Das deutsche Modell ist gescheitert
Deutschland befindet sich in seiner größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Weder Angela Merkel noch ihre Nachfolger haben einen Plan, wie man sie lösen kann.
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Yascha

Für einige Monate im Winter 2016 wurde Angela Merkel weithin als das letzte Bollwerk der westlichen Demokratie gefeiert. Manche gingen sogar so weit, sie als die wahre Anführerin der freien Welt zu bezeichnen. Nachdem der scheidende US-Präsident Barack Obama sein letztes offizielles Treffen mit Merkel abgehalten hatte, soll er seinem Team gesagt haben: „Sie ist ganz allein.“
Donald Trump war gerade zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden. Das Vereinigte Königreich hatte kürzlich für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt. Die Regierungschefs Frankreichs, Italiens, Japans und Südkoreas wirkten geschwächt. In Russland und China gewannen Diktatoren an Selbstbewusstsein. Nur Merkel stand unerschütterlich für liberale Werte ein (so zumindest die Erzählung).
Nun hat Merkel ihre Memoiren veröffentlicht, mit dem treffenden Titel Freiheit. Sie sind ein eindrucksvoller Beleg für ihre bemerkenswerte Lebensgeschichte. Als Tochter eines Pastors in der DDR aufgewachsen, war sie bei der Wiedervereinigung 35 Jahre alt. Von Freunden und Rivalen gleichermaßen unterschätzt, erlebte sie nach dem Fall der Berliner Mauer einen steilen politischen Aufstieg. Mit 51 Jahren hatte sie das mächtigste Amt des Landes inne, das sie die nächsten 16 Jahre lang nicht abgeben sollte.
Die Lektüre ihrer Memoiren verstärkte mich in der Überzeugung, dass sie ebenso anständig wie beharrlich ist. Doch sobald Merkel beginnt, die zentralen Wendepunkte ihrer Amtszeit zu erzählen, macht sich ein Gefühl der Tragödie breit. Obwohl sie immer versuchte, das Richtige zu tun, hat sie letztlich fast alles falsch gemacht – eine Lektion, die sie bis heute nicht zu lernen bereit ist. „Wenn es jemandem hilft zu sagen: ‚Es war Merkels Schuld‘, dann soll er das tun“, meinte sie bei der offiziellen Präsentation ihres Buches in Berlin trotzig. „Ich glaube nur nicht, dass das dem Land helfen wird.“
Seit Merkel im Dezember 2021 aus dem Amt schied, ist der Glanz ihres Vermächtnisses verblasst. Das deutsche Modell funktioniert nicht mehr. Und rückblickend ist es schmerzhaft offensichtlich, dass die wichtigsten Entscheidungen, die Merkel in ihrer Amtszeit traf – darunter ihre weiche Linie gegenüber Russland und die Handelsabkommen mit China – dessen Niedergang beschleunigten. Leider gibt es kaum Anzeichen dafür, dass ihre Nachfolger aus diesen Fehlern gelernt haben.
In einer Zeit, die große Wichtigtuer und Demagogen bevorzugte, war Merkels Stil konsensorientiert, fast lakonisch; ihre Ideologie, falls sie eine hatte, bestand darin, den Kurs zu halten. Obwohl Merkel eine konservative Partei führte, positionierte sie sich ungeniert in der politischen Mitte und fügte sich bei jedem Schritt dem scheinbaren Willen der Mehrheit. Als Konflikte und Bürgerkriege im Nahen Osten Hunderttausende Flüchtlinge an die deutsche Grenze trieben und eine kraftvolle, wenn auch kurzlebige Welle des Mitgefühls auslösten, weigerte sie sich, die Grenzen des Landes zu schließen, und sagte mit charakteristischer Einfachheit: „Wir schaffen das.“
Und doch erscheint Merkels Flüchtlingspolitik im Rückblick weder besonders vernünftig noch besonders menschlich. Es ist eine Tugend, echte Flüchtlinge aufzunehmen. Und der jüngste Fall des grausamen Regimes von Baschar al-Assad in Syrien erinnert daran, dass viele der Menschen, die vor seiner Herrschaft flohen, guten Grund hatten, um ihr Leben zu fürchten.
