George Packer über liberale Werte in autoritären Zeiten
Yascha Mounk und George Packer sprechen über Autokratie in Literatur und Wirklichkeit.
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George Packer ist preisgekrönter Autor und Redakteur bei The Atlantic. Sein jüngstes Buch trägt den Titel The Emergency.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und George Packer über Autoritarismus in der Literatur, darüber, wie sich humanistische Werte in moralisch komplexen Zeiten leben lassen – und wie die Demokraten Donald Trump besiegen könnten.
Hinweis: Dieses Gespräch wurde am 21. Oktober 2025 aufgezeichnet.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Ich lese dich immer sehr gern, aber ich muss gestehen, dass ich bisher nie die Gelegenheit hatte, in dein früheres Werk, die Romane aus den 1990er-Jahren, hineinzuschauen. Es war mir deshalb eine besondere Freude, zur Vorbereitung auf dieses Gespräch endlich ein Buch zu lesen, über das wir schon lange gesprochen haben und auf das ich sehr gespannt war. Nun erscheint es, und ich finde, es ist wirklich schön, bewegend, klug, manchmal ärgerlich – und schlicht großartig.
Es ist natürlich ein faszinierendes Stück Literatur, aber zugleich auch eine Parabel auf diesen politischen Moment. Was ist es an der Entwicklung Amerikas in den vergangenen fünf oder zehn Jahren, das du in Form einer solchen Parabel festhalten wolltest? Was beunruhigt dich an dieser politischen Gegenwart am meisten – und warum war für dich gerade die Fiktion das richtige Mittel, um sie einzufangen?
George Packer: Ich habe versucht, das seit mehr als zehn Jahren – vielleicht sogar seit fünfundzwanzig – im Journalismus einzufangen, indem ich unseren scheinbar unaufhaltsamen Niedergang aufzeichne. Aber irgendwann stieß ich dabei an Grenzen. Journalismus wird immer einen großen Platz in meiner Arbeit haben – und in dem, was unser Land braucht –, doch ich merkte, dass ich mich zu wiederholen begann, ohne wirklich tiefer vorzudringen. Nicht unter die Oberfläche, sondern unter die zweite oder dritte Schicht – dahin, wo es wirklich wehtut. Es gab Erfahrungen, die ich in der Sachliteratur einfach nicht vermitteln konnte: das Gefühl, in einem Amerika zu leben, das sich in einer tiefen Krise befindet; das Gefühl, Elternteil in einer solchen Zeit zu sein; Teil einer Gesellschaft, die sich selbst zu zerreißen scheint.
Über manches davon habe ich zwar in Essays geschrieben, aber es blieb eine Grenze, wie weit ich gehen konnte. Ich wollte dieses Lebensgefühl so tief wie möglich erforschen – und dafür musste ich zur Fiktion zurückkehren. Auch wenn die Fiktion nicht immer gut zu mir war – diese zwei Romane aus den 1990ern kennen deine Hörer sicher nicht, kaum jemand kennt sie; das war einer der Gründe, warum ich damals zum Journalismus gewechselt bin –, bin ich jetzt dorthin zurückgekehrt, weil wir, glaube ich, Vorstellungskraft brauchen, um die Wirklichkeit zu verstehen. Besonders eine Wirklichkeit, die so unwirklich erscheint wie die, in der wir heute leben.
Ich wollte aber nicht einfach ein „realistisches“ Buch schreiben, sondern etwas, das über den Realismus hinausgeht. The Emergency steht deshalb in der Tradition jener Werke, die ich selbst am meisten liebe: 1984 von George Orwell, Warten auf die Barbaren von J. M. Coetzee, Die Pest von Albert Camus, Der Report der Magd von Margaret Atwood. Diese Bücher werden oft als dystopisch oder allegorisch bezeichnet – sie versuchen, das Herz der Gegenwart zu erfassen, indem sie sich von ihr entfernen: keine bekannten Namen, keine aktuellen Schlagzeilen, keine konkreten Ereignisse.
Gerade dadurch kann man der Wahrheit näherkommen. Man räumt das Feld frei – für die Emotion, für die Idee in ihrer reinsten Form –, weil man nicht durch den journalistischen Blick auf die Gegenwart abgelenkt wird. Ich wollte also ein Buch schreiben, das wie diese Werke funktioniert, die ich so liebe – und habe es mit The Emergency versucht.
