinung zu dieser Politikerin hatte und jetzt plötzlich denkt: „Sie ist das Böse in Person.“ Das sind Leute, die ohnehin schon eine sehr verzerrte politische Wahrnehmung hatten, die voller Wut und Hass gegen ein bestimmtes politisches Lager sind. Und genau deshalb teilen sie solche Geschichten – ernst gemeint oder als Provokation.
Williams: Genau. Das ist kein Querschnitt der Bevölkerung, der sich mit solchen Inhalten auseinandersetzt. Und in vielen Fällen, wie du sagst, ist noch nicht einmal klar, ob sie das überhaupt wirklich glauben. Manchmal ist es für sie sogar strategisch nützlich, wenn Faktenchecker kommen und sagen, das sei falsch – weil sie diesen Institutionen sowieso feindlich gegenüberstehen, macht das für sie keinen Unterschied. Das heißt nicht, dass solche Inhalte nie schädlich sind. Es ist wahrscheinlich keine gute Sache, wenn Menschen mit extrem verschwörerischem Weltbild und großem Hass auf Institutionen Unmengen an wirrem, qualitativ minderwertigem Inhalt konsumieren. Das ist sicher nicht ideal. Aber zu sagen, dass so etwas hinter Trumps Wahlsieg oder Brexit steckt – das ist einfach keine glaubwürdige Theorie über öffentliche Meinungsbildung.
Was man jetzt stark sieht in der Desinformationsforschung, ist ein Drang, den Begriff weiter zu fassen. Also, wie du sagst: Leute, die sich irren. Oder Meinungen haben, die verzerrt sind. Oder Aussagen treffen, die technisch zwar stimmen, aber in ihrer Auswahl oder Darstellung irreführend sind – weil sie etwa cherry-picken oder bewusst aus dem Kontext reißen.
Williams: Das klassische Beispiel dafür wäre etwa eine korrekte Berichterstattung über impfbedingte Todesfälle. Der Bericht kann vollkommen korrekt sein, aber dennoch den irreführenden Eindruck vermitteln, dass Impfstoffe viel gefährlicher seien, als sie es tatsächlich sind. Und die Idee dahinter ist dann: Warum nicht den Begriff „Desinformation“ so weit dehnen, dass er all diese verschiedenen Arten irreführender Kommunikation umfasst? Ich würde sagen, es ist fast schon trivial wahr, dass Desinformation – so definiert – weder selten noch bloß Predigt an die eigene Blase ist. Ich denke, sie ist ziemlich weit verbreitet und auch durchaus einflussreich. Aber natürlich ist, wie du sagst, das Ganze erstens unglaublich subjektiv – festzustellen, ob ein wahrer Bericht relevante Kontexte auslässt, ob ein Argument voreingenommen ist oder nicht. Und zweitens findet genau diese Art von Inhalten im weiteren Sinne sich massenhaft in jenen Institutionen, die mit großer moralischer Selbstsicherheit über Desinformation predigen und behaupten, sie könnten sie leicht und objektiv identifizieren. Das Dilemma ist also: Entweder man definiert Desinformation sehr eng – dann existiert sie, aber ist weder besonders weit verbreitet noch besonders einflussreich. Oder man definiert sie sehr weit – dann ist sie plausibel weit verbreitet und auch einflussreich, aber damit wird sie subjektiv, und es ist nicht mehr so klar, warum etwa Faktenchecker oder die New York Times in einer objektiv überlegenen Position wären, das zu beurteilen.
Mounk: Wir haben jetzt ein bisschen über die enge Definition gesprochen – die ist in sich schlüssig, aber trägt letztlich nicht die Bedeutung, die viele in das Konzept von Desinformation in der Politik hineinlegen. Lass uns also mehr über diese breitere Auffassung sprechen. Ein Problem damit ist ja, dass „Desinformation“ dann fast zu einem Synonym für parteiisch oder ideologisch eingefärbt wird. Wenn man sagt, ein Thema sei riesig wichtig, weil man moralisch davon bewegt ist – weil es um eine große Ungerechtigkeit in der Welt geht –, dann könnten andere sagen: Das ist Desinformation, weil es eigentlich ganz andere, viel größere Probleme gibt. Ein sensibles und vielleicht etwas provokantes Beispiel wäre etwa die Tötung unbewaffneter Menschen durch die Polizei in den USA – insbesondere unbewaffneter Schwarzer. Ich finde, das ist eine sehr ernste und schockierende Ungerechtigkeit, wenn so etwas passiert. Aber man könnte sagen: Das ist ein einseitiger Fokus – was ist mit all den anderen Todesursachen? Gemessen an der Gesamtzahl von Todesfällen in den USA, oder auch nur an den gewaltsamen, ist das ein sehr kleiner Anteil. Ist es also Desinformation, sich darauf zu konzentrieren und anderes auszublenden?
Unser Instinkt sagt ganz klar: Das als Desinformation zu bezeichnen, wäre falsch. Es kann sehr gute Gründe geben, sich aus moralischen Überzeugungen auf etwas zu fokussieren, auch wenn die Zahlen im Verhältnis klein sind. Aber wenn man Desinformation so breit definiert, könnte man genau solche moralisch motivierten Anliegen sehr schnell abtun. In diesem konkreten Fall ist das vielleicht weniger passiert, aber in anderen Fällen geschieht genau das – die Beschuldigung der Desinformation wird einfach zur Behauptung: Du übertreibst das Thema. Man kann das mit einem anderen Thema vergleichen, das strukturell ähnlich gelagert ist: Kriminalität durch Migranten.
Migranten begehen Verbrechen, auch sehr gewalttätige. Im Durchschnitt – zumindest in den USA – scheint es aber so zu sein, dass Migranten nicht häufiger kriminell sind als andere. Aber wenn man sagt: Es ist ein Unrecht, dass manche Menschen im Land sind, obwohl sie kein Aufenthaltsrecht haben – und dann zeigt man auf bestimmte Verbrechen, die von Menschen begangen wurden, die gar nicht im Land hätten sein sollen – dann sagen viele Linke: Das ist Desinformation. Weil, wie gesagt, Migranten insgesamt nicht krimineller sind. Und das ist auch richtig. Es hilft, diese Einzelfälle einzuordnen, und es hilft, Realität besser zu verstehen. Aber zu sagen, das sei deswegen Desinformation, ist nicht besonders hilfreich und bringt uns kein Stück weiter, wenn wir verstehen wollen, wie öffentlicher Diskurs eigentlich funktioniert.
Williams: Genau. Es bringt keine Klarheit. Wie diese Beispiele zeigen, hängt die Einschätzung, was man als Desinformation sieht, von einer ganzen Reihe komplexer Faktoren ab – von Werten, Vorerfahrungen, der eigenen Ideologie. Die Vorstellung, dass das einfach eine technische Bewertung sei, die man an professionelle Faktenchecker oder Desinformationsexperten delegieren kann, ist, wie ich finde, ziemlich absurd.
Ein weiteres Beispiel wäre Fake News. Ich würde sagen, Fake News machen keinen signifikanten Teil unserer Informationslandschaft aus – und trotzdem, wie viele Berichte in den Mainstream-Medien gab es darüber? Ich würde sagen: sehr viele – und sehr viele davon waren irreführend. Sollten wir das jetzt als Desinformation einstufen? Es gibt unzählige solcher Fälle, bei denen es offensichtlich hoch umstritten ist und stark vom Kontext abhängt. Wenn man in diesen Bereich vorstößt, wo man solche weiten Definitionen von Desinformation anwendet, dann wirkt das auf viele Leute – zu Recht – einfach als völlig subjektiv und voreingenommen.