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Aber es ist alles andere als klar, dass es wahres Mitgefühl ist, verzweifelte Menschen dazu zu verleiten, ihre gesamten Ersparnisse skrupellosen Kriminellen zu übergeben, um eine gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zu wagen – besonders wenn diejenigen, die dazu nicht bereit oder in der Lage sind, ihrem Schicksal überlassen werden. Diese Politik wirkt geradezu heuchlerisch, wenn man bedenkt, dass Merkel ihre Entscheidung, die deutschen Grenzen offen zu halten, rühmte, während sie gleichzeitig ein kostspieliges Abkommen mit Recep Tayyip Erdoğan, dem autoritären Staatschef der Türkei, abschloss. De facto bezahlte sie ihn dafür, die Aufgabe zu übernehmen, die Flut verzweifelter Menschen für sie aufzuhalten.
Wie sich herausstellte, brachte dieser unehrliche Ansatz in der Flüchtlingskrise auch einen hohen politischen Preis mit sich. Obwohl sie tat, was sie konnte, um den Zustrom von Flüchtlingen einzudämmen, weigerte sich Merkel beharrlich anzuerkennen, dass sie ihren Kurs geändert hatte. Bei der Bundestagswahl im Herbst 2017 zog die Alternative für Deutschland erstmals in den Bundestag ein. Seitdem hat die Partei, teils weil viele Flüchtlinge sich nicht erfolgreich in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren konnten und einige von ihnen gewalttätige Verbrechen begingen, weiter an Popularität gewonnen. Laut aktuellen Umfragen wird die AfD bei den für Februar 2025 angesetzten Bundestagswahlen zur zweitstärksten politischen Kraft des Landes aufsteigen.
Selbst für Befürworter eines humanitären Umgangs mit Migration haben sich Merkels Entscheidungen in der Flüchtlingskrise als Pyrrhussieg erwiesen. 2015 stand jede Kritik an ihrer Politik der offenen Grenzen politisch automatisch am rechten Rand Europas. Doch deren Konsequenzen machten Wähler im gesamten Westen deutlich ängstlicher vor unkontrollierter Einwanderung und boten rechten Politikern wie Giorgia Meloni in Italien oder Donald Trump in den USA resonante Argumente. Ein Jahrzehnt später betonen selbst linke Parteien, dass sie einen ähnlichen Zustrom nie wieder zulassen würden.
Deutschlands Krise greift noch tiefer. In der einprägsamen Formulierung von Constanze Stelzenmüller, Senior Fellow der Brookings Institution, hat Deutschland lange „seine Sicherheit an die USA, seine Energieversorgung an Russland und sein exportgetriebenes Wachstum an China ausgelagert.“ Merkel hat auf alle drei dieser Abhängigkeiten gesetzt – und seitdem sie das Amt verlassen hat, sind alle drei gescheitert.
Mit atemberaubender Geschwindigkeit hat sich Deutschland von einer wirtschaftlichen Supermacht zum neuen „kranken Mann Europas“ verwandelt. Die Produktion im Land ist erheblich zurückgegangen. Besonders die vielgerühmte Automobilindustrie ist schwer betroffen. Volkswagen beispielsweise hat kürzlich angekündigt, einige seiner deutschen Werke erstmals in der Unternehmensgeschichte schließen zu müssen. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass Deutschland nun seine größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt.
In der Nachkriegszeit befand sich Westdeutschland in einer merkwürdigen Position. Mit dem Eisernen Vorhang, der direkt durch Berlin verlief, war die BRD eine entscheidende Grenze im Kalten Krieg. Doch aufgrund der jüngeren Geschichte Deutschlands trauten selbst seine Verbündeten der Republik keine schlagkräftige Armee zu. Das führte dazu, dass die Regierung in Bonn für ihre Verteidigungsbedürfnisse auf die Vereinigten Staaten angewiesen war. Im Laufe der Zeit hat sich diese Abhängigkeit von Uncle Sam, der Personifizierung der USA, zu einer reflexartigen Denkgewohnheit entwickelt. Bis heute sehen viele Deutsche auf die Amerikaner herab und betrachten sie als waffenbesessene Cowboys, während sie dabei bequem vergessen, dass es genau diese Cowboys und ihre Waffen waren, die das Land in den letzten 80 Jahren sicher gehalten haben.