Mounk: Eines haben diese Bücher gemeinsam: Sie sind immer auch Warnungen davor, was hinter der nächsten politischen Ecke lauern könnte. Sie werden von einer Art Furcht angetrieben – oft einer berechtigten –, vor dem, was bevorsteht. Sie haben also stets ein Gegenbild. In 1984 ist das klar Stalins Sowjetunion, mit vielleicht einigen anderen Anklängen. Der Report der Magd entwirft die Vision einer christlichen Theokratie – und die Stärken wie Schwächen dieses Buchs hängen letztlich davon ab, ob man diese Angst für berechtigt hält oder nicht. Wäre es also fair zu sagen, dass The Emergency von einer ähnlichen Furcht ausgeht – nämlich, dass politische Bewegungen, die sich als moralisch verstehen, als einigendes Projekt, als Versuch, eine reinere Welt zu schaffen, am Ende katastrophal scheitern können?
Packer: Ganz genau. Das ist ein altes Thema – in der Politik ebenso wie in der Literatur: der utopische Impuls. In The Emergency zeigt er sich sowohl in der Stadt, in der ein Teil der Handlung spielt, als auch auf dem Land. Und dieser Impuls ist oft begleitet vom Willen zur Macht.
Dieser Wille äußert sich auf unterschiedliche Weise – manchmal durch offene Gewalt und rohe Zwangsmittel, manchmal durch moralischen Druck. Letzteren erleben wir in diesem Land seit Jahren, und du und ich haben oft darüber gesprochen. Mir scheint, dass die amerikanische Linke eher zu moralischer Nötigung neigt, während die Rechte häufiger mit Gewalt droht – auch wenn das keineswegs ausschließlich für die Rechte gilt. In beiden Fällen geschieht es stets im Namen eines höheren Ziels: unsere Gesellschaft zu verbessern – ja, sie zu perfektionieren.
Gerade diese Idee der Perfektion ist gefährlich. Denn wer eine perfekte Gesellschaft schaffen will, muss alle Elemente beseitigen, die sie verunreinigen oder von der Vollkommenheit abhalten. In The Emergency sind es die jungen Menschen, die diese Dynamik antreiben – das ist entscheidend. Es ist ein Generationenaufstand gegen die Älteren, in der Stadt wie auf dem Land. Die Jugend bringt jene idealistische Energie mit, die wir brauchen, aber auch eine gewisse Naivität im Umgang mit Macht – und eine Bereitschaft, die Normen der älteren Generation zu zerstören, weil sie sie als leer, als gescheitert, als hinterlassenes Trümmerfeld einer Zivilisation empfinden. Warum also nicht alles abreißen und von vorn beginnen? Dieser Impuls treibt die Bewegungen an, die in The Emergency die Oberhand gewinnen.
Mounk: Ich versuche, meine Neugier auf die Themen und Ideen im Buch mit dem Wunsch zu balancieren, nicht zu viel vom Inhalt zu verraten – denn das Buch ist nicht nur eine brillante politische Allegorie, sondern schlicht ein packender Roman. Man sollte es wirklich selbst lesen. Aber erzähl uns ein wenig: Was ist The Emergency eigentlich?
Eines, das mich beim Lesen besonders beeindruckt hat, ist die Hintergrunddiagnose: wie eine alte Ordnung, die als nicht mehr tragfähig erkannt wird, zu zerfallen beginnt. Das Imperium, das in The Emergency zusammenbricht, ist zwar keine exakte Entsprechung der Vereinigten Staaten um 2000 oder 2010, doch es fühlt sich an wie eine untergehende Ordnung, die trotz all ihrer Mängel und Ungerechtigkeiten doch einen gewissen Humanismus bewahrte – eine Ordnung, die ein sinnvolles Leben ermöglichte, relativen Wohlstand sicherte und eine gewisse Form von Rechtsstaatlichkeit aufrechterhielt.
Gleich zu Beginn des Buches merkt man, dass diese alte Ordnung, weit länger, als der Protagonist vielleicht ahnte, bereits im Zerfall begriffen war – sie verfaulte langsam, ohne dass die Menschen es wirklich bemerkten. Und gleich am Anfang fällt sie in sich zusammen; dieser Zusammenbruch setzt The Emergency überhaupt erst in Gang.
