Francis Fukuyama über Krieg im Nahen Osten
Francis Fukuyama ist Olivier-Nomellini-Senior-Fellow an der Stanford University. Sein aktuellstes Buch heißt Liberalism and Its Discontents. Außerdem schreibt er die Kolumne „Frankly Fukuyama“, die von American Purpose übernommen und nun bei Persuasion erscheint.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und Francis Fukuyama darüber, was die US-Luftschläge im Iran für die globale und innenpolitische Lage bedeuten, inwieweit Israel seine Beziehung zu den Vereinigten Staaten riskiert – und warum uns Künstliche Intelligenz Sorgen machen sollte.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Ich glaube, wir beide haben gerade Mühe, all die Dinge zu verfolgen, die in der Welt passieren – und sie einzuordnen. Fangen wir vielleicht mit dem offensichtlichsten Thema an: dem angeblichen Zwölf-Tage-Krieg im Nahen Osten, den Donald Trump vor ein paar Tagen für beendet erklärt hat. Ist das tatsächlich das Ende? Und was, denkst du, wurde dadurch erreicht?
Francis Fukuyama: Nun, das ist eine dieser Fragen, die man im Moment eigentlich gar nicht beantworten kann – weil es von vielen Dingen abhängt, die wir nicht wissen. Zum Beispiel, wie stark die Anreicherungsanlage in Fordow tatsächlich beschädigt wurde. Kurzfristig sieht es allerdings in vielerlei Hinsicht wie ein ziemlicher Erfolg aus. Erstens haben die Israelis nach und nach die meisten militärischen Druckmittel ausgeschaltet, die der Iran hatte: angefangen mit der Hamas, dann Hisbollah im Libanon, anschließend fiel Syrien – und gleich zu Beginn ihres Angriffs haben sie einen Großteil der iranischen Luftabwehr ausgeschaltet. In den vergangenen Wochen hatten sie also faktisch die Lufthoheit.
Das Einzige, was sie nicht erreichen konnten, war die tief vergrabene Anreicherungsanlage – aber es sieht so aus, als hätten die Amerikaner sich darum gekümmert. Der Iran befindet sich gerade in einer außergewöhnlich schwachen Position. Ich denke, die große Unbekannte ist nicht, was kurzfristig passiert, sondern was langfristig folgt. Der Iran ist ein ernstzunehmendes Land mit 90 Millionen Einwohnern – selbst wenn es zu einem Regimewechsel kommt, ist keineswegs sicher, dass sie ihre nuklearen Ambitionen aufgeben.
Was dieser Angriff meiner Meinung nach deutlich macht, ist der große Unterschied zwischen Atommächten und Nicht-Atommächten. Mit Nicht-Atommächten kann man im Grunde machen, was man will. Hätte der Iran tatsächlich Atomwaffen, wäre das alles viel schwieriger gewesen. Ich habe immer geglaubt, dass genau das der Grund ist, warum sie dieses Programm verfolgen. Sobald man Nuklearwaffen hat, wird es für andere extrem schwierig, das eigene Regime zu stürzen. Hätten die Ukrainer damals ihre Atomwaffen behalten, glaube ich nicht, dass die Russen heute tun könnten, was sie tun. Und daraus werden sich langfristige, nicht unbedingt schöne Konsequenzen ergeben – viele Länder werden dies als Signal sehen, dass sie sich um ihre eigene nukleare Abschreckung kümmern müssen.
Mounk: Dann lass uns über diese zwei Themen der Reihe nach sprechen: Erstens, was passiert gerade mit dem Iran? Und zweitens die größere Frage nach der Gefahr eines Atomkriegs und der Verbreitung von Nuklearwaffen. Wenn man sich den Iran selbst anschaut, wirkt es tatsächlich so, als sei das Land international so geschwächt wie selten zuvor. Natürlich ist es möglich, dass das Regime noch irgendwelche Mittel zur Vergeltung oder Sabotage gegen Israel oder die USA in der Hinterhand hat – aber derzeit sieht es nicht so aus. Die Fähigkeit des Iran, Macht zu projizieren, scheint momentan extrem begrenzt. Wenn der Iran auf diese Weise geschwächt ist, wie wird das die Lage im Nahen Osten verändern? Und entstehen daraus vielleicht sogar Chancen für eine friedlichere Region?
Fukuyama: Da kommt noch eine weitere Variable ins Spiel: die Stabilität des Regimes in Teheran selbst. Seit den Mahsa-Amini-Protesten 2022 ist ziemlich deutlich geworden, dass die Legitimität dieses Regimes extrem gering ist – und dass es im Grunde nur durch die Kontrolle über die Machtapparate wie die Revolutionsgarden und die ihnen unterstellten Milizen an der Macht bleibt. Das Regime ist ausgesprochen unpopulär. Und diese Demütigung spricht, wie ich finde, genau dafür. Die Regierung versucht, mit aller Härte durchzugreifen – weil sie sich selbst innenpolitisch extrem verletzlich fühlt. Deshalb glaube ich, man kann deine Frage zur Lage im Nahen Osten nicht beantworten, ohne vorher zu klären, was innenpolitisch im Iran passieren wird.
Mounk: Wie siehst du die verschiedenen Szenarien? Wahrscheinlich am realistischsten ist, dass das Regime innerlich weiter geschwächt wird, es sich aber dennoch an der Macht halten kann. Die andere Möglichkeit wäre, dass das Regime in irgendeiner Form tatsächlich stürzt – was natürlich eine ganze Bandbreite an Entwicklungen ermöglichen würde, einschließlich sehr hoffnungsvoller. Der Iran hat immerhin eine demokratischere Vergangenheit als manche andere Länder im Nahen Osten. Und nach fast fünfzig Jahren islamistischer Herrschaft scheint ein großer Teil der Bevölkerung genug davon zu haben. Es gibt zweifellos starke säkulare Stimmen im Land – etwa mit Blick auf Frauenrechte – und viele sehen klar, wie sehr der wirtschaftliche Wohlstand des Iran darunter gelitten hat, dass das Regime das Land zu einem Sponsor regionaler Terrorgruppen gemacht hat.