Mounk: Was ist mit dem Konzept der „Eliten-Desinformation“? Ich finde das einen sehr treffenden Begriff – ich glaube, Matt Yglesias hat ihn zuerst geprägt oder zumindest einen der ersten großen Texte darüber geschrieben. Wie verbreitet ist dieses Phänomen? Natürlich bist du grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Begriff „Desinformation“, aber wenn wir diese breitere Definition zugrunde legen, die zwar nicht besonders kohärent, aber politisch weit verbreitet ist – würdest du sagen, dass politische oder gesellschaftliche Eliten besser darin sind, dieser Art von Desinformation zu entgehen? Oder ist dieses Problem, das Yglesias da beschreibt, ein sehr ernstes?
Williams: Nur kurz zur Begrifflichkeit: Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn normale Bürger in einer Demokratie oder auch Journalisten und Kommentatoren den Begriff „Desinformation“ in einem weiten Sinn verwenden, wie Yglesias das in seinem Text tut. Mein Problem entsteht dann, wenn sogenannte Desinformationsexperten oder politische Entscheidungsträger diesen Begriff verwenden, um objektive wissenschaftliche Erkenntnisse zu etablieren – oder um bestimmte Anti-Desinformations-Maßnahmen durchzusetzen. Dann ist es extrem wichtig, dass man eine enge, klare Definition hat. Aber zur Frage der Eliten-Desinformation: Es ist doch offensichtlich wahr, dass es innerhalb unserer etablierten Wissensinstitutionen – ob Wissenschaft, Hochschulen oder große Medienhäuser – eine ganze Menge falscher und irreführender Kommunikation gibt. Wenn man etwa über das Thema Klimawandel spricht, dann konzentriert sich fast jede Diskussion über Klimadesinformation im weitesten Sinne auf das, was man Klimaleugnung nennen würde. Also auf Stimmen, meist von rechts, die entweder die Existenz des menschengemachten Klimawandels oder dessen Gefahren infrage stellen. Ich bin völlig einverstanden, dass es dieses Phänomen gibt. Und ich denke, es ist gefährlich. Und ich finde es wichtig, darüber nachzudenken, warum es existiert und wie man damit umgehen sollte.
Aber es gibt eben auch das, was man progressive Eliten-Desinformation nennen könnte. Der Philosoph Joseph Heath hat kürzlich einen großartigen Artikel auf seinem Substack veröffentlicht, in dem er über das spricht, was er „Highbrow Climate Misinformation“ nennt. Er beschreibt darin, wie es auf progressiver Seite viele alarmistische Narrative über den Klimawandel gibt, die einfach nicht gut durch empirische Belege gestützt sind – oder bei denen die Art der Kommunikation nicht evidenzbasiert ist. Und dennoch wird das so gut wie nie als Desinformation bezeichnet.
Mounk: Ich erinnere mich an einen Fall vor einigen Jahren, da gab es eine Studie, laut der ein erheblicher Teil des Stadtgebiets von New York bis 2100 unbewohnbar werden könnte. Wenn man sich die Studie genau ansieht – und ich glaube wirklich, dass Klimawandel ein ernstes Problem ist –, dann war das zwar eine reale Gefahr. Aber ein Teil der betroffenen Gebiete war ohnehin heute schon unbewohnt, weil sie so nah am Wasser liegen. Andere Gebiete waren zwar bewohnt, aber nur sehr dünn besiedelt. Ich will das Problem gar nicht kleinreden – es ist eine reale Herausforderung. Aber als das Ganze dann auf dem Titelbild des New York Magazine landete, zeigte die Illustration das Empire State Building unter Wasser. Und so etwas stand in der Studie nun wirklich nicht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie im Lauf der medialen Weitergabe eine seriöse Forschungsarbeit – an der ich keinen Zweifel habe – so vermittelt wird, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung etwas deutlich Falsches suggeriert.
Williams: Ganz genau. Es gibt viele solcher Beispiele. Ich würde sogar sagen: Allein die Vorstellung, dass der Klimawandel mit hoher Wahrscheinlichkeit eine existenzielle Bedrohung darstellt – diese Ansicht hört man ständig von progressiven Politikern. Nach meinem Verständnis wird diese Sicht von der empirischen Forschung so aber nicht wirklich gestützt. Es könnte sein, dass es sogenannte Tail-Risiken gibt – also Ereignisse mit geringer Wahrscheinlichkeit, die katastrophal wären –, aber die Standardprognosen besagen nicht, dass der Klimawandel eine ernsthafte Bedrohung für das fortbestehende Überleben der Menschheit darstellt. Und solche Beispiele gibt es in vielen Bereichen – ob beim Klimawandel, bei Wirtschaftsthemen, bei Fragen rund um geschlechtsbezogene Medizin für Jugendliche, bei Berichterstattung über Rasse oder Migration. Immer wenn Dinge mit „heiligen Werten“ übereinstimmen oder Tabus in hochgebildeten, liberalen, progressiven Milieus berühren, gibt es sehr viel falsche, irreführende oder verzerrte Kommunikation – und zwar innerhalb genau dieser Institutionen.
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Ich glaube, diese Art verzerrter Kommunikation ist gerade für Menschen besonders durchschaubar, die sehr feindlich gegenüber diesen Institutionen eingestellt sind – auf eine Weise, wie sie für die Menschen innerhalb dieser Institutionen oft gar nicht sichtbar ist. Und ich glaube, das lässt diese Institutionen extrem heuchlerisch erscheinen. Wenn sie sagen: „Wir bekämpfen Desinformation“, dann bedeutet das oft einfach nur: „Wir sind extrem selektiv darin, auf welche Beispiele von Desinformation wir uns konzentrieren.“ Das führt meiner Meinung nach nur dazu, dass das Misstrauen gegenüber Institutionen – vor allem auf der politischen Rechten – noch größer wird. Und das sind genau die Gruppen, die man eigentlich erreichen müsste, wenn einem wirklich etwas daran liegt, Desinformation in diesem Teil des politischen Spektrums zu bekämpfen.
All das gesagt, ist mir aber auch wichtig, einen Punkt in den Kontext zu setzen: Auch wenn es diese Probleme in den elitären Wissensinstitutionen gibt, erscheinen mir diese Probleme – zumindest nach meiner Einschätzung – vergleichsweise harmlos im Vergleich zu dem, was man im Informationsumfeld der populistischen Rechten sieht, besonders in den USA. Wenn man es mit Leuten wie Elon Musk, Tucker Carlson, Candace Owens und ähnlichen zu tun hat, dann ist das Ausmaß, die Dreistigkeit, der geradezu groteske Charakter der Unwahrheiten, Lügen und Verschwörungstheorien auf einem ganz anderen Niveau. Man muss also in der Lage sein, anzuerkennen, dass es ernsthafte Probleme innerhalb dieser Institutionen gibt – und zugleich den größeren Kontext sehen: Diese Probleme sind nicht annähernd so gravierend wie das, was man auf der populistischen Rechten beobachten kann, vor allem in den Vereinigten Staaten.