Erzähl uns ein wenig, in welchem Maße diese alte Ordnung als Allegorie auf unsere politische Ordnung zu lesen ist. Sie unterscheidet sich in vielem, aber zugleich wirkt sie überreif, reif zum Einsturz. Es fühlt sich an, als sei ein ganzes System aus Regeln, Normen und Tabus, von dem wir glaubten, es halte unser politisches Leben zusammen, plötzlich ohne jede Kraft. Und vielleicht, so deutest du an, haben manche derjenigen, die vorgaben, an diese Ordnung zu glauben, das nie wirklich getan – oder längst aufgehört, es zu tun.
Ich habe beim Lesen oft daran gedacht, dass die Ordnung, die dem Emergency vorausgeht, in gewisser Weise so überholt ist, wie es vielleicht auch unsere geworden ist – sie ist am Ende, bevor das Buch überhaupt richtig beginnt.
Packer: Es ist, wie Ernest Hemingway den Bankrott beschrieben hat: „Zuerst allmählich, dann plötzlich.“ Da ist dieses langsame Erodieren der Bindung der Menschen an die alte Ordnung, an die alten Wege – sie verlieren sie, ohne es zu merken. Und dann bricht alles fast komisch plötzlich zusammen. Es geht so schnell, so scheinbar grundlos. Warum genau sie zusammenbricht, bleibt unklar. Ich schreibe, sie sei an Langeweile und am Verlust des Glaubens an sich selbst gestorben.
Mounk: Das erinnert natürlich an den letzten Absatz von Francis Fukuyamas berühmtem Essay – an die Idee, dass die Langeweile am „Ende der Geschichte“ die Geschichte selbst wieder in Gang setzen könnte.
Packer: Genau. Das ist eine gute Kurzfassung von The Emergency. Ich habe das Gefühl, dass wir in diesem Land – bei all dem Lärm, der Aufruhr, der Raserei und dem Dauerfieber – letztlich kaum erklären können, warum das alles geschieht. Welche ungeheuren Ungerechtigkeiten, welche existentielle Bedrohung, welches Risiko der Auslöschung ist es, das uns dazu bringt, alle Normen, Gesetze, ja die Verfassung selbst in Frage zu stellen? Mir ist das in vielem unerklärlich.
Mounk: Mir geht es ähnlich. Ich bin jetzt alt genug, um zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben wirklich zu empfinden, dass sich die Welt grundlegend verändert hat – nicht nur seit meiner Kindheit, als es die Sowjetunion noch gab, sondern auch seit dem Jahr 2000, als ich mit achtzehn an die Universität kam. Ich glaube, es gibt nur wenige Fünfundzwanzigjahreszeiträume, die ähnlich tiefgreifende Veränderungen erlebt haben – und die meisten von ihnen hatten ein katastrophales Ereignis in der Mitte.
Die Welt von 1950 sah völlig anders aus als die von 1925 – aber dazwischen lag der Zweite Weltkrieg. Das versteht sich von selbst; man muss nicht lange rätseln, warum die Welt 1950 anders war. Natürlich gab es auch zwischen 2000 und 2025 viele bedeutende, teils schockierende Ereignisse – 9/11, die Finanzkrise –, aber sie kommen an die Wucht eines Weltkriegs nicht heran. Und doch wirkt die Welt heute ebenso radikal verändert wie damals – und das ist schwer zu begreifen.
Packer: Mein Buch The Unwinding, ein Sachbuch von 2013, war der Versuch, diese Transformation zu beschreiben – und teilweise zu erklären, vor allem aber zu beschreiben. Manche sagen, es habe Trumps Aufstieg vorausgeahnt. Ich habe Trump nicht vorhergesehen, aber das Buch schildert ein Land, in dem eine Figur wie Trump denkbar wird. Und dennoch beantwortet auch dieses Buch nicht die eigentliche Frage: Warum schwächt oder verletzt sich diese erfolgreiche, wohlhabende, relativ geeinte und militärisch übermächtige Demokratie selbst – wenn sie sich nicht gleich zerstört?