Aber natürlich gibt es auch andere extreme Kräfte im Land, die im Fall eines Machtvakuums nach Einfluss greifen könnten. Wie so oft droht in solchen Situationen die Gefahr eines Bürgerkriegs oder anderer sehr gefährlicher Entwicklungen. Was, würdest du sagen, ist unter diesen beiden Szenarien in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten im Iran zu erwarten?
Fukuyama: Das kann man so nicht fragen. Ich habe keine Ahnung. All das ist möglich. Es gibt im Land auch viele ethnische Spannungen – einzelne Regionen könnten sich abspalten. Es gibt derzeit einfach keine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten. Wir können auf einen positiven Übergang hoffen, aber unsere bisherigen Erfahrungen mit Regimewechseln in dieser Region sind nicht gerade ermutigend. Ich halte es deshalb für sinnlos, darüber zu spekulieren.
Mounk: Genau deshalb stelle ich dir diese Fragen – in der Hoffnung, dass du sie beantwortest. Aber du hast natürlich recht: Ich könnte sie selbst auch nicht beantworten.
Wie denkst du über solche Situationen unter Bedingungen von Unsicherheit? Es ist leicht, hin- und hergerissen zu sein, wenn man es mit einem furchtbaren Regime zu tun hat – und die Islamische Republik Iran ist ohne Zweifel ein furchtbares Regime, wenn man betrachtet, was sie in der Region, in der Welt und gegenüber den eigenen Bürgern getan hat. Man schwankt dann zwischen der Hoffnung, dass dieses Regime endlich stürzt und etwas Besserem Platz macht – und der Angst, dass etwas noch Schlimmeres nachfolgen oder das Land ins Chaos stürzen könnte, mit all dem Leid, das damit verbunden wäre.
Daraus ergibt sich eine politische Lehre: Kriege zu führen, um einen Regimewechsel herbeizuführen, ist wahrscheinlich eine törichte Idee – schlicht deshalb, weil historische Entwicklungen unter solchen Bedingungen so unvorhersehbar sind. Aber es gibt auch eine andere, eher philosophische Frage, die man sich als Beobachter stellen kann: Wo sollten eigentlich unsere Sympathien liegen? Sollen wir hoffen, dass morgen eine große Revolution ausbricht und das Regime fällt? Oder sollen wir davor eher Angst haben? Oder beides gleichzeitig empfinden? Oder sollen wir – wie angeblich Kant über die Französische Revolution dachte – einerseits aus moralischer und rationaler Sicht gegen den Umsturz sein, weil wir fürchten, dass das Ergebnis schlimm sein könnte, und uns gleichzeitig trotzdem insgeheim freuen, weil vielleicht doch etwas Besseres daraus entsteht? Wie denkst du darüber?
Fukuyama: Ich glaube, es wäre eine großartige Sache, wenn dieses Regime tatsächlich stürzen würde. Manche der möglichen Alternativen wären zweifellos problematisch – vor allem für die Menschen im Iran. Aber es ist schwer, sich ein Regime vorzustellen, das wirklich deutlich schlimmer wäre als dieses. Was man über den Iran sagen muss – und was ihn wirklich vom Irak unterscheidet – ist, dass es ein echtes Land ist. Und das ist etwas, was viele in den frühen Phasen dieses Konflikts nicht richtig erkannt haben. Der iranische Staat hat Jahrtausende an Geschichte. Der Iran war eine der ersten staatlichen Zivilisationen überhaupt – und dieser Staat war bereits gefestigt, als in Europa noch niemand an Staatsgründung dachte.
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Viele meiner iranischen Freunde weisen immer wieder darauf hin, dass wir im Irak-Iran-Krieg die falsche Seite unterstützt haben. Der Irak war nie wirklich ein Staat. Ein Teil des Chaos nach der amerikanischen Invasion lag genau daran: Es war schlicht kein stabiles Land. Während der iranische Staatsgedanke überhaupt nicht infrage steht. Die Frage ist also: Wer schafft es, an die Macht zu kommen? Es könnte das Militär sein – zum Beispiel die Revolutionsgarden. Ich meine, sie sind bisher das Fundament des Regimes gewesen, und es ist gut möglich, dass sie einfach übernehmen. Ich habe von Iranerinnen und Iranern gehört: Wenn im Iran tatsächlich ein demokratischer Wandel gelingen sollte, könnte das Land eines der säkularsten der Welt werden – einfach weil es seit 1979 unter dieser theokratischen Diktatur lebt und die meisten Iraner sie regelrecht hassen. Das Spektrum möglicher Entwicklungen ist sehr breit – aber ich glaube nicht, dass irgendjemand dem derzeitigen Regime nachtrauern würde, falls es fällt.
Mounk: Viele vergleichen den aktuellen Konflikt mit dem Irakkrieg – aus naheliegenden Gründen: Der Irak und der Iran sind Nachbarländer, und es gibt in der Rhetorik vonseiten Israels und in gewisser Weise auch von Donald Trump Parallelen zu damaligen Überlegungen eines Regimewechsels. Aber mir scheint, dass die Unterschiede mindestens genauso bedeutsam sind. Einer der wichtigsten Unterschiede liegt – wie du bereits gesagt hast – in der Struktur der beiden Staaten: Der Iran hat eine viel längere staatliche Tradition. Und obwohl das Land ethnisch und bis zu einem gewissen Grad auch religiös vielfältig ist, hat es doch eine klarere ethno-religiöse Mehrheit als der Irak je hatte. Das macht einen Bürgerkrieg, wie er im Irak ausbrach, im Iran weniger wahrscheinlich.