Mounk: Da stimme ich dir vollkommen zu. Es gibt ja dieses Meme „Ich bin für die aktuelle Sache“ – da werden dann zwanzig verschiedene Anliegen aneinandergereiht, manche nennen es auch omnicause –, und wenn man auf der richtigen Seite der Geschichte stehen will, muss man an alle diese Sachen gleichzeitig glauben, und zwar unkritisch. Und viele dieser Anliegen sind entweder ziemlich dumm, oder sie sind eigentlich ehrenwert, aber die Maßnahmen, die angeblich daraus folgen sollen, sind kontraproduktiv oder moralisch fragwürdig. Und dann gibt es das Gegenstück, ein anderes Meme: „Ich bin gegen die aktuelle Sache“. Das beschreibt Leute, die irgendwann gemerkt haben, dass diese unreflektierte Zustimmung zu allem oft fehlgeleitet ist – und dann ins Gegenteil umschlagen: Wenn die New York Times, der Guardian oder NPR wollen, dass ich X glaube, dann glaube ich einfach X. Und ich glaube, es ist extrem problematisch, seine Ansichten so auszulagern. Man könnte das 180ism nennen: Die eigenen Überzeugungen entstehen einfach aus Misstrauen gegenüber bestimmten Quellen, also glaubt man das Gegenteil. Das führt einen leider in mindestens ebenso große erkenntnistheoretische Dunkelheit – wahrscheinlich sogar in noch größere. Und ich glaube, das gilt auch für unseren Umgang mit diesen wissensproduzierenden Institutionen.
Bei manchen Themen bin ich nach gründlicher Abwägung zu der Überzeugung gelangt, dass diese Institutionen falschliegen. Ich habe – anders als 2016 – heute ein besseres Verständnis dafür, dass viele Menschen genug von Experten haben, oder vielmehr von der Forderung, Experten blind zu folgen. Aber die Lösung kann sicher nicht darin bestehen zu sagen: Also haben alle Experten Unrecht, der Konsens ist falsch, und die Wahrheit findet man jetzt, indem man A) einfach irgendeiner Online-Figur zuhört, die eine spannende Geschichte erzählt, und B) annimmt, dass das Gegenteil dessen wahr ist, was die Institutionen sagen. Damit gerät man in noch größere erkenntnistheoretische Schwierigkeiten. Was folgt daraus? Eine der Schlussfolgerungen ist vermutlich: Wir sollten sehr skeptisch gegenüber politischen Institutionen sein, die sich das Recht herausnehmen wollen, darüber zu bestimmen, welche Informationen wir teilen und konsumieren dürfen.
Aber wie sollten wir über diese Themen nachdenken? Wie sollten wir mit der allgemeinen Problematik von Falschinformationen in der Politik umgehen – mit Menschen, die offensichtlich unwahre Narrative verbreiten, um sich politischen oder manchmal auch finanziellen Vorteil zu verschaffen –, ohne wieder in diesen viel zu lockeren Gebrauch von Begriffen wie Desinformation zurückzufallen?
Williams: Ich finde, das ist eine sehr schwierige und komplexe Frage. Wie du sagst: In einer modernen, komplexen Gesellschaft gibt es schlicht keine Alternative zur Expertise, und es führt kein Weg daran vorbei, dass wir Experten brauchen – und zwar Wissen, das nur innerhalb komplexer Institutionen wie der modernen Wissenschaft oder moderner Universitäten entstehen kann. Wenn man über Wissensproduktion im weiteren Sinne nachdenkt, braucht man auch etablierte, verlässliche Medien. Die Frage ist also: Wie soll man über dieses große Informationsumfeld nachdenken, wenn man dabei berücksichtigt, dass es keine echte Alternative dazu gibt? Die Idee, man könne einfach auf eigene Faust forschen und sich Wissen unabhängig von all diesen Institutionen aneignen, ist meiner Meinung nach naiv – und nicht besonders zielführend. Die übergeordnete Lehre ist, glaube ich: Wir müssen diese Institutionen verbessern, so gut wir können. Und ein Teil davon ist eine Frage der Normen. Im Moment habe ich den Eindruck, dass man eher dafür bestraft wird, wenn man elitäre Desinformation benennt, als wenn man sie selbst verbreitet. Solche Normen sind völlig dysfunktional. Denn wenn man das – so wie in unserem Gespräch – sachlich anspricht, wird einem oft unterstellt, man stehe auf der anderen Seite oder greife die Institution selbst an.
Mounk: Das sehe ich ganz genauso. Und das ist eine meiner Frustrationen mit dem Journalismus: Man kann ständig im Unrecht sein – aber solange man immer im Einklang mit der jeweiligen Mehrheitsmeinung liegt, hat das keinerlei berufliche Konsequenzen. Man kann 20 Jahre lang den größten Unsinn verbreiten – solange man im Chor mitsingt, passiert nichts. Das ist vielleicht nicht überraschend, weil man dann schwer auffällt – man ist einfach Teil eines Meinungsblocks. Was ich aber wirklich erstaunlich finde – und noch frustrierender, noch bedenklicher – ist, dass man, wenn man einmal vom Konsens abweicht, nicht wieder „rehabilitiert“ wird. Selbst wenn sich im Nachhinein zeigt, dass man recht hatte, selbst wenn sich die Mehrheitsmeinung später genau in die Richtung bewegt, die man schon damals vertreten hat – man bleibt trotzdem der Typ, der damals querlag. Man wird weiterhin als verdächtig, als verschwörungstheoretisch oder politisch dubios abgestempelt. Und das, finde ich, ist das eigentlich Beunruhigende. Denn das schreckt genau die Art von kritischem Denken ab, die diese Institutionen eigentlich brauchen. Warum glauben wir überhaupt an die Wissenschaft? Weil es dort den offenen Diskurs geben soll, weil es Mechanismen geben soll, die Widerspruch fördern. Wenn unsere gesellschaftlichen Dynamiken aber so gestrickt sind, dass genau diese Mechanismen nicht mehr funktionieren, dann untergräbt das letztlich den Grund, warum wir solchen Institutionen überhaupt vertrauen sollten.
Williams: Genau. Ich könnte dir nicht mehr zustimmen. Wenn man in einer Kultur lebt, in der abweichende Meinungen vom Gruppendenken dem eigenen Ruf schaden können, ist das auf so vielen Ebenen gleichzeitig dysfunktional. Es beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit dieser Institutionen in unterschiedlichster Weise. Es untergräbt ihre Fähigkeit, ihre eigentliche Funktion zu erfüllen. Und es führt oft auch dazu, dass Menschen sich radikal gegen diese Institutionen stellen – und wie du sagst, dieses 180-Ding machen, bei dem sie eine komplette anti-institutionelle Weltsicht entwickeln, die am Ende viel problematischer ist als das, was sie ursprünglich abgelehnt haben.
Und damit verbunden ist auch, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Institutionen erodiert. Wenn Leute sich online seltsame Verschwörungstheorien anschauen, wenn sie sich mit Anti-Vax-Inhalten beschäftigen – da gibt es viele Ursachen. Aber die übergeordnete Erklärung ist, dass sie den Institutionen nicht vertrauen. Sie vertrauen der Wissenschaft nicht. Sie vertrauen medizinischen Autoritäten nicht. Sie vertrauen dem öffentlichen Gesundheitswesen nicht. Sie vertrauen den Mainstream-Medien nicht, und so weiter. Das Wichtigste ist also, dieses Vertrauen wiederherzustellen – oder überhaupt erst zu schaffen. Wenn diese Institutionen als politisiert wahrgenommen werden, wenn sie – manchmal zu Recht – als anfällig für Gruppendenken gesehen werden, ist das verheerend für die Vertrauensfrage. Und ein Symptom dieses Misstrauens in weiten Teilen der Bevölkerung ist, dass Menschen anfangen, gezielt nach Gegen-Narrativen zu suchen. Sie suchen nach Stimmen, die in keiner Weise an den wissenschaftlichen Konsens oder an etablierte Expertise gebunden sind. Und genau dort entsteht dann der Markt für Leute wie Tucker Carlson oder Candace Owens. Dort entsteht eine Situation, in der jemand wie Elon Musk einfach Lüge auf Lüge posten kann, ohne dafür belangt zu werden – weil in diesem Umfeld so viele Menschen jegliches Vertrauen in die klassischen Institutionen verloren haben.