Merkel teilte diesen instinktiven Anti-Amerikanismus nie. Doch sie erkannte nicht, dass Deutschlands langer Urlaub von der Geschichte zu Ende gegangen war. Selbst nachdem Trump ins Amt gekommen war, europäische Länder aufforderte, mehr für ihre Verteidigung auszugeben, und den Zweck der NATO in Frage stellte, erhöhte sie das Verteidigungsbudget nicht entscheidend. Als sie 2021 aus dem Amt schied, war die deutsche Armee berüchtigt dafür, kaum noch funktionstüchtige Flugzeuge zu besitzen.
Olaf Scholz, ein zentristischer Sozialdemokrat, der vier Jahre lang als Merkels Vizekanzler diente und ihren lakonischen Stil nachahmte, als er im Dezember 2021 ihr Nachfolger wurde, hat dieses Vermächtnis des Nichtstuns fortgeführt. Wenige Tage nach Wladimir Putins Einfall in die Ukraine schien Scholz kurzzeitig zu signalisieren, dass er verstanden hatte, dass Deutschlands langjährige geostrategische Haltung unhaltbar geworden war. Den Krieg als „Zeitenwende“ bezeichnend, versprach er, in die Bundeswehr zu investieren und die volle Unterstützung Deutschlands für die Ukraine zu sichern.
Leider folgten Scholz' Worten keine ernsthaften Taten. In jeder Phase des Krieges zögerte und wich Deutschland aus, tat insgesamt betrachtet weit weniger für die Ukraine als die Vereinigten Staaten und relativ gesehen weniger als Polen und die baltischen Staaten. Um den traditionell russlandfreundlichen Gefühlen in seiner Partei nachzugeben, macht Scholz sich nicht einmal mehr die Mühe, die Idee einer Zeitenwende verbal zu unterstützen. In seinem schwierigen Kampf um die Wiederwahl preist er seine Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine als Teil seiner Wahlkampfrhetorik an und ging kürzlich sogar so weit zu behaupten, Friedrich Merz, sein konservativer Widersacher, könne wegen seiner geringfügig aggressiveren Haltung nicht in die deutsche Infrastruktur investieren. Heute ist Deutschland nicht näher daran, ein Garant für Europas Frieden und Stabilität zu sein, als es vor zwei Jahrzehnten war.
In einer Hinsicht zumindest hat es Deutschland in den letzten Jahrzehnten tatsächlich geschafft, ein Gleichgewicht zwischen Ost und West zu finden: Es hat seine militärische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten durch eine Energieabhängigkeit von Russland ergänzt. Deutsche Staatsoberhäupter neigen dazu, ihre Nähe zum Kreml mit der historischen Schuld zu rechtfertigen, die auf der Anzahl der russischen Soldaten beruht, die im Kampf gegen die Nazis ums Leben kamen. (Irgendwie scheinen sie jedoch keine ähnliche Schuld gegenüber Polen oder Ukrainern zu empfinden, die genauso stark unter der deutschen Herrschaft gelitten haben.) Doch der eigentliche Grund ist viel einfacher: Sie haben es nicht gewagt, die deutsche Industrie von ihrer Sucht nach billigem russischem Gas zu entwöhnen.
Um fair zu sein: Merkel war weit weniger naiv gegenüber dem Charakter oder den Ambitionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin als viele andere deutsche Politiker. Aufgewachsen in einem kommunistischen Polizeistaat verstand sie besser als die meisten, dass der Geist des KGB Putin nicht verließ, nachdem Putin den KGB verlassen hatte. (Unter anderem war er mehrere Jahre in Ostdeutschland stationiert und erteilte der Stasi Anweisungen.) Während eines bilateralen Treffens im Kreml im Jahr 2006 ließ Putin – der wusste, dass Merkel panische Angst vor Hunden hatte, seitdem sie ein Jahrzehnt davor von einem gebissen worden war – seinen Labrador ausgiebig Merkel begrüßen und beschnüffeln. In ihren Memoiren deutet Merkel an, dass dies eine sadistische Ader enthüllte: „Ich denke, Putin wusste genau, was er tat. Er wollte seine Macht zeigen.“
Doch gerade deshalb ist es umso rätselhafter, wieso Merkel eine Politik verfolgte, die Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas weiter vertiefte. Sie ordnete die Abschaltung der deutschen Kernreaktoren an, angeblich aus umweltpolitischen Gründen, wodurch das Land noch abhängiger von importierten fossilen Brennstoffen wurde. Selbst nachdem der Kreml 2008 georgisches Gebiet und 2014 ukrainisches Gebiet besetzt hatte, unterstützte Merkel weiterhin Nord Stream 2, eine Pipeline, die Gas direkt von Russland nach Deutschland pumpen sollte. Die Kosten für den energieintensiven deutschen Industriesektor begannen während ihrer Amtszeit zu steigen und erreichten 2022 einen Höchststand, nachdem Putin seine umfassende Invasion in die Ukraine gestartet hatte – was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie bedrohte und das Land in eine Rezession stürzte.