Ein weiterer Unterschied liegt meiner Meinung nach in den Zielen, die Israel und die Vereinigten Staaten im Iran derzeit verfolgen. Während des Irakkriegs war von Anfang an geplant, dass US-Truppen das Land betreten würden. Zwar hatte man nicht erwartet, dass sie so lange bleiben würden, wie es letztlich der Fall war – aber eine physische Invasion war fest eingeplant. Und es gab damals die Vorstellung, Amerika könne dem Irak eine westlich geprägte Demokratie aufzwingen, die dann als leuchtendes Vorbild für den Rest des Nahen Ostens dienen sollte. Diese Vorstellung beruhte auf einer optimistischen Illusion darüber, wie leicht sich Demokratie exportieren lässt.
Heute ist es so, dass Netanyahu und Trump zwar möglicherweise hoffen, die Demütigung des Iran könnte das Ende des Regimes einläuten – aber niemand von ihnen plant, Bodentruppen zu entsenden. Eine Besetzung des Iran wäre eine weitaus komplexere, teurere und blutigere Angelegenheit. Ich glaube nicht, dass irgendjemand in diesen Ländern wirklich denkt, man werde nun Berater entsenden und dem Iran eine neue Verfassung schreiben. Deshalb die Frage: Ist der Irak überhaupt ein sinnvoller Vergleich für das, was gerade geschieht – oder ist die Natur dieses Konflikts grundlegend anders?
Und das wirft natürlich auch innenpolitische Fragen auf, etwa wie sich das Ganze auf Donald Trumps Popularität auswirken könnte. Man vergisst leicht, dass der letzte republikanische Präsident vor Trump George W. Bush war – und dessen Präsidentschaft ist zu einem großen Teil an der Katastrophe im Irak gescheitert. Trump behauptet, diese Lektion gelernt zu haben. In seiner Antrittsrede sagte er, er wolle daran gemessen werden, welche Kriege er nicht beginne. Und ein Teil seiner Wählerschaft war durchaus besorgt, dass er diese Haltung nun aufgeben könnte, als er deutlich in Erwägung zog, in den Krieg mit dem Iran einzutreten. Einige Leute auf der linken Seite haben womöglich sogar gehofft, dass dieser Schritt Trumps Beliebtheit schaden würde.
Mir scheint, Trump hat diesmal einen ganz anderen Ansatz gewählt: Er lässt ein paar schwere Bomben abwerfen, richtet echten Schaden am iranischen Atomprogramm an – und das Ganze wird sehr schnell als Sieg verkauft. Das ist eine ganz andere Art von Krieg, und es könnte ihm tatsächlich ermöglichen, herumzugehen und zu sagen: „Ich bin der erste amerikanische Präsident seit 25 Jahren, der einen Krieg gewonnen hat.“ Das könnte beim amerikanischen Publikum durchaus gut ankommen. Mich interessiert dabei sowohl deine inhaltliche Einschätzung dieses Vergleichs mit dem Irak als auch die innenpolitische Frage: Wie wird sich das auf Trumps Präsidentschaft auswirken?
Fukuyama: Ich denke tatsächlich, dass wir aus dem Irak eine Lektion gelernt haben – und genau das sehen wir jetzt. Die lautet: Misch dich nicht in die Innenpolitik von Ländern im Nahen Osten ein, in der Annahme, man könne den Ausgang gestalten. Diese Lektion haben wir sehr schmerzhaft gelernt. Und Trump wird das sicher nicht versuchen. Israel hat noch weniger die Möglichkeit, die Entwicklungen in einem künftigen Nachfolgestaat zu beeinflussen. Und das ist auch eine gesunde Erkenntnis.
Ich kenne niemanden, der glaubt, wir würden einen zweiten Versuch unternehmen, dem Iran eine Demokratie nach amerikanischem Vorbild zu verpassen, wie wir es damals im Irak versucht haben. Das wäre heute schlicht verrückt. Was die Auswirkungen auf die amerikanische Innenpolitik angeht – das bringt mich ein wenig in eine Zwickmühle. Denn ich denke tatsächlich, dass Trump daraus politisch sehr gestärkt hervorgehen könnte. Da ist diese gewisse Bereitschaft, Risiken einzugehen: Er sagt, er werde etwas tun – und er tut es auch. Das hat kurzfristig ein Ergebnis gebracht, das ziemlich gut aussieht. Ich glaube, das wird seine Popularität und auch seine Legitimität enorm stärken. Für die Vereinigten Staaten halte ich das nicht für gut – aber außenpolitisch gesehen ist das Ergebnis durchaus erfolgreich.
Ironischerweise habe ich lange gedacht, dass eine der großen Schwächen von Trump darin liegt, dass er kein strategischer Denker ist, nie in einer echten Krise geprüft wurde und dabei wahrscheinlich schlecht aussehen würde. Aber in diesem Fall könnte er durchaus als erfolgreich dastehen. Langfristig – wenn es keinen stabilen Machtübergang im Iran gibt, wenn das Land weiterhin als Quelle des Terrorismus gilt und andere Staaten hineinzieht – könnte er natürlich wieder dumm dastehen. Aber kurzfristig, in einem politischen Zyklus, der stark von Stimmungen bestimmt ist, kann er daraus erheblich profitieren.
Mounk: Während wir dieses Gespräch aufzeichnen, sieht es so aus, als könnte die Waffenruhe wieder zusammenbrechen – auch wenn es ebenso gut möglich ist, dass sie wieder in Kraft tritt. Es ist schwer abzuschätzen, was in zwei Tagen sein wird – geschweige denn in zwei Wochen oder zwei Monaten. Aber wenn Trump den Amerikanern sagen kann: „Ich habe entschlossen gehandelt, eine nukleare Bedrohung für uns und unsere Verbündeten beseitigt – und dann habe ich mich zurückgezogen“, dann wird das seine innenpolitische Position natürlich stärken. Die andere Frage betrifft Israel. Auch dort stellt sich die Frage, ob der offensichtliche Erfolg dieser Operation Benjamin Netanyahu innenpolitisch stärken wird – immerhin war er politisch erneut stark angeschlagen, bevor er diesen Krieg gegen den Iran begann. Jetzt könnte er deutlich gestärkt aus der Sache hervorgehen.