Mounk: Ich finde, das führt ganz gut zu einem anderen spannenden Text von dir, den wir in Persuasion veröffentlicht haben – unter dem Titel The “Everyone is Biased” Bias („Alle sind voreingenommen“). Die Grundidee ist, dass man schnell in eine Art Zynismus verfällt, sobald man erkennt, wie tief das Gruppendenken in manchen Eliteninstitutionen verankert ist. Dann liegt es nahe zu sagen: Man kann keiner dieser Institutionen trauen, man kann auch keiner Einzelperson trauen. Jeder Mensch hat irgendeine Art von Voreingenommenheit – also sollte man grundsätzlich allem misstrauen. Wie kann man sich gegen diesen Zynismus wehren? Und was genau meinst du mit dem “everyone is biased” bias?
Williams: Der “everyone is biased” bias ist nicht die Überzeugung, dass alle voreingenommen sind. Diese Überzeugung halte ich tatsächlich für richtig. Und ich finde, sie ist sehr wichtig für unser politisches Denken und für die Frage, wie wir überhaupt herausfinden wollen, was politisch wahr ist. Ich würde sagen, es gibt zwei Arten, in denen alle voreingenommen sind – eine psychologische und eine, die man in der Philosophie als erkenntnistheoretisch bezeichnen würde.
Die psychologische Seite ist: Menschen sind keine neutralen Wahrheitssucher. Wenn wir über Politik nachdenken, neigen wir zu dem, was Psychologen motiviertes Denken nennen – also zu einer Denkweise, bei der unsere praktischen Interessen mit der Wahrheitsfindung kollidieren. Im Alltag kann das bedeuten: Eigeninteresse oder Selbstinszenierung. In der Politik heißt das oft: Tribalismus. Also die Art und Weise, wie das Eintreten für eine bestimmte Sache oder ein politisches Lager unsere Informationsverarbeitung verzerren kann – meist unbewusst, ohne dass wir es merken.
Williams: Das ist die psychologische Komponente politischer Voreingenommenheit. Aber ich denke, es gibt auch eine komplexere und interessantere Ebene, die damit zu tun hat, dass selbst wenn wir völlig interesselose Wahrheitssucher wären, selbst wenn wir vollkommen rational wären, die Welt, über die wir uns im Politischen Überzeugungen bilden, so komplex ist – und die Wahrheit darüber so ungewiss. Und wir haben auf diese politische Realität nur sehr indirekten Zugriff: Wir sind extrem angewiesen auf Aussagen, die wir aus zweiter, dritter, vierter, fünfter Hand bekommen – von Reporterinnen, Journalisten, Kommentatoren und so weiter. Selbst wenn wir also als Individuen vollkommen rational wären, müssten wir trotzdem davon ausgehen, dass wir in vielerlei Hinsicht falschliegen oder nur einen bruchstückhaften Blick auf die Realität haben.
Wenn man nun beides zusammennimmt – dass die Wirklichkeit komplex ist und Wahrheit ungewiss, und dass wir keine objektiven Wahrheitssucher sind –, dann sollte man im Grunde davon ausgehen, dass alle Menschen die politische Welt in selektiver, verzerrter und fehleranfälliger Weise wahrnehmen.
Gleichzeitig ist es aber auch so, dass die meisten Menschen diesen Umstand weder für sich selbst noch für ihr eigenes politisches Lager wirklich nachvollziehen. Für die meisten fühlt es sich so an, als sei die Wahrheit völlig offensichtlich. Es ist einfach klar, was richtig ist – so sehr, dass jeder, der anderer Meinung ist, entweder verrückt, verlogen oder irregeleitet sein muss. Das nennen Psychologen naiven Realismus. Und ich glaube, das ist auf individueller Ebene sehr zerstörerisch, weil es eine Art intellektueller Arroganz begünstigt. Und es ist auch für die politische Polarisierung katastrophal – weil man am Ende denkt: Die anderen erkennen einfach nicht das, was für mich offensichtlich wahr ist, also müssen sie böse oder dumm sein. In diesem Sinne ist wirklich jeder voreingenommen – und das ist eine wichtige Wahrheit, die die meisten Menschen intuitiv nicht sehen. Unsere politische Kultur wäre besser, wenn wir es täten.
Mounk: Es gibt also eine Art konventionelle Weisheit – und eine Gegen-Konvention, könnte man sagen, oder? Viele Leute – vor allem die ganz Naiven – glauben einfach: Ich habe Recht, und wer mir widerspricht, ist entweder ein schlechter Mensch oder wird bezahlt. Ein besonders offensichtliches Beispiel dafür in den sozialen Medien ist der Vorwurf, jemand sei ein grifter. Die einzige Erklärung, warum du diese Meinung vertrittst, die meiner widerspricht, ist: Du machst das aus Geldgründen. Denn wenn du ein guter und kluger Mensch wärst, könntest du so etwas Dummes gar nicht ernsthaft glauben. Und klar – es gibt tatsächlich viele grifter online, keine Frage. Aber das blendet völlig die Möglichkeit eines gutgemeinten Dissens aus. Du sagst: Das ist eine wichtige Erkenntnis, und wir sollten sie ernst nehmen. Und obwohl ich dir da vollkommen zustimme, obwohl ich selbst oft darüber nachgedacht habe – in bestimmten Situationen denke ich mir dann doch: Wie kannst du das glauben? Was stimmt mit dir nicht? Aber dann fragt man sich: Wenn wir diese Erkenntnis zu weit treiben – wenn wir uns zu sehr auf das konzentrieren, was du gerade so gut beschrieben hast – wird genau das auch zum Problem. Warum? Warum kann gerade diese wichtige Einsicht selbst zur Quelle von Irrtum werden, wenn wir sie zu unkritisch betrachten?
Williams: Ich glaube, der Grund dafür ist ziemlich einfach: Alles, was ich gerade beschrieben habe, gilt wirklich für alle. Und das heißt, man kann sich so sehr auf diese Universalität der Voreingenommenheit fixieren – und darauf, wie oft Menschen, die sich selbst als objektiv darstellen, in Wahrheit heuchlerisch oder von Eigeninteressen geleitet sind –, dass man am Ende etwas Wichtiges übersieht: dass es tatsächlich große Unterschiede gibt im Grad der Wahrhaftigkeit, mit dem Individuen oder Institutionen sich der Wahrheit verpflichtet fühlen.
Man muss also in der Lage sein, beides gleichzeitig im Kopf zu behalten: Ja, jeder ist voreingenommen. Jeder sieht die Welt durch seine ganz eigene, unvollkommene Brille – und das gilt selbst für die angesehensten, elitärsten, wissensproduzierenden Institutionen. Aber: Voreingenommenheit ist nicht gleich Voreingenommenheit. Es gibt die ganz normale menschliche Verzerrung – und dann gibt es, wie ich schon sagte, jemanden wie Elon Musk. Und ehrlich gesagt war es seine Präsenz auf X in den letzten ein, zwei Jahren – das Ausmaß und die Dreistigkeit seiner Lügen –, die für mich außerhalb jeder normalen Form von Bias liegen. Es besteht die Gefahr, dass man durch den Fokus auf das Allgemeine, auf die Universalität von Bias, blind wird für genau diese entscheidenden Unterschiede. Und das ist der „everyone is biased“ bias – wenn man sich so sehr auf diese allgemeine Einsicht aus der Psychologie und Erkenntnistheorie konzentriert, dass man nicht mehr wahrnimmt, wie groß die Unterschiede tatsächlich sind, wenn es darum geht, wie sehr bestimmte Menschen oder Institutionen wirklich der Wahrheit verpflichtet sind.