Auch in diesem Bereich trägt Merkel nicht die Hauptverantwortung, weil sie sich von der übrigen deutschen politischen Klasse abgehoben hätte, sondern schlicht aufgrund der Länge ihrer Amtszeit. Gerhard Schröder, ihr sozialdemokratischer Vorgänger, hatte so enge Verbindungen zu Putin, dass er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt in den Vorstand von Gazprom eintrat. Die Grünen haben sich trotz ihrer Ursprünge in der antiwestlichen Friedensbewegung zur konsistentesten deutschen politischen Kraft entwickelt, die autoritäre Mächte wie den Kreml kritisch sieht. Doch da sie ihre dogmatische Ablehnung aller Formen der Kernenergie bisher nicht überdacht haben, konnten auch sie keinen realistischen Plan entwickeln, um Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas zu beenden.
Die Deutschen waren lange stolz darauf, Exportweltmeister zu sein. Dafür mussten deutsche Unternehmen Märkte für ihre Autos und andere hochwertige Industriegüter finden. Der verlockendste dieser Märkte war in den vergangenen Jahrzehnten China. So pilgerte eine Reihe deutscher Politiker begeistert nach Peking, wobei die Mutigsten unter ihnen ein paar idealistische Worte über Menschenrechte murmelten, bevor sie Handelsabkommen abschlossen, die darauf abzielten, die bilateralen Beziehungen zu vertiefen.
Auch das ist ein Bereich, in dem es sowohl Merkel als auch ihren Nachfolgern an Weitsicht oder Mut fehlte, einen Kurswechsel einzuleiten. Selbst als Xi Jinping seinen Machtanspruch weiter festigte, hielt Merkel an der bequemen Vorstellung fest, dass der Handel mit westlichen Ländern dazu beitragen würde, die kommunistische Herrschaft zu mildern. Noch 2020 setzte sie sich vehement für ein Investitionsabkommen zwischen Brüssel und Peking ein. Während sie behauptet, ihre marxistisch-leninistische Indoktrination in der Kindheit habe ihr geholfen, Xis autoritäre Denkweise zu verstehen, besteht sie letztlich darauf, dass ihr Hang zur Realpolitik zu Recht Vorrang hatte: „Es gab greifbare deutsche Interessen“, betont sie in Freiheit. „China ist ein wichtiger Partner für uns, und unsere Wirtschaftsbeziehungen sichern Wohlstand und Arbeitsplätze in Deutschland.“
Unter Merkel wurden große deutsche Konzerne wie Daimler und Volkswagen zunehmend abhängig von chinesischen Käufern. Doch anstatt den deutschen Wohlstand zu sichern, wie Merkel weiterhin zu glauben scheint, entwickelte sich diese Abhängigkeit allmählich zu einer existenziellen Bedrohung. Während deutsche Hersteller bei der Entwicklung von Elektroautos ins Hintertreffen gerieten, überholten chinesische Start-ups ihre Technologie. Heute exportiert China mehr Autos, als es importiert, was eine doppelte Gefahr für die finanzielle Tragfähigkeit des wichtigsten Sektors der deutschen Wirtschaft darstellt.
Die Nachkriegsgeschichte Deutschlands ist eine überraschende Erfolgsgeschichte. Als die Bundesrepublik vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, schienen die Aussichten auf eine erfolgreiche Demokratie äußerst unsicher; das Land war bereits zwischen Ost und West geteilt, und große Teile lagen in Trümmern.