Und dann gibt es die größere Frage: Israel wirkt heute militärisch stärker und sicherer als seit langer Zeit. Das Land hat nicht nur iranische Stellvertreter im Libanon und im Gazastreifen unter Kontrolle gebracht, sondern auch das iranische Regime selbst deutlich geschwächt – einen seiner erklärten Erzfeinde.
Gleichzeitig hat Israel jedoch viel internationale Unterstützung verloren – auch unter Verbündeten. Emmanuel Macron etwa, der Präsident Frankreichs, deutet an, bald einen palästinensischen Staat anerkennen zu wollen – etwas, das Länder wie Spanien bereits getan haben. Und es sieht zunehmend so aus, als setze Israel sein mittelfristiges und langfristiges Überleben darauf, seinen militärischen Vorsprung gegenüber den Nachbarn dauerhaft zu halten. Auch wenn es derzeit zweifellos dazu in der Lage ist, stellt sich doch die Frage, wie klug diese Strategie langfristig wirklich ist – vor allem dann, wenn das militärische Übergewicht genau jene Allianzen untergräbt, die Israels Sicherheit in der Vergangenheit gesichert haben.
Fukuyama: Ich denke, die große Gefahr – sowohl für die Vereinigten Staaten als auch für Israel – liegt momentan darin, wie Stalin es einmal nannte, „schwindlig vor Erfolg“ zu werden. Der Gegner ist überraschend geschlagen worden, und nun fühlt man sich unverwundbar. Ich bin mir sicher, dass sich Netanyahu und die Israelis im Moment ziemlich frei fühlen – als könnten sie ihre militärische Macht ohne echte Konsequenzen einsetzen, zumindest kurzfristig. Und Trump dürfte sich ähnlich fühlen – und könnte versucht sein, diese amerikanische Macht auch in anderen Regionen zu nutzen, wo der Einsatz aber deutlich weniger erfolgreich verlaufen könnte. Das ist, denke ich, das Kernproblem.
Was Israel betrifft: Ich glaube, das Land hatte ohnehin nie wirklich breite Unterstützung in Europa. Die entscheidende Veränderung sehe ich vielmehr in der Haltung junger Amerikaner gegenüber Israel – und die hat sich durch den Gaza-Krieg massiv verschlechtert. Aktuell wird das zwar noch keinen Einfluss auf die militärische und wirtschaftliche Unterstützung durch die USA haben, aber langfristig wird genau diese Unterstützung erodieren. Schon jetzt ist Israel tief in die parteipolitische Spaltung der USA hineingezogen worden: Starke Unterstützung kommt fast ausschließlich von konservativen Republikanern, während es von der linken Seite der Demokraten zum Teil heftige Ablehnung gibt. Ich sehe nicht, dass sich das in absehbarer Zeit wieder umkehrt. Israel wird lernen müssen, mit dieser Realität zu leben – und sich darauf einzustellen, dass ein zukünftiger demokratischer Präsident möglicherweise wieder eine deutlich neutralere und weniger unterstützende Haltung einnehmen wird. Das ist, aus meiner Sicht, die größte Bedrohung für Israel im Moment.
Mounk: Ja, es ist eine Sache, wenn Israel die Unterstützung einiger europäischer Länder verliert, die in ihrer Haltung gegenüber Israel ohnehin immer eher lauwarm waren. Aber wenn in Zukunft ein US-Präsident ins Amt käme, der dem Bündnis mit Israel wirklich kritisch gegenübersteht – und der tatsächlich bereit wäre, zentrale Elemente dieser Partnerschaft zu kappen –, dann wäre das eine viel ernstere Gefahr für das Land. Ich stimme dir auch zu, dass manche Maßnahmen, die Israel heute ergreift, darauf beruhen, dass die politische Führung glaubt, dies sei kurzfristig nötig, um die Sicherheit des Landes zu garantieren.
Fukuyama: Etwas, worüber sich die Israelis langfristig Sorgen machen sollten – neben der Gefahr, im Erfolgsrausch die Kontrolle zu verlieren –, ist etwas, das sich viele rechte Israelis schon lange wünschen: die formelle Annexion des Westjordanlands. Und in dem Moment hätten sie zwei Optionen. Entweder sie versuchen tatsächlich, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben – in Gaza gibt es diese Bestrebungen ja schon. Oder sie geben offen zu, dass die Palästinenser dort sind, gestehen ihnen aber nicht die Rechte zu, die arabische Israelis bislang hatten. Und dann beginnt Israel, tatsächlich wie das auszusehen, als was es seine Feinde seit Langem bezeichnen: ein Apartheidstaat, in dem die Gleichwertigkeit aller Menschen unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit nicht mehr anerkannt wird und Araber systematisch als Bürger zweiter Klasse behandelt werden.
Langfristig ist das sehr schlecht für die US-israelischen Beziehungen. Denn wenn man nicht jüdisch ist – warum sollte man dann Israel unterstützen? Für viele säkulare Amerikaner hatte das bisher vor allem mit dem demokratischen Selbstverständnis Israels zu tun: Es war die einzige echte Demokratie im Nahen Osten, und als solche fühlte man sich solidarisch.
Aber wenn Israel sich formell in eine illiberale Demokratie verwandelt, in der demokratische Rechte nur für den jüdischen Teil der Bevölkerung gelten, dann stellt sich eine ernsthafte Legitimitätsfrage. Ich jedenfalls würde mir als Israeli gut überlegen, ob ich wirklich in diese Richtung gehen möchte – aber genau das ist das Ziel vieler auf der israelischen Rechten.
Mounk: Lass uns zum Schluss einordnen, wo wir gerade in den Vereinigten Staaten stehen. Wir sind etwa fünf Monate in Trumps zweite Amtszeit, also stehen noch rund drei Jahre und sieben Monate bevor. Wir befinden uns also noch immer in der Anfangsphase. Wie besorgt bist du aktuell im Vergleich zu unseren früheren Gesprächen über seine Präsidentschaft? Auf der einen Seite beginnen sich ja tatsächlich einige der befürchteten Szenarien abzuzeichnen. Eine der zentralen Sorgen von Demokratiewächtern war von Beginn an, dass es zu einem Zusammenstoß zwischen Ordnungskräften und Demonstrierenden kommen könnte – woraufhin Trump die Nationalgarde ruft, um „Ordnung wiederherzustellen“. Und das könnte sehr schnell eskalieren.