In The Emergency habe ich diese Frage bewusst umgangen, indem ich schlicht schrieb: aus Langeweile und aus Glaubensverlust. Beides, denke ich, trifft auf unser Land durchaus zu – wir haben den Glauben an uns selbst verloren. Woher das kommt? Es gibt viele, komplexe Gründe. Aber das Buch beginnt genau dort: mit diesem Verlust als Ausgangspunkt. Entscheidend ist, was danach geschieht – das Imperium bricht zusammen, es gibt keine Regierung mehr, und plötzlich müssen die ehemaligen Bürger selbst herausfinden, wie sie ihr Leben organisieren, ihre Stadt führen, ihr Land bewirtschaften.
Im Laufe des Romans erfahren wir, was das Imperium ersetzt hat. In beiden Fällen tritt an seine Stelle eine Ideologie. In der Stadt ist es eine utopische Zukunftsvision, die eine Art nicht-digitale künstliche Intelligenz einschließt – denn digitale Technologie gibt es in der Welt des Romans nicht. Ich wollte mich bewusst von allem lösen, was die Geschichte zu nah an unsere Gegenwart rücken würde. Immer wenn ich ihr zu nah kam, wurde das Buch schwächer. Wenn ich mir dagegen erlaubte, frei zu erfinden – etwa die „besseren Menschen“, die analogen Gegenstücke einer KI –, wurde es stärker. Dann hatte ich das Gefühl, wirklich eine Welt zu erschaffen.
Diese Welt ist eine, in der die Jungen beschlossen haben, dass die Alten versagt haben und nicht länger Gehör verdienen. Doch im Kern ist es ein Roman über diese älteren Menschen und ihre Beziehung zu ihren Kindern. Der Protagonist, Hugo Rustin, ist Arzt, ein angesehener Chirurg und Klinikdirektor. Er ringt mit der neuen Ordnung, die weder ihn noch seine Erfahrung achtet – das empfindet er als Kränkung. Er versucht, sich anzupassen, weil er seiner Tochter – und auch seiner Frau, aber besonders der Tochter – nahebleiben will. Doch er schafft es nicht, gerät im Krankenhaus in Schwierigkeiten, wird in gewissem Sinne entehrt und muss sich neu erfinden: seine Werte, seine Identität, sein Ansehen – vor allem in den Augen seiner Tochter.
In gewisser Weise ist er ein Liberaler, der seinen Platz verloren hat – politisch heimatlos, entfremdet von seiner Familie, seiner Arbeit, seinem Lebenssinn. Er wird entwurzelt und bricht mit seiner Tochter zu einer riskanten, fast absurden Mission aufs Land auf – eine Reise, die die Handlung trägt.
Auf dem Land spielt sich derweil ein anderer Umsturz ab, erneut angeführt von den Jungen, die ihre Eltern stürzen und ihr eigenes Utopia errichten – rückwärtsgewandt, reaktionär, intolerant, frauenfeindlich, gegründet auf physische Stärke statt auf moralische Tugend. Die Parallelen und Anklänge sind offensichtlich, doch je weiter der Roman sich von direkten Eins-zu-eins-Bezügen entfernt, desto besser funktioniert er – sowohl als Roman wie auch als Allegorie.
Mounk: Mir gefällt die Abstraktionsstufe des Buches. Die Handlung hat Zug und Sog; sie ist spannend, kein theoretisches Gedankenspiel. Aber weil es keine konkreten Ortsnamen gibt – es ist weder Washington noch New York –, bleibt alles bewusst vage. Es heißt einfach „das Imperium“. Auch technologische Merkmale fehlen: Niemand ist auf Twitter, X oder TikTok.
Packer: Obwohl es eine Art soziales Netzwerk gibt – aber in physischer Form. Eine Menge Menschen versammelt sich auf dem Hauptplatz der Stadt und kommt gleichzeitig auf dieselbe Idee. Es ist im Grunde das Denken der Masse – genau jene kollektive Dynamik, die wir aus den sozialen Medien kennen, mit all dem Druck, den sie auf das Denken des Einzelnen ausübt. Nur ist sie nicht digital, sondern körperlich präsent.
Mounk: Beim Lesen musste ich an das „Human Microphone“ von Occupy Wall Street denken – ob das eine Inspiration war oder nicht, weiß ich nicht, aber das war das Bild, das ich im Kopf hatte.
Packer: Ich war damals bei Occupy Wall Street, habe viel darüber geschrieben. Diese Erfahrung hat mir gezeigt: Man braucht kein iPhone, um einen physischen Mob zu bilden – einen, der niemandem körperlich droht, aber einen Druck ausübt, der noch unerträglicher sein kann als physische Gewalt.