Zum 75. Jahrestag kann die Bundesrepublik auf bemerkenswerte Errungenschaften stolz sein. Deutschland hat die Demokratie vollständig angenommen und sich fest in der westlichen Allianz verankert. Es hat die Lehren der Vergangenheit so weit verinnerlicht, dass seine Nachbarn heute mehr seine Schwäche fürchten als seine Stärke. Und seit vielen Jahrzehnten ist es die erfolgreichste große Volkswirtschaft auf dem europäischen Kontinent.
Doch die Fähigkeit Deutschlands, diesen Erfolg aufrechtzuerhalten, steht nun infrage. Die Unternehmen, die den Wohlstand des Landes seit den 1950er Jahren getragen haben, sehen sich mit der Gefahr von Krise oder sogar Insolvenz konfrontiert. Die unglückliche Koalitionsregierung, die Merkel ablöste, ist kürzlich an bitteren Streitigkeiten zerbrochen. Extremisten gewinnen in der deutschen Politik an Einfluss. Putin bedroht die politische Ordnung Europas. Selbst Berlins Fähigkeit, seine Sicherheitsbedürfnisse an Washington auszulagern, könnte bald an ihr Ende kommen.
All das erfordert ein radikales Umdenken des deutschen Modells. Um sicherzustellen, dass das Land seine bemerkenswerte Erfolgsserie fortsetzen kann, müssen seine Führungskräfte die wirtschaftliche, kulturelle und geopolitische Strategie neu überdenken. Doch trotz vieler Sorgen um den Zustand des Landes scheint in Berlin kaum jemand das Ausmaß der aktuellen Herausforderung wirklich begriffen zu haben.
Das ist ein weiterer Aspekt, in dem Merkels Versagen die umfassenderen Schwächen ihres Landes widerspiegelt. In ihren Memoiren räumt sie kaum persönliche oder politische Fehler ein. Bei öffentlichen Auftritten seit deren Veröffentlichung wirkt sie genervt darüber, dass sie sich mit unangenehmen Fragen zu ihren Fehlentscheidungen auseinandersetzen muss. Ob es ihre Nachgiebigkeit gegenüber dem Kreml, ihr Versäumnis, die deutsche Industrie zu modernisieren, oder ihre widersprüchliche Reaktion auf die Flüchtlingskrise betrifft – sie scheint nicht in der Lage zu sein, den hohen Preis zu erkennen, den ihre Entscheidungen gefordert haben.
„Für mich“, schreibt Merkel im Epilog ihrer Memoiren, „bedeutet Freiheit, auch nach meinem Abschied aus der Politik weiterhin zu lernen.“ Und doch scheint sie weiterhin an den Illusionen festzuhalten, die sie von Anfang an fehlgeleitet haben. Wenn sie in ihren Memoiren beispielsweise versucht, ihr Versäumnis, Russland entschieden entgegenzutreten, zu erklären, behauptet sie erstaunlicherweise, dass „niemand weiß, ob Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hätte vermieden werden können, wenn die Pandemie nicht stattgefunden hätte und es persönliche statt virtuelle Treffen gegeben hätte.“
Seit 1945 war die wichtigste Eigenschaft deutscher politischer Oberhäupter, vernünftig und vielleicht ein wenig langweilig zu sein. Konrad Adenauer, der erste Bundeskanzler nach dem Krieg, gewann eine Reihe von Wahlen unter dem Slogan „Keine Experimente.“ Von Helmut Kohl über Angela Merkel bis hin zu Olaf Scholz traten die meisten ihrer Nachfolger in seine Fußstapfen. Sie waren anständig, kompetent und größtenteils völlig fantasielos.
Viele Jahrzehnte lang hat das dem Land gute Dienste geleistet. Doch alles Gute muss irgendwann ein Ende finden. Und im Moment steht das deutsche Nachkriegsmodell an einem Wendepunkt. Was die deutsche politische und intellektuelle Klasse jetzt braucht, ist Mut und Vorstellungskraft. Beide sind im Lande bisweilen alarmierend selten aufzufinden.
Eine Version dieses Artikels erschien ursprünglich in der Free Press.
Eine Analyse, die voll in die 'zehn' trifft.