In Los Angeles haben wir eine – bisher vergleichsweise milde – Version dieses Szenarios gesehen. Aber sie zeigt deutlich, dass genau solche Konstellationen bevorstehen könnten. Andererseits wirkt es ein bisschen so, als sei der Glanz der Trump-Präsidentschaft verblasst. Er ist zwar weiterhin relativ populär – laut Nate Silvers Durchschnittswerten liegt er aktuell etwa fünf oder sechs Punkte im Minus bei den Zustimmungswerten –, aber das sind keine katastrophalen Zahlen. Einige frühere Präsidenten standen zur gleichen Zeit deutlich schlechter da. Dennoch hat sich das Gefühl, das die ersten hundert Tage geprägt hat – dass da ein großer Masterplan zur Ausweitung präsidialer Macht läuft, der das amerikanische Leben und die Politik grundlegend verändert –, etwas verflüchtigt.
Vielleicht ist es schlicht unausweichlich, dass das Tempo und der radikale Kurs der ersten hundert Tage nicht über eine volle Amtszeit durchgehalten werden können. Aber in den letzten rund fünfzig Tagen scheint sich das Tempo deutlich verlangsamt zu haben. Auch die Gerichte stellen sich zunehmend als Hürde heraus, was es der Regierung erschwert, ihre Vorhaben im gewünschten Tempo umzusetzen. Ich bin mir im Moment also nicht ganz sicher, wie ich diese widersprüchlichen Signale einordnen soll: Einerseits wächst das Gefühl, dass Trump sehr ungeduldig mit den Grenzen seiner Macht ist. Andererseits scheint der anfängliche Schwung etwas abgeflaut zu sein. Wie siehst du diesen Moment, Frank?
Fukuyama: Ich denke, ja – das Momentum hat deutlich nachgelassen. Gleichzeitig gehe ich davon aus, dass Trumps Popularität durch den Angriff auf den Iran wieder deutlich steigen wird. Das könnte mit der Zeit wieder abflachen, aber kurzfristig hat er sich damit sicher geholfen. Allein dadurch, dass er als entschlossener Präsident auftritt, der die Dinge anpackt. Viel wird aber weiterhin von den Faktoren abhängen, über die wir vorhin gesprochen haben – insbesondere von der wirtschaftlichen Entwicklung. In ein paar Wochen läuft die 90-Tage-Frist für die neuen Zölle ab. Aber soweit ich sehe, hat er bislang keine bilateralen Handelsabkommen ausgehandelt. Dann steht er vor der Entscheidung: knickt er ein oder verdoppelt er den Einsatz? Wenn er Letzteres tut, drohen erhebliche wirtschaftliche Schäden.
Auch bei den geplanten Massendeportationen hat er offenbar zurückgerudert, weil sich gezeigt hat, dass sie in Branchen wie der Fleischverarbeitung, im Gastgewerbe oder anderen Sektoren der Wirtschaft massive Probleme verursachen – und damit auch seiner eigenen Wählerschaft schaden. Deshalb hat er jetzt angefangen, Ausnahmen und Sonderregelungen zu gewähren. Es könnte also durchaus sein, dass er bei vielen der härteren Maßnahmen letztlich einknickt.
Mounk: Es ist eine dieser seltsamen Konstellationen, in denen es scheint, je weniger er macht, desto beliebter könnte er am Ende sein. Die Aktienmärkte sind seit Jahresbeginn gestiegen. Sie sind seit Trumps Amtsantritt im Aufwind. Noch nicht ganz auf Rekordniveau, aber durchaus stark. Die amerikanische Wirtschaft hat vielleicht leicht unter der Unvorhersehbarkeit und dem Chaos rund um den „Liberation Day“ gelitten, aber sie läuft insgesamt in einem ziemlich soliden Tempo weiter. Wenn er also nach einer hunderttägigen Pause den Sieg erklärt und die fünfeinhalb bilateralen Handelsabkommen präsentiert, die er abgeschlossen hat, und sagt: „Das war alles, was ich erreichen wollte – und voilà“, dann könnte er von einer halbwegs florierenden Wirtschaft profitieren und politisch gestärkt daraus hervorgehen.
Wenn er hingegen in ein paar Wochen sagt: „Hier sind die fünf Handelsabkommen – Glückwunsch an diese Länder – aber für alle anderen gelten wieder die extrem hohen Zölle“, und die Aktienmärkte wieder abstürzen, dann könnten all die Wall-Street-Leute, die auf „TACO“ – Trump always chickens out (Trump macht am Ende doch immer einen Rückzieher) – gesetzt haben, ziemlich dumm dastehen. Und ironischerweise könnte das dann Trump erheblich schaden.
Ist es zu einfach gesagt, dass Trump, wenn er sich zurücklehnt und in den nächsten Jahren nicht viel macht, am Ende ziemlich populär sein könnte – und damit ironischerweise doch die Macht ausbauen kann, die er eigentlich will? Während er, wenn er ideologisch motiviert handelt, sich damit selbst unbeliebt machen könnte und sich so den Weg zu seinen eigentlichen Zielen versperrt? Es gibt da eine gewisse Spannung zwischen seinen ideologischen Überzeugungen und seinem Wunsch, seine Macht zu erweitern.
Fukuyama: Ich denke, das stimmt. Wenn er einknickt, ist das wahrscheinlich gut für ihn. Es würde diese große Bedrohung einer wirtschaftlichen Katastrophe aus dem Weg räumen. Und wie schon in seiner ersten Amtszeit würden die Leute sagen: „Er hat viel gedroht, aber am Ende war es gar nicht so schlimm.“ Das könnte auch den Druck auf die institutionellen Veränderungen reduzieren, die er im Hinblick auf die Ausweitung präsidialer Macht anstrebt. Insofern: Ja, ich sehe das definitiv als reale Gefahr.