Mounk: Ich finde, die Allegorie funktioniert gerade wegen dieser Abstraktion. Aber sie ist eine Allegorie. Ich habe vieles, was in der Stadt passiert, als Spiegel der Social-Justice-Bewegung gelesen. Der Protagonist begeht als Arzt einen „Verstoß“, indem er eine Krankenschwester anschreit – woraufhin er in eine Art Kreis der „Wiederherstellenden Gerechtigkeit“ gezwungen wird. Der Kreis soll freundlich wirken, versöhnlich, alle sollen sich verstehen. In Wahrheit ist er ein Werkzeug des Zwangs: Wer nicht mit dem Geist des „Miteinanders“ geht, wird bestraft. Dieses „Miteinander“ ist in Wahrheit zutiefst spaltend und autoritär.
Das erinnert stark an die Exzesse der Woke-Bewegung in den vergangenen zehn Jahren. Erzähl uns mehr über die Allegorie des Geschehens auf dem Land. Wäre es zu simpel zu sagen, das sei sozusagen eine Art Packer-Version des MAGA-Landes – ein Emergency-Land als Zerrbild der Trump-Bewegung?
Packer: Im Grunde basiert es darauf, ja. Du hast recht – „Miteinander“, die Ideologie der Jugend in der Stadt, ist klar von der Social-Justice-Bewegung inspiriert, wenn auch abstrahiert: Rasse spielt keine Rolle, Geschlecht oder Sexualität auch nicht. Es geht um moralische und sogar kognitive Perfektion – da kommen die „besseren Menschen“, die analoge KI, ins Spiel.
Mir ging es darum, die tieferen Impulse offenzulegen. Was steckt hinter dem Woke-Denken? Dieser Drang, alles zu perfektionieren – Sprache, Gesellschaft, Beziehungen. Für junge Menschen ist das verführerisch, wenn sie glauben, dass die Welt ihrer Eltern durch Dekadenz und Gleichgültigkeit zusammengebrochen ist. Warum sollten sie nicht neu anfangen wollen? Wenn Selva, die Tochter des Arztes, zu ihm sagt: „Ich will einfach ein Streichholz nehmen und die Vergangenheit niederbrennen – alles verbrennen“, dann meint sie: Ihr habt versagt. Warum sollte ich an die humanistischen Werte glauben, mit denen ihr mich erzogen habt?
Auf dem Land gibt es eine Bauernfamilie, die der Arzt und seine Familie über die Jahre kennengelernt haben – durch ihre regelmäßigen Campingausflüge in die Gegend um den Hof. Als Rustin und seine Tochter Selva im Rahmen ihrer humanitären Mission dort ankommen, merken sie, dass sich alles verändert hat. Es gibt keine Vertrautheit mehr, keine joviale, vielleicht leicht gönnerhafte, vielleicht auch ein wenig gespielte Herzlichkeit zwischen Stadt- und Landbewohnern, wie sie früher selbstverständlich war. Stattdessen herrschen Spannung, Misstrauen, Paranoia, Verbitterung – ja, verschwörerisches Denken.
Auf dem Hof haben im Grunde die jungen Männer das Sagen übernommen. Sie befinden sich in einer Art paramilitärischem Training – als offener Affront gegen die alte Haltung der Älteren, die lautete: „Mach deine Arbeit, einen Tag nach dem anderen, und alles wird gut.“ Da steckt ein bisschen „Bronze Age Pervert“ drin, ein bisschen „Manosphere“. Es gibt eine regelrechte Verehrung des Körpers, der Stärke, der physischen Macht – und eine Faszination für Gewalt. Ich würde sagen, auch eine Verachtung, wenn nicht sogar ein Hass auf Frauen. Das Ganze ist natürlich eine Satire, keine eins-zu-eins-Abbildung. Ich habe nicht all die intellektuellen Strömungen der MAGA-Bewegung eingebaut, über die Laura K. Field in ihrem hervorragenden Buch Furious Minds schreibt.