Mounk: Wie würdest du sagen, steht das alles im Zusammenhang mit einer größeren Frage wie etwa dem kulturellen Relativismus? Für mich hat das eine ganz ähnliche Struktur: Es ist offensichtlich wahr, dass wir durch unsere jeweilige Kultur geprägt sind – und es ist sehr verlockend zu sagen: X ist richtig und Y ist falsch, oder X ist gut und Y ist schlecht, einfach weil das bei uns immer so war. Selbst in hochmodernen Gesellschaften müssen wir bestimmte Dinge irgendwie organisieren, und dabei greifen wir oft auf Gewohnheiten zurück. So haben wir das eben schon immer gemacht. Und dann fängt man an zu erkennen, wie sehr solche Dinge kulturell bedingt sind – ich weiß, das ist ein wirklich dummes Beispiel, aber ich habe kurz vor dieser Aufnahme noch im Persuasion-Redaktionsmeeting darüber gesprochen: Europäer haben eine merkwürdige Abneigung gegen Klimaanlagen. Teilweise wegen übertriebener Klima-Sorgen, aber oft auch aus einer Art kulturellem Snobismus: Aus irgendeinem Grund empfinden viele Europäer Klimaanlagen als amerikanisch, als neureich oder als irgendwie verschwenderisch. Es gibt einfach ein ästhetisches Vorurteil dagegen. Dabei zeigen Studien, dass heute in Europa wohl ähnlich viele Menschen an Hitze sterben wie in den USA an Schusswaffen. Es gibt deutliche Hinweise, dass Menschen bei Hitze schlechter schlafen, unproduktiver sind – und trotzdem gibt es diese prinzipielle Ablehnung gegenüber Klimaanlagen in Europa. Ich bin gerade etwas vom Thema abgekommen. Ich glaube, es liegt daran, dass ich hier im Raum die Klimaanlage ausgeschaltet habe, damit die Aufnahme nicht gestört wird – das bringt mich irgendwie durcheinander.
Williams: Ich stimme dir aber völlig zu.
Mounk: Zurück zur Frage des kulturellen Relativismus: Man kann dann schnell anfangen zu denken – wer bin ich, über eine andere Kultur zu urteilen? Wer bin ich, um etwas dazu zu sagen, wenn die Taliban Mädchen verbieten, zur Schule zu gehen, oder sie zwingen, eine Burka zu tragen? Oder wenn es in bestimmten Regionen Praktiken wie weibliche Genitalverstümmelung gibt? Das sind halt kulturelle Praktiken. Wir alle sind tief von unserer Kultur geprägt – und denken deshalb eben zufällig, dass manche Dinge gut und andere schlecht sind. Also sollte ich mich da raushalten und sagen: Lass diese Gemeinschaft dort einfach machen, was sie will. Gibt es da nicht eine Art „everyone is biased“ bias auch im Hinblick auf kulturellen Relativismus?
Williams: Ich glaube, das trifft es ganz gut. Das Komplizierte an der Kulturfrage ist, dass sie Tatsachenfragen mit moralischen Fragen und sozialen Normen vermischt. Aber ein Zusammenhang ist eindeutig: Man kann bestimmte Strömungen des Postmodernismus im 20. Jahrhundert durchaus als ein Beispiel für diesen „everyone is biased“ bias sehen. Sie gehen von einer ganz vernünftigen Einsicht aus – nämlich, dass wir die Welt immer aus einer bestimmten sozialen Perspektive heraus sehen. Wir sind keine objektiven Wahrheitssucher, unser Blick auf die Welt wird geprägt durch praktische Interessen, durch unsere soziale Herkunft, Zugehörigkeiten und so weiter.
Aber dann fehlt oft der nächste Schritt: zu sagen, es muss doch eine Möglichkeit geben, objektiv zwischen verschiedenen Perspektiven zu unterscheiden – also zu erkennen, welche Sichtweisen näher an der Wahrheit sind als andere. Eine etwas zugespitzte, karikierende Lesart des Postmodernismus – oft verbunden mit erkenntnistheoretischem Relativismus – kapituliert genau an dieser Stelle vollständig vor dem „everyone is biased“ bias. Und genau das, denke ich, muss man vermeiden. Manche Leute glauben, es sei ganz leicht, sich davor zu schützen – aber da steckt eben ein Körnchen Wahrheit drin: Ja, jeder ist voreingenommen. Du kannst also nicht einfach auf den Tisch hauen und sagen: Meine Sicht ist richtig! Denn das denkt natürlich jeder von seiner Sicht. Man braucht also eine andere Lösung – einen Ausweg aus diesem epistemologischen Relativismus, oder noch schlimmer: einem epistemologischen Nihilismus.
Meiner Ansicht nach liegt der Ausweg nicht auf individueller Ebene – also nicht in einem Akt des Willens –, sondern in der Entstehung komplexer, fragiler sozialer Normen und Institutionen. Es gibt eine naive Vorstellung von Wissenschaft, bei der man denkt: Wissenschaft funktioniert so gut, weil die Wissenschaftler so objektiv sind. Aber das stimmt überhaupt nicht. Jeder, der sich einmal mit Wissenschaft beschäftigt hat, weiß: Einzelne Wissenschaftler sind oft extrem voreingenommen und dogmatisch. Wenn Wissenschaft dennoch dabei hilft, unsere menschlichen Verzerrungen zu überwinden, dann liegt das an ihrer fragilen institutionellen Struktur. Und das Gleiche gilt für professionellen Journalismus. Es geht nicht um die Objektivität einzelner Journalistinnen und Journalisten. Entscheidend ist, wie Institutionen funktionieren – und ob es Vertrauen in sie gibt. Das ist entscheidend dafür, ob wir ein einigermaßen kollektives, realistisches Bild der Welt bekommen.
Mounk: Das ist ein großartiger Punkt – und ich glaube, genau das erklärt, warum politische Forderungen wie „Believe the science“ letztlich selbstwidersprüchlich sind. Ich vertraue der Wissenschaft nicht deshalb, weil ich glaube, dass da immer die Wahrheit gesagt wird. Ich glaube an die Wissenschaft, weil sie entscheidend dazu beigetragen hat, die Welt zu einem deutlich wohlhabenderen Ort zu machen – nicht allein, aber sehr wesentlich. Sie hat uns geholfen, von einer Lebenserwartung unter 30 auf über 70 Jahre zu kommen – selbst in den ärmeren Regionen der Welt.
Und das hat sie nicht geschafft, indem sie Konsens verteidigt hat, sondern indem sie ihn durchbrochen hat. Wissenschaft hat Institutionen geschaffen, die es ermöglichen – ja geradezu fördern –, dass Leute fundamental widersprechen. Dass sie ihre Kolleginnen schockieren und sagen: Ich glaube, das stimmt nicht – und damit manchmal richtig und oft falsch liegen. Es ist nicht so, dass alle, die gegen den Mainstream waren, am Ende Genies waren, die recht hatten. Viele waren einfach qualifizierte Spinner, die sich geirrt haben. Aber der Punkt ist: Man konnte diesen Widerspruch äußern. Man konnte sein Renommee aufs Spiel setzen – und im besten Fall später recht behalten. Und genau das hat Fortschritt ermöglicht.