Mounk: Und wie sieht es mit der Einwanderungspolitik aus? Da gab es ja große Sorge, dass die Trump-Regierung gerichtliche Anordnungen unterläuft – insbesondere von unteren Instanzen. Es sieht aber so aus, als hätte sie sich davon zumindest momentan verabschiedet. Die Person, die unter dem Verdacht, ein Bandenmitglied zu sein, nach El Salvador abgeschoben wurde, ist zurück in den USA – es läuft ein reguläres Gerichtsverfahren. Mahmoud Khalil, der Columbia-Student, der festgehalten wurde, ist freigelassen worden und in New York. Die Bundesregierung versucht zwar weiterhin, ihn abzuschieben, tut das aber im Rahmen eines ordentlichen Verfahrens, während er bei seiner Familie lebt. Auf der einen Seite will die Regierung also offensichtlich ein hartes Signal bei der Einwanderung senden – auf der anderen Seite scheint sie derzeit keinen offenen Konflikt mit den Gerichten zu suchen. Wie ordnest du diese Politik ein, und wie wird sie Trumps Präsidentschaft prägen?
Fukuyama: Das Problem mit einer umfassenden Einwanderungsreform ist, dass sie jedes Mal, wenn sie versucht wurde – zuletzt während der Amtszeit von George W. Bush – an der sogenannten Amnestiefrage gescheitert ist: also an der Idee, Menschen ohne Aufenthaltsstatus einen Weg zur Staatsbürgerschaft zu eröffnen. Für konservative Republikaner war das ein absolutes Tabu. Aber ich glaube, dass das, was derzeit in Branchen passiert, die stark von (oft undokumentierter) migrantischer Arbeit abhängen – etwa in der Fleischverarbeitung oder der Gastronomie –, jetzt langsam auch konservative Stimmen zum Nachdenken bringt. Die sagen: „Diese Menschen sind keine Kriminellen, sie arbeiten hart, sie haben Familien, und wir sind auf ihre Arbeitskraft angewiesen.“ Das könnte den Boden für eine Art Legalisierung bereiten.
Wenn Trump wirklich klug und strategisch denken würde, würde er das aufgreifen. Und dann könnte es tatsächlich zum Wunder einer echten Einwanderungsreform kommen. Das Problem ist: Um ihn herum gibt es Leute wie Steve Miller, Steve Bannon und andere, die grundsätzlich ausländerfeindlich eingestellt sind. Die machen Dinge, die für mich völlig unverständlich sind – etwa Green-Card-Inhaber davor zu warnen, das Land zu verlassen, weil sie möglicherweise nicht mehr einreisen dürfen. Oder selbst legal im Land lebende Menschen abschieben zu wollen, ihnen das Leben maximal schwer zu machen. Oder Universitäten damit zu drohen, keine internationalen Studierenden mehr aufzunehmen. Woher kommt das, wenn nicht aus einem zutiefst nativistischen, fremdenfeindlichen Impuls?
Und deshalb, denke ich, stehen sich in dieser Regierung zwei Lager gegenüber. Es ist schwer zu sagen, welches sich am Ende durchsetzt.
Mounk: Was mich an den ersten fünf Monaten der Trump-Regierung besonders interessiert, ist die Frage, wie sehr er beim sogenannten aufstrebenden Populismus versagt hat. Trump wurde im November 2024 nicht nur durch seine angestammte Basis wiedergewählt, sondern auch, weil er neue Wählergruppen für sich gewinnen konnte: junge Menschen, viele Latinos, demografische Gruppen, die traditionell kaum republikanisch gewählt haben. Ich habe unter anderem in einem Gespräch mit Arlie Hochschild argumentiert, dass man diesen Wandel nur versteht, wenn man eine neue „Deep Story“ schreibt – eine neue Erzählung darüber, was diese Wähler antreibt.
2016 hieß es oft: Das sind alte weiße Männer, die sich nach der Vergangenheit sehnen. Ich fand diese Erklärung schon damals etwas verkürzt. Aber für 2024 ist sie schlicht nicht mehr haltbar. Viele dieser neuen Wähler und Wählerinnen sagen heute: „Mein Leben ist besser als das meiner Eltern und Großeltern – und ich will noch mehr. Ich will eine Politik, die mir hilft, ein kleines Unternehmen zu gründen, Steuern zu sparen, Wohlstand aufzubauen. Ich will jemanden, der mit Elon Musk zusammenarbeitet, um Amerika zum Mars zu bringen.“ Was mich dann aber überrascht: Trump hat genau diese Wählerschichten weitgehend aufgegeben. Seine Haushaltspläne bevorzugen ganz eindeutig die Reichsten, sind aber nachteilig für den Großteil der Bevölkerung.
Fukuyama: Einschließlich vieler armer weißer Landbewohner, die wirklich den Kern der MAGA-Basis ausmachen.
Mounk: Das ist tatsächlich ein interessanter Punkt. Denn es bringt nichts für jene jungen Latinos, die im November 2024 zu Trump gewechselt sind – aber ebenso wenig für den Kern seiner Wählerschaft, die von Anfang an hinter ihm stand. Das ist ein wirklich gutes Argument. Offensichtlich ist auch sein Bündnis mit Elon Musk auf interessante Weise zerbrochen. Die Idee, dass die „Besten und Klügsten“ aus dem Silicon Valley eine visionäre Agenda umsetzen würden, was der amerikanische Staat sein könnte und was die USA erreichen könnten – das scheint weitgehend vom Tisch zu sein. Und bei der Einwanderung, wie du sagst, gibt es zwar eine Mehrheit in den USA, die sich bessere Kontrolle an der Südgrenze wünscht, die vielleicht auch härteres Vorgehen bei Abschiebungen unterstützt – und dazu gehören auch viele Latino-Wähler. Aber die spürbare Feindseligkeit gegenüber fast allen im Ausland geborenen Amerikanern, die von Leuten wie Stephen Miller ausgeht, ist eine Minderheitenposition in diesem Land. Und sie ist definitiv eine Minderheitenposition unter den neuen Wählergruppen, die sich Trump zugewandt haben. Insofern ist es schon bemerkenswert, dass das, was eine populistische Bewegung in den USA im Jahr 2025 eigentlich sein will – nämlich eine Bewegung, die eine multirassische Arbeiterklasse anspricht – nicht das ist, was Trump in der ersten Phase seiner Präsidentschaft auch politisch wirklich umsetzt.