In meinem Roman gibt es keine Straussianer, keine Nationalkonservativen – aber es gibt diese Stimmung: Zorn, Hass, den Drang, alle alten Götter zu stürzen. Und es gibt diese tiefe Verbitterung gegenüber den Städtern, mit denen man sich früher scheinbar gut verstanden hatte – bis sich zeigt, dass unter der Oberfläche immer Ressentiment brodelte. Bücher, Worte, Bildung erscheinen plötzlich als Bedrohung – als Instrument, mit dem die Städter die Landbevölkerung kleinhalten. Die jungen Männer auf dem Land wollen sich von den Worten befreien, zurück zu etwas Ursprünglichem: einer Art Animalismus, einer Verehrung der tierischen Kraft. Sie nehmen Tieridentitäten an, die zum philosophischen Gegenstück der „Maschinenidentitäten“ in der Stadt werden – dort, wo die „besseren Menschen“ leben.
Genau dort treffen sich MAGA und Wokeness – ein Wort, das ich eigentlich meide, aber manchmal kommt man eben nicht darum herum – im ideellen Überbau dieser Geschichte.
Mounk: Mir scheint, dass Hugos Haltung in vielerlei Hinsicht deiner ähnelt – eine Art liberal-humanistischer Versuch, inmitten dieses Chaos Haltung und Würde zu bewahren. Nicht, dass ich ihn mit dir gleichsetzen würde, aber seine Stimme erinnert mich doch an den George Packer, den ich kenne.
Er hat im Wesentlichen zwei zentrale Beziehungen. Es gibt natürlich viele weitere, doch eines der beiden Kinder ist noch zu jung, um eine wirklich komplexe Beziehung zu ihm zu haben. Da ist zum einen seine Frau, die sich in gewisser Weise vom Geist des „Miteinander“ erfassen lässt, was zu Spannungen in der Ehe führt. Und dann ist da die Beziehung zu seiner Tochter – die mir, ehrlich gesagt, als das eigentliche emotionale Zentrum des Romans erscheint.
Erzähl uns von diesen beiden Konflikten – was sie bedeuten, worin sie sich ähneln oder unterscheiden, und warum, falls du mir zustimmst, einer davon tiefer im Herzen des Romans verankert ist – und vielleicht auch stärker im Herzen unserer Zeit.
Packer: Ich stimme dir zu. Und ja, Yascha, ich muss wohl zugeben: Ich habe tatsächlich einiges mit Dr. Hugo Rustin gemeinsam. Aber ich wollte ihn und seinen liberalen Humanismus unter maximalen Druck setzen – ihn nicht zur moralischen Leitfigur des Romans machen, sondern zum Prüfstein. Mein Sohn sagte zu mir, als er hörte, dass ich dieses Buch schreibe: „Mach bloß nicht, dass der Arzt immer recht hat. Er muss sich irren. Sonst wird’s langweilig.“ Großartiger Rat von einem jungen Menschen. Und tatsächlich – der Roman bricht ihn gewissermaßen, und er muss sich danach wieder zusammensetzen.
Hugos Überzeugung – im Kern, dass wir nur einander zuhören und uns gegenseitig verstehen müssen, dann lösen sich alle Probleme und wir können in Harmonie leben – ist naiv. Etwas karikiert, aber nicht sehr. Es ist eine liberale Weltsicht, eine, nach der er lebt: Er zieht seine Kinder so auf, er behandelt seine Patienten so. Und seine Tochter Selva ist diejenige, die diesen Glauben am stärksten herausfordert. Sie ist vierzehn, als der Roman spielt, und mit dem Zusammenbruch des Imperiums zerbricht auch ihr Selbstbild.
Ihr größter Wunsch war es immer, ihren Vater stolz zu machen, eine gute Schülerin zu sein. Sie hat in den entscheidenden Prüfungen, die über die Zukunft entscheiden, brilliert – wer gut abschneidet, ist in der Zunft des Vaters „gesetzt“. In der Stadt gibt es alte, fast mittelalterliche Zünfte. Wer schlecht abschneidet, wird zum „Überbürger“ – ein überflüssiger Mensch, dessen Weg unweigerlich abwärts führt. Es ist eine gnadenlose Meritokratie, gar nicht so unähnlich unserer eigenen Bildungswelt.