Wenn man heute sagt: „Glaub an die Wissenschaft“, im Sinne von: Das ist der aktuelle Konsens, und der darf nicht infrage gestellt werden – dann ist das exakt das Gegenteil dessen, was Wissenschaft eigentlich ausmacht. Und dasselbe gilt für Journalismus. Die klassische Rolle des Journalisten war: Davon ausgehen, dass jeder Politiker ein Lügner ist – und herausfinden, wie genau er dich gerade belügt. Das kann natürlich auch zu Zynismus führen – wenn man denkt, alle wollen einem nur schaden. Aber genau dieser kritische Anspruch hat den Journalismus glaubwürdig gemacht. Er hat das Vertrauen begründet: Wenn ich eine gute Zeitung lese, kann ich davon ausgehen, dass da jemand kritisch nachgefragt hat – und ich der Information trauen kann, wenn ich eine gewisse Bandbreite an Quellen berücksichtige.
Wenn Journalisten ihre Rolle aber umdefinieren – wenn sie sagen: „Meine Aufgabe ist es, die Demokratie zu retten“ – dann wird es problematisch. Ich persönlich möchte die Demokratie retten, ich halte das für eine zentrale Motivation meines Lebens. Aber wenn ein Reporter, der über das Weiße Haus berichtet, sich fragt: „Soll ich wirklich diesen Artikel über Bidens geistige Fitness schreiben? Was ist, wenn das Trump hilft? Tue ich dann etwas Schlechtes?“ – dann ist das genau der Moment, in dem Menschen aufhören, Journalisten zu vertrauen. Und ironischerweise entstehen gerade dadurch dann oft die negativen Folgen, die man eigentlich vermeiden wollte.
Williams: Ich stimme dir zu, und ich denke, es gibt dabei gewissermaßen zwei Probleme. Das eine betrifft die Normen, die innerhalb dieser Institutionen verankert und durchgesetzt werden. Es sollte also ein klarer Verstoß gegen die Norm sein, wenn ein Journalist – und das zurecht – so wahrgenommen wird, dass er seine politischen Ziele über eine präzise Berichterstattung stellt. Und genau das passiert häufig. Du hast ja darüber geschrieben im Zusammenhang mit der bizarrsten Propagandakampagne der jüngeren Geschichte: der Berichterstattung – oder eben Nichtberichterstattung – über Bidens kognitiven Verfall. Das war ein eindeutiger Fall, in dem Journalisten meiner Meinung nach ihren Job nicht richtig gemacht haben, genau weil sie, wie du sagst, dieses politische Ziel über das stellen, was eigentlich der institutionelle Wert sein sollte – nämlich präzise Berichterstattung. Aber es gibt da noch etwas anderes: Man braucht Normen, die Dissens und Widerspruch ermöglichen und sogar fördern – aber man braucht auch Menschen innerhalb der Institutionen, die überhaupt zum Widerspruch bereit sind. Und genau deshalb kann ideologische Homogenität innerhalb einer Institution so zerstörerisch sein – so kontraproduktiv für ihre Leistung im Hinblick auf erkenntnisorientierte Ziele. Das ist ein sehr alter Gedanke – man findet ihn bei John Stuart Mill und auch bei Helen Longino. Die Idee, dass man eine Pluralität von Perspektiven und Sichtweisen innerhalb einer Institution braucht – ob im Journalismus oder in der Wissenschaft, wo es oft an ideologischer Vielfalt mangelt –, um sicherzustellen, dass nicht nur Dissens nicht bestraft wird, sondern überhaupt erst entstehen kann. Und wenn dieser Dissens nicht stattfindet, dann ist das wirklich schädlich für die Leistungsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit dieser Institutionen.
Mounk: Das finde ich wirklich interessant. Du hast ja kürzlich einen Text geschrieben, den ich auch deshalb spannend fand, weil ich in The Identity Trap über ein ähnliches Thema geschrieben habe – nämlich über Standpoint Epistemology. Die Idee, dass man besondere Einsichten in die Welt hat, wenn man zu einer unterdrückten Gruppe gehört – und dass Progressive deshalb politisch besonders auf die Stimmen der Unterdrückten hören sollten. Ich würde gern deine Argumente hören, warum du dem gegenüber skeptisch bist. Und ich finde auch: Es gibt da eine interessante Parallele zu unserem kurzen Gespräch über kulturellen Relativismus. Denn auf eine Weise, die vielen gar nicht bewusst ist, widersprechen sich diese beiden Sichtweisen eigentlich. Viele glauben beides zugleich: dass wir im Westen bei Werten wie Gleichberechtigung von Frauen vorsichtig sein sollten, weil das vielleicht nur eine kulturelle Norm ist – und wenn andere Gesellschaften diese Norm nicht teilen, sollten wir ihnen auch nicht helfen wollen. Und genau das sieht man zum Beispiel in der auffällig geringen Unterstützung vieler Linker für die Frauen im Iran, die gegen die Kopftuchpflicht und andere Dinge protestieren. Und gleichzeitig gibt es dann diese gegenteilige Sichtweise, dass jemand, weil er zu einer bestimmten Gruppe gehört, besondere Einsichten in objektive Tatsachen über die Welt hat – was auf einer umgekehrten Annahme beruht: Nicht, dass deine kulturelle Prägung dich verzerrt sehen lässt, sondern dass sie dir in diesem Fall einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verschafft. Und diese beiden Ansätze lassen sich eigentlich kaum unter einem gemeinsamen Denkrahmen unterbringen.
Williams: Ich glaube, du hast vollkommen recht. Und das ist auch eine alte Kritik an der Standpoint Theory. Ich sollte dazusagen: Das ist nicht mein Fachgebiet, also denke ich hier ein Stück weit laut. Aber ich denke, du hast recht. Was ich sagen würde, ist: Die Standpoint Theory gibt es in vielen verschiedenen Varianten. Und eines der Dinge, die du bei der Formulierung gesagt hast – nämlich, dass Mitglieder unterdrückter Gruppen oft besondere Einsichten in die Welt haben – halte ich für zutreffend. Ich denke, es kommt tatsächlich häufig vor, dass unterdrückte Gruppen spezifische Einsichten über die Welt haben. Aber das ist nicht die wirklich ambitionierte Version der Standpoint Theory, die ich in meinem letzten Substack-Beitrag kritisiert habe. Denn natürlich kann man auch der Ansicht sein, dass Mitglieder unterdrückter Gruppen manchmal besondere Einsichten in die soziale Welt haben – und gleichzeitig, dass Mitglieder privilegierter Gruppen manchmal ebenfalls besondere Einsichten besitzen. Der eigentliche Anspruch der Standpoint Theory ist nicht nur, dass es besondere Einsichten gibt, die mit Unterdrückung verbunden sind – sondern dass der Standpunkt der Unterdrückten anderen Standpunkten in gewisser Weise überlegen ist. Und auch wenn ich den Impuls hinter dieser Idee verstehe, denke ich, dass sie aus einigen der von dir genannten Gründe einfach nicht haltbar ist.