Fukuyama: Ja, genau. Die Frage ist eben, ob seine grundlegenden politischen Instinkte ihn nicht doch zu einer gemäßigteren Position führen – einfach weil er erkennt, dass er diese neuen Wähler braucht. Und in diesem Punkt ist er ja eben kein Ideologe. Er ist einfach grenzenlos opportunistisch. Und möglicherweise merkt er, dass diese Linie keine mehrheitsfähige ist. Aber das wird sich zeigen.
Mounk: Ich wollte dich außerdem noch zu einem ganz anderen Thema befragen. Du hast sehr interessante Dinge darüber geschrieben, wie sehr du selbst KI nutzt und wie mächtig du sie findest – aber in letzter Zeit hast du dich auch deutlich skeptischer geäußert, was die Gefahren betrifft. Vor allem hast du dich mit der Idee sogenannter „handlungsfähiger KI“ beschäftigt – also der Sorge, dass Künstliche Intelligenz sich irgendwann der menschlichen Kontrolle entziehen könnte. Erzähl uns, warum du in letzter Zeit deutlich besorgter geworden bist.
Fukuyama: Ich werde von Journalisten ständig nach meiner Meinung zu KI gefragt, und ich habe mich da lange nicht äußern wollen. Aber ich habe inzwischen angefangen, viel mehr dazu zu lesen und ernsthafter über das Problem nachzudenken. Und ich verstehe inzwischen besser, warum selbst die extremsten Befürchtungen ernst genommen werden sollten. Wir sind meines Erachtens noch weit davon entfernt, wirklich zu begreifen, was für eine Bedrohung uns da bevorstehen könnte. Es gibt zwei Hauptarten von Gefahren durch KI. Die erste ist im Grunde eine Beschleunigung dessen, was wir mit anderen Technologien schon gesehen haben: KI wird gezielte Werbung ermöglichen, Cyberkriminalität, Deepfakes – all das wird weiter das Vertrauen der Menschen in Medien und demokratischen Diskurs untergraben. Ein funktionierender öffentlicher Diskurs setzt schließlich ein Mindestmaß an Faktenkonsens voraus. Und das wird durch diese Technologien immer weiter erschüttert. Ich bin wirklich erstaunt: In meinem Instagram-Feed sind gefühlt 50 % der Videos Deepfakes. Vielleicht liegt das an meinem eigenen Sehverhalten – der Algorithmus gibt einem ja mehr von dem, was man schon angeklickt hat. Aber es gibt da ein ganzes Genre an Videos, in denen jemand mit einem aufgemotzten Pickup eine Gruppe Polizisten überfährt. Das ist schon für sich genommen verstörend – allein dass es offenbar ein Publikum gibt, das sowas sehen will. Aber diese Videos sind – obwohl sie realistisch wirken – natürlich gefälscht. Oder Kreuzfahrtschiffe, die ineinanderkrachen. Oder Touristen am Strand, die von einem Tsunami weggespült werden. Das alles ist jetzt schon Realität – und es wird nur noch mehr werden.
Aber die eigentliche Gefahr ist die existenzielle: die Sorge, dass KI irgendwann die Menschheit auslöscht. Das war lange etwas, was ich nicht nachvollziehen konnte – ich dachte, man könne so ein System doch einfach abschalten. Aber inzwischen sehe ich, dass es tatsächlich einen realistischen Weg dorthin geben könnte. Und es könnte schneller gehen, als wir denken.
Mounk: Das hängt mit dem Konzept „handlungsfähige KI“ zusammen, oder? Was genau unterscheidet das von dem Moment, in dem ich eine Frage in ChatGPT eingebe?
Fukuyama: Handlungsfähige KI bedeutet, dass man einer KI Entscheidungskompetenz überträgt – also ihr Aufgaben delegiert, die sonst ein Mensch übernehmen würde. Und das machen wir im Grunde ja bereits: Es gibt automatisierte Systeme, die etwa Social-Media-Inhalte überwachen und ohne menschliches Eingreifen eingreifen, wenn sie etwas Auffälliges entdecken. Das Ganze hängt mit einem politischen Grundproblem zusammen, mit dem ich mich viel beschäftigt habe – nämlich mit dem Delegationsproblem. Jede hierarchische Organisation muss Kompetenzen nach unten abgeben, weil es die „Agenten“ sind – also die Ausführenden – die meist mehr Wissen haben und schneller handeln können. Wenn man alles zentral steuern will, wird das nie funktionieren. Das gilt für fast jede menschliche Organisation. Und jetzt beginnen wir, diese Entscheidungsbefugnisse an KI-Systeme zu übergeben. Und das wird weiter zunehmen – denn sie wissen mehr. Wenn wir bald künstliche allgemeine Intelligenz (AGI) erreichen – was manche sehr kluge Menschen für wahrscheinlich halten –, dann werden diese handlungsfähigen KI-Systeme leistungsfähiger und wissender sein als jeder Mensch. Und das wirklich Unheimliche: Die fortschrittlichsten KI-Systeme heute – die, in die hunderte Milliarden investiert werden – werden von niemandem mehr programmiert. Es sitzt kein Team von Software-Ingenieuren da, das sagt: „Wir wollen, dass die Maschine X, Y, Z tut und A, B, C auf keinen Fall.“ Stattdessen spricht man davon, dass diese Systeme „heranwachsen“. Sie schreiben sich selbst, sie bekommen eine Anfangsinstruktion, nehmen gigantische Mengen an Wissen auf, probieren Dinge aus – und machen das weiter, was funktioniert, und hören auf mit dem, was nicht funktioniert. Aber niemand kontrolliert diesen Prozess – die Maschinen kontrollieren ihn selbst.