Seine Frau Annabel – die Ehe war glücklich – spürt im Ausnahmezustand eine wachsende Unzufriedenheit. Sie sieht den Aufruhr um sich herum und merkt, dass sie selbst noch immer das konventionelle Leben einer Ehefrau und Mutter führt. Sie übernimmt Aufgaben in der Stadt, in einem System namens „Self-Org“ – Selbstorganisation –, das ihn beunruhigt. Nicht, weil sie etwas Bedrohliches täte, sondern weil sie plötzlich eigenständig ist, keine Ergänzung mehr. Bisher war er das Gesicht der Familie nach außen. Nun begreift er, dass er sich von ihrer Emanzipation bedroht fühlt – und obwohl er weiß, dass das falsch ist, kann er nichts dagegen tun. Er wünscht sich, sie würde sagen: „Wir sind doch noch dieselben.“ Aber sie kann es nicht.
Diese Beziehung steht unter Druck, zerbricht nicht völlig, offenbart aber seine Grenzen – als Mann, als Ehemann, als Bürger dieser Stadt. Die Tochter jedoch zwingt ihn zur eigentlichen Auseinandersetzung: Was habe ich meinen Kindern beibringen wollen, und warum hat es nicht funktioniert? Was kann ich ihr jetzt noch sagen, da sich vieles, woran ich geglaubt habe, als falsch erwiesen hat? Je weiter sie ins Land hinausreisen, desto klarer erkennt sie, was passiert – und bewahrt sie vor Gefahren –, während er derjenige ist, der sich irrt, der sie in Gefahr bringt.
Das ist für einen Vater, der seine Tochter in riskantes Terrain geführt hat, zutiefst verstörend. Diese Beziehung ist das emotionale Herzstück – das, was den Roman zum Schwingen bringt, ihm Resonanz verleiht. Keines meiner eigenen Kinder taucht im Buch auf, auch meine Frau nicht – nur unser Hund in gewisser Weise. Die Familie ist unschuldig. Ich bin der Schuldige. Aber die Beziehung zwischen Vater und Tochter – das ist für mich der Kern, das, was emotional zählt, das, was den Roman zum Leben bringt.
Mounk: Die Beziehung zwischen dem Protagonisten und seiner Tochter Selva ist in vielerlei Hinsicht das emotionale Zentrum des Romans – aber das Buch endet nicht mit Selva, sondern mit einer Szene zwischen Hugo und seiner Frau Annabel. Ich glaube nicht, dass man zu viel verrät, wenn man die letzten Zeilen eines Romans erwähnt, also wage ich es. Wer sich den Schluss lieber selbst bewahren möchte, kann ein paar Sekunden überspringen.
Wie du sagtest, steht die Beziehung unter erheblichem Druck. In dieser Welt, die in jeder Hinsicht aus den Fugen geraten ist, sind die beiden an einem schwierigen Punkt angelangt. Doch der Protagonist und seine Frau beschließen, weiterzumachen – weiter Menschen zu helfen, die in Not sind, die Schutz brauchen.
Die letzten Zeilen des Romans lauten: „Es klopfte noch einmal an die Tür. Sie sahen einander weiter an, und seine lange Vertrautheit mit ihrem Gesicht erlaubte ihm, sich ihre Gedanken vorzustellen. Etwas ging zu Ende, und sie waren zu alt, um es zu verstehen. Was danach kam, würde ihren Kindern gehören. Aber sie würden weiter die Tür öffnen, und auf diese Weise würden sie leben.“
Ist es zu viel hineingelesen, darin eine Art Beschwörung an humanistische Liberale zu sehen – an Menschen, die das Gefühl haben, die Welt gerate außer Kontrolle, und die feststellen, dass sie nicht mehr auf das vertrauen können, was sie bisher für selbstverständlich hielten? Also die Idee, dass sie vielleicht nie ganz verstehen, was gerade geschieht, dass die richtige Antwort darauf aber darin liegt, ihrem Credo treu zu bleiben und die kleinen Tugenden zu leben – etwa stur die Tür für ganz unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Überzeugungen zu öffnen? Oder ist das eine zu geradlinige Lesart dieses Endes?
Packer: Ich finde, das ist eine gute Lesart, Yascha, danke. Sein Credo – er nennt es „ziemlich selbstgefälligen Humanismus“ – ist im Verlauf des Romans ja regelrecht pulverisiert worden. Am Ende ist es kein großes Credo mehr. Es trägt keine großen Abstraktionen mit Großbuchstaben mehr vor sich her. Es ist einfach geworden, reduziert – und vielleicht gerade dadurch stärker. Genau, wie du sagst: einem anständigen Impuls folgen, die Verbindung zu anderen Menschen halten, die Tür öffnen – auch für Menschen, die man nicht kennt, sogar für Menschen, die einen vielleicht hassen – und versuchen, ihnen zu helfen.
Es ist eine Art reduzierter Moralkodex, aber wenn der einmal verloren geht, ist es vorbei. Dann lohnt es sich nicht mehr, für irgendetwas zu kämpfen. Vielleicht kann gerade dieser schlichte, reduzierte Impuls mit der Zeit zum Fundament einer neuen Gesellschaft werden. Wir wissen es nicht, denn der Roman endet mit den Zeilen, die du gerade zitiert hast. Ich konnte ihn nicht in totaler Verzweiflung enden lassen – wir leben ja noch. Ich habe Kinder, ich liebe mein Land immer noch, und ich spüre täglich die Gefahr, einfach aufzugeben.
Tägliche Gefahr – was tun wir? Das fragen mich die Leute ständig, dich sicher auch. Was können wir gegen all das tun? Ich habe darauf keine wirklich gute Antwort. Es gibt viele politische und strategische Antworten, aber darum geht es in diesem Roman nicht. Die moralische Antwort lautet: weiter die Tür öffnen und versuchen, so zu leben. In diesen letzten Zeilen brennt ein kleines bejahendes Flämmchen, ein sehr kleines, flackerndes Flämmchen.
Mounk: Ich glaube, wir haben genug getan, um den Leserinnen und Lesern ein Gefühl für den Roman zu geben – jetzt heißt es: lesen. Aber was bedeutet das in Trumps Amerika – wenn man die fiktionale Welt verlässt und ganz in unserem politischen Moment ankommt? Angesichts der Verheerungen einer Trump-Regierung, angesichts der Tatsache, dass der Widerstand dagegen in vieler Hinsicht ins Leere läuft und dass manche der erfolgreichsten Oppositionsfiguren – etwa Gavin Newsom, der Umfragen zufolge derzeit klar Favorit auf die Nominierung ist – zumindest teilweise Erfolg haben, indem sie Trump imitieren: nicht unbedingt in den moralischen Positionen, aber ganz sicher im Stil, in den sozialen Medien und so weiter.
Was heißt es, in so einem Moment an den kleinen Tugenden eines Humanisten, eines Liberalen festzuhalten – in einem Moment, der unserem Verständnis zu entgleiten scheint und gegen jeden entsprechenden Instinkt zu arbeiten scheint? Ein Moment, der uns Liberale und Humanisten demütigt hat – und wohl auch demütigen sollte –, weil es uns nicht gelungen ist, die Vorstellungskraft unserer Mitbürger zu gewinnen und eine stimmige Antwort auf die Anforderungen dieser politischen Lage zu formulieren. Ich habe dafür viel Sympathie; das Ende hat mich gerade deshalb bewegt. Ich bin vielleicht ein paar Jahre jünger als du und als der Protagonist, aber ich habe mich in ihm wiedererkannt. Was heißt das nun ganz konkret in unserer politischen Situation?
Packer: Zunächst: Es ist ein großer Fehler, Trumps Stil zu kopieren, denn er ist nicht nur ein Stil. Er ist eine Haltung gegenüber Menschen und gegenüber Politik, gegenüber dem Land. Dieses Video, das Trump direkt nach den No-Kings-Kundgebungen veröffentlicht hat – er selbst als König in einem Kampfjet, der über eine Stadt voller Demonstrierender fliegt und eine unglaubliche Menge Fäkalien über sie ausschüttet, sie damit überzieht – leider gibt es am Ende von The Emergency eine Vorahnung davon. Ich hatte ein tiefes, vielleicht nur halbbewusstes Gefühl, dass wir dorthin unterwegs sind: zur „Vermüllung“ unserer Gesellschaft.
Und wie immer ist Trump uns voraus. Er ist immer bereit, noch tiefer zu sinken – dort lebt er. Er will alle dorthin ziehen. Dort gedeiht er. Auf sonnigen Höhen prosperiert er nicht. Warum sollten wir ihm dorthin folgen? Wie Mark Twain über das Ringen mit einem Schwein sagte: „Du kannst nicht gewinnen, und das Schwein amüsiert sich köstlich.“ Also: Versuche nicht, Trump zu übertrumpfen.
Aber was sonst? Ist