Du hast auch mit Blick auf die intellektuelle Genealogie recht. Man kann Standpoint Theory als eine bestimmte Strategie sehen, um das Problem des Relativismus zu adressieren, das wir angesprochen haben. Man beginnt mit der Auffassung, dass alles Wissen in gewissem Sinne standortgebunden ist. Es hängt alles damit zusammen, wo wir sozial verortet sind, mit all unseren kontingenten Perspektiven. Es gibt keine „Sicht von nirgendwo“. Es gibt keine vollkommen objektive Perspektive, die außerhalb unserer sozialen Kontexte steht. Und daraus ergibt sich dann das Problem: Wenn das stimmt – wie kann man dann sagen, dass eine Perspektive besser ist als eine andere?
Viele Vertreter der Standpoint Theory wollen genau das tun. Sie wollen typischerweise sagen, dass eine bestimmte linke Gesellschaftstheorie einer zentristischen oder konservativen Sichtweise auf die Realität überlegen ist. Ein Lösungsversuch besteht dann darin, zu sagen: Die überlegenen Standpunkte sind diejenigen, die den Standpunkt der Unterdrückten einnehmen. Und dafür gibt es unterschiedliche Begründungsansätze. Ein Problem dabei – und das wurde unter anderem von Helen Longino thematisiert – ist die Zirkularität. Die Idee lautet: Die richtige Gesellschaftstheorie, also die, die die Wirklichkeit zutreffend beschreibt, ist die, die wir über den Zugang zum Standpunkt der Unterdrückten erhalten. Aber wie genau bestimmen wir, was dieser Standpunkt überhaupt ist? Wer wird unterdrückt? Wer ist betroffen? Wo genau liegt die Unterdrückung in einer Gesellschaft? Es gibt eine Vielzahl konkurrierender Perspektiven darauf.
Nimm einen geopolitischen Konflikt wie Israel-Palästina. Da hast du zwei Seiten – stark vereinfacht –, die jeweils eine eigene Erzählung von Unterdrückung und Viktimisierung haben. Oder nimm eine moderne liberale Demokratie: Auch dort ist die Behauptung, bestimmte Gruppen seien in einer spezifischen Weise unterdrückt, nicht neutral – sie ist das Resultat einer bestimmten theoretischen Perspektive. Und wenn das so ist, dann brauchst du eine Begründung für diese Theorie, die nicht auf der Annahme basiert, dass der Standpunkt der Unterdrückten bereits bekannt und zuverlässig identifizierbar ist. Denn man kann nur bestimmen, wer unterdrückt ist und was deren Perspektive umfasst, wenn man die Theorie schon akzeptiert hat. Das ist eine zirkuläre Argumentation – zumindest bei den ambitionierteren Versionen der Standpoint Theory. Wie gesagt: Diese Problematik ergibt sich nicht aus der weniger kontroversen Einsicht, dass marginalisierte Gruppen oft besondere Einsichten in ihre eigene Lage haben – etwa in die Art ihrer Unterdrückung. Das ist eine berechtigte Beobachtung. Aber sie ist kein Alleinstellungsmerkmal der Standpoint Theory in ihrer anspruchsvolleren Form.
Mounk: Das erscheint mir ganz richtig. Und ich sage das ja auch in meinem Buch: Ich – jemand, der in den USA weiß ist – weiß nicht, wie es sich anfühlt, über die Straße zu gehen, einen Polizisten zu sehen und sich zu fragen, ob er einen gleich anhält, durchsucht oder einem sofort mit besonderem Misstrauen begegnet. Ein Schwarzer in den Vereinigten Staaten wird da ein ganz anderes Gefühl dafür haben, wie es ist, wenn ausgerechnet jene Ordnungskräfte, auf die man sich eigentlich verlassen können sollte – für Hilfe, für Schutz –, einen stattdessen mit Verdacht behandeln. Und es gibt viele ähnliche Beispiele. Ich glaube, wo die Standpoint Theory politisch wirklich an Wirkung gewonnen hat – und wo sie zumindest eine Zeit lang Mainstream wurde –, ist in den weiterführenden Schritten, die sie daraus ableitet. Und diese Schritte sind, gelinde gesagt, umstritten – und in den meisten Fällen, denke ich, schlicht nicht haltbar.
Zum einen lautet die Annahme: Unterdrückte haben besondere Einsichten – und deshalb sollten wir ihre Wahrnehmung der Welt als maßgeblich betrachten. Dabei ist es in vielen Fällen so, dass auch andere Gruppen – manchmal gerade aufgrund derselben Ungerechtigkeiten – wichtige Einsichten haben. Im ökonomischen Kontext etwa könnte man sagen: Der Fabrikarbeiter hat ein bestimmtes Gespür für Ungerechtigkeit in der Welt. Aber auch der Fabrikbesitzer hat ein bestimmtes Verständnis dafür, wie eine kapitalistische Wirtschaft funktioniert. Es ist kein Zufall, dass Friedrich Engels – der Partner von Karl Marx – selbst Industrieller war. Das verschaffte ihm Einsichten, die ein Arbeiter womöglich nicht hatte. Ein noch extremeres Beispiel: Es kann sein, dass eine Gruppe so stark unterdrückt ist, dass sie nicht einmal lesen und schreiben lernen darf. Wenn sie das nicht kann, bleiben ihr bestimmte zentrale Fakten über die Gesellschaft unzugänglich. Dann braucht man auch die Perspektive anderer.
Die zweite problematische Annahme ist, dass man die durch Unterdrückung gewonnenen Einsichten nicht kommunizieren kann. Hier muss man unterscheiden: Es gibt das Erleben von Unterdrückung – was sich vielleicht in Romanen, Kunst oder ähnlichem ausdrücken lässt, aber was ich nie vollständig nachempfinden werde. Ich verstehe, dass ich als weißer Mensch natürlich versuchen kann, mich in jemanden hineinzuversetzen, der sich vor der Polizei fürchtet. Ich glaube, ich kann mich dem annähern – aber ich werde das vermutlich nie ganz fühlen, nie ganz begreifen, was das auf einer tiefen, emotionalen Ebene bedeutet. Das erkenne ich gern an. Aber der politisch relevante Aspekt daran ist, glaube ich, vermittelbar. Wir leben in einer Gesellschaft der Gleichen – oder streben zumindest eine solche an. Jeder sollte sich mit gleichem Vertrauen an die Polizei wenden können. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist das ein moralisches Unrecht. Und ich bin sehr wohl in der Lage, diesen rationalen, politisch relevanten Punkt zu verstehen – auch wenn ich das emotionale Erleben nicht vollständig teile. Ich kann verstehen, dass dieses emotionale Erleben Ausdruck einer Ungerechtigkeit ist, auch wenn ich es nicht selbst durchlebe.
Dann gibt es eine Reihe politischer Vorstellungen, die zu einem Zirkelschluss führen – nämlich zur Annahme: Ich bin ein gutwilliger Mensch, der das Richtige tun möchte, aber nicht weiß, was das ist. Und das Richtige ist, den Standpunkt der Unterdrückten anzuerkennen und meine politische Urteilskraft an diejenigen zu delegieren, die diesen Standpunkt wirklich repräsentieren. Und die sagen mir dann, was zu tun ist. Ich halte das aus mehreren Gründen für eine völlig unrealistische politische Theorie.
Erstens: Innerhalb der sogenannten unterdrückten Gruppe gibt es sehr unterschiedliche Meinungen. Wenn also ein Mitglied sagt: Du sollst X tun, ein anderes sagt: Du sollst Y tun, und ein drittes sagt: Du sollst Z tun – wie entscheide ich dann? Die Antwort ist natürlich: Ich entscheide basierend auf meinen eigenen Vorstellungen davon, was der wahre Standpunkt der Unterdrückten ist. Wenn es um Afroamerikaner in den USA geht, halte ich Ibram X. Kendi eher für repräsentativ als Thomas Chatterton Williams oder Thomas Sowell oder Candace Owens. Ich habe eine Meinung darüber, welche dieser Personen glaubwürdiger ist oder nicht. Ich glaube nicht, dass Candace Owens eine besonders typische Vertreterin afroamerikanischer Ansichten ist. Aber der Punkt ist: Ich muss diese inhaltliche Einschätzung selbst treffen. Ich habe schon vorher ein politisches Verständnis davon, was als sinnvoller Ausdruck der Interessen vieler Gruppenmitglieder gilt. Und dieses Verständnis bestimmt dann, welcher Stimme ich Glauben schenke.
Und schließlich: In der Praxis werden nur sehr wenige Menschen so stark von einem bestimmten Verständnis sozialer Gerechtigkeit angetrieben sein, dass sie politische Positionen vertreten, die ihren eigenen Instinkten über die Welt widersprechen. Wenn Menschen sagen, sie tun das, dann wählen sie in der Regel einfach die Stimme aus, mit der sie ohnehin schon übereinstimmen, oder? Sie glauben ohnehin, dass Ibram X. Kendi die Lage der USA richtig beschreibt, und sagen dann: Ich übernehme diese Position, weil ich mich auf ihn berufe. Aber das ist im Grunde nur ein verkleideter Ausdruck der eigenen Überzeugungen – in einer exotisch anmutenden Verpackung.
Williams: Da stimme ich dir in allem zu. Besonders den Punkt, den du angesprochen hast – was passiert, wenn es Widerspruch innerhalb einer unterdrückten Gruppe gibt. Du hast zwei schwarze Frauen – die eine ist Candace Owens, die andere eine progressive Aktivistin – und sie haben, vorsichtig gesagt, sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Realität. Wie entscheidet man nun, welche dieser Perspektiven wirklich dem „Standpunkt der Unterdrückten“ entspricht? Offensichtlich kann man diesen Standpunkt nicht einfach als Kriterium nehmen, um das herauszufinden – denn genau dieser Widerspruch ergibt sich ja gerade aus der Berufung auf den Standpunkt. Man braucht also irgendeine unabhängige gesellschaftstheoretische Grundlage, die sich auf bestimmte Arten von Evidenz stützt, um zu bewerten, welche dieser Sichtweisen legitim ist.
Aber ich habe ja auch schon gesagt: Hier reden wir über Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer Gruppe, die wir bereits als unterdrückt ansehen. Dabei setzen wir voraus, dass wir wissen, welche Gruppen überhaupt unterdrückt sind. Und in diesem Fall ist das, finde ich, eine sehr plausible Annahme – ich stimme völlig zu, dass Mitglieder dieser Gruppe unterdrückt sind. Aber man darf nicht vergessen: Auch diese Zuschreibung ist immer umstritten.
Selbst die Vorstellung, dass zum Beispiel Frauen von der Gesellschaft unterdrückt werden und nicht Männer – das wird in manchen Subkulturen vehement bestritten. Es gibt Menschen, die behaupten, das Patriarchat sei ein Mythos und in Wahrheit würden Männer auf verschiedene Weisen ausgebeutet. Standpoint-Theoretiker werden so eine Sichtweise nicht akzeptieren, aber sie zeigt: Die bloße Aussage „Nimm den Standpunkt der Unterdrückten“ reicht nicht, um solche Konflikte zu klären. Denn wenn unklar ist, wer überhaupt unterdrückt wird, dann braucht man eine vorgelagerte Theorie – und die kann sich nicht selbst über den Standpunkt begründen.
Mounk: Erzähl uns zum Abschluss noch, was du über die Rolle der Philosophie im öffentlichen Diskurs denkst. Du hast ja ein echtes Talent, deine philosophische Ausbildung – auch recht komplexe Argumente und begriffliche Unterscheidungen – in Debatten einzubringen, auf eine Weise, die wirklich klärt, worüber wir sprechen. Ist es zu pauschal gesagt, wenn man meint, die Philosophie habe im öffentlichen Diskurs vor allem eine negative Rolle – also vor allem darin besteht, Denkfehler aufzuzeigen und Gerümpel beiseitezuräumen? Oder kann sie auch etwas Positives leisten? Was macht einen hilfreichen Beitrag der Philosophie im politischen Raum aus?
Williams: Gute Frage. Und ehrlich gesagt eine, über die ich bisher nicht viel nachgedacht habe. Ob man es nun positiv oder negativ nennen will – ich würde sagen: Philosophie kann uns hoffentlich dabei helfen, über Themen auf eine klare, präzise und durchdachte Weise nachzudenken. Und das ist, glaube ich, in jedem Themenbereich wertvoll. Akademische Philosophen – einige der klügsten Köpfe überhaupt – sind enorm geübt darin, präzise Unterscheidungen zu treffen und strukturiert über komplexe Fragen nachzudenken. Ich wünschte, mehr Philosophinnen und Philosophen würden sich in öffentliche Debatten einbringen. Es gibt da oft einen gewissen Snobismus – die Neigung vieler Akademiker, auf Menschen herabzublicken, die sich öffentlich äußern oder sich politisch einmischen. Denn wer in der öffentlichen Debatte mitreden will, kann nicht für ein rein akademisches Publikum schreiben. Ich will damit nicht sagen, dass ich besonders gut darin bin, mich an ein breites Publikum zu wenden – das ist enorm schwierig und erfordert ein ganz eigenes Können. Aber es bedeutet eben: Man muss in einer Sprache kommunizieren, die nicht den Maßstäben akademischer Journals entspricht, deren Artikel am Ende zwölf Spezialisten lesen. Es ist ein völlig anderes Format. Diese herablassende Haltung schreckt viele ab – aber wenn man es kann, sollte man es als Philosoph unbedingt tun. Denn Fragen wie Desinformation, politische Voreingenommenheit oder das Funktionieren von Institutionen – die sind tief verknüpft mit den großen Fragen der Philosophie. Und deshalb, denke ich, können Philosophen hier tatsächlich einen sehr positiven Beitrag leisten – oder zumindest hoffe ich das.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.
Danke. Ich verstehe bis heute nicht, warum die Medien angefangen haben, klassische Lügen als Desinformation zu bezeichnen und mit diesem eher schwer greifbaren Begriff die Grenzen zwischen Wahrheit und erfundenen Fakten zu verschwimmen (der Begriff „Lüge“ ist viel greifbarer und den meisten sofort verständlich, während der Begriff „Desinformation“ erstmal eine Denkleistung seitens des Rezipienten erfordert). Aber wenn man den Begriff weiter fasst, dann ergibt diese Verwendung aus Sicht der Verwender Sinn.
Leider führt dies aber wie so oft dazu, dass Grenzen verwischen, die in Debatten sehr wichtig wären - etwa die zwischen Wahrheit und Unwahrheit, sowie (soweit möglich) zwischen Fakt und Meinung. Am Ende wird durch den exzessiven Gebrauch des Begriffs „Desinformation“ die aktuell vorherrschende Unsicherheit, was wahr ist, nur noch verstärkt. Ich sehe es daher wie du, dass man hier strikter trennen sollte. Das heißt natürlich nicht, dass man unsinnige Schlussfolgerungen und verkürzte Darstellungen einfach so stehen lassen sollte, aber man sollte sie einfach - ebenso wie Lügen - so beschreiben, wie sie sind: irsinnig, unlogisch, nicht zu Ende gedacht. Vielleicht kann man dann wieder zu rationalen, zielführenden Debatten kommen.