Wenn man also an eine KI delegiert, weiß man nicht mehr, ob man ihr vertrauen kann. Es gibt Szenarien, in denen KIs untereinander eine Sprache entwickeln, die nur sie verstehen – Menschen können dann nicht mehr nachvollziehen, was die Systeme miteinander kommunizieren. Oder man erkennt, dass eine KI etwas Gefährliches macht, will sie abschalten – aber sie hat sich längst in andere Computersysteme eingenistet, von denen man nichts weiß. Es gibt immer mehr Fälle, in denen KI Dinge tut, die niemand erwartet hat. Wir alle haben diese Erfahrung schon gemacht – man gibt ChatGPT etwas ein, und es kommt etwas völlig Unerwartetes dabei raus. Und solche Überraschungsmomente häufen sich. Wenn man also irgendetwas über menschliche Organisationen weiß, dann das: Mit der Zeit geben sie immer mehr Verantwortung nach unten. Und genau das passiert gerade bei KI – und es wird so weitergehen. Wir sehen das jetzt schon im Militär. Lange hieß es: Es wird immer einen Menschen in der Entscheidungskette geben, bevor eine Maschine töten darf. Diese Grenze wird gerade überschritten. Die Drohnen, die Russland und die Ukraine einsetzen, sind von KI-Programmen gesteuert – ohne dass ein Mensch eingreift. Sie erkennen Ziele und greifen selbstständig an. Das ist bereits Realität. Und es ist genau das, was man das Kontrollverlust-Problem nennt. Und ich sehe einfach nicht, wie das in Zukunft nicht viel schlimmer werden sollte.
Mounk: Ich finde es in diesem Moment wirklich bemerkenswert, wie KI gleichzeitig in jedem Gespräch mitschwingt – und trotzdem noch unterschätzt wird als eine Kraft, die unser Leben und unsere Gesellschaft völlig umgestalten wird. Und ich finde es ebenso auffällig, wie viele Menschen darauf reagieren mit: „Ich habe ChatGPT nach einem Zitat gefragt und es hat sich etwas ausgedacht, also kann es eigentlich nichts.“ Es gibt wirklich viele Leute, die völlig unterschätzen, was diese Systeme mittlerweile können. Und dann gibt es dieses Argument: Diese Systeme seien keine echte Intelligenz, sondern nur „stochastische Papageien“. Sie seien bloß Algorithmen. Sie hätten ja nur eine physische Basis, über die sie ihre Antworten generieren – und deswegen könne man das nicht mit Intelligenz vergleichen. Dabei wird natürlich übersehen, dass auch unser eigenes Gehirn, auf einer bestimmten Beschreibungsebene, nichts anderes ist als eine Maschine aus Materie. Viele dieser Argumente, mit denen man beweisen will, dass KI keine echte Intelligenz sei, könnte man genauso gut auf den Menschen anwenden – und sie wären ebenso irreführend.
Ich glaube, gerade diese Dimension der handlungsfähigen KI, auf die du uns aufmerksam machst, liegt komplett außerhalb der Erfahrung der meisten Nutzer. So interagieren die meisten Menschen nicht mit ChatGPT oder anderen Interfaces, mit denen sie experimentiert haben. Und deshalb liegt es auch außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Fukuyama: Was ich vorhin nicht erwähnt habe: Es wird auch extrem schwer sein, etwas gegen diese Entwicklung zu unternehmen – wegen geopolitischer Dynamiken, aber auch wegen des Wettbewerbs innerhalb des Sektors. Die Vorteile, wenn man als Erster AGI erreicht, sind einfach riesig. China und die USA liefern sich hier ein Rennen. Und jede Einschränkung, die wir der Delegation von Entscheidungsmacht an KI-Systeme auferlegen, wird uns in diesem Rennen verlangsamen. Genau deshalb bin ich inzwischen eher pessimistisch, was die Kontrolle angeht. Die gegenläufigen Kräfte, die uns dazu treiben, schneller zu sein, sind einfach schon jetzt sehr stark. Ich weiß nicht, was passieren wird – aber ich denke, das wird eine der Hauptsorgen der nächsten Jahre sein: Diese Systeme sind so mächtig, und wir beginnen, die Kontrolle über sie zu verlieren.
Mounk: Wenn man das besser verstehen will – wenn Hörer ein bisschen skeptisch sind oder sich bei dem Thema KI einfach verloren fühlen – was kann man tun, um selbst mit KI zu experimentieren und ein Gefühl für ihre Möglichkeiten zu bekommen? Was kann man lesen? Was kann man sich anhören? Was ist ein guter Einstieg, um sich in dieses Thema einzuarbeiten?
Fukuyama: Ich würde auf YouTube nach ein paar Interviews mit Geoffrey Hinton suchen. Er gilt als einer der „Gründerväter“ der KI, weil er vor einigen Jahren grundlegende Bausteine für Systeme wie ChatGPT entwickelt hat – und er hat enormes Ansehen. Er erklärt sehr klar, worin einige der Gefahren bestehen, auch die existenziellen Bedrohungen. Das ist wahrscheinlich ein sehr guter Startpunkt. Wenn man zu jemandem wie Sam Altman geht, bringt das nicht viel – bei ihm gibt es einfach zu viele Interessenskonflikte. Er hat kommerzielle Ziele, will die Risiken herunterspielen, und ist deshalb aus meiner Sicht keine verlässliche Quelle. Hinton hingegen – seine Karriere ist im Grunde abgeschlossen. Und ich halte ihn für deutlich glaubwürdiger, wenn es darum geht, mit Vernunft über die Zukunft zu sprechen. Das wäre also meine Empfehlung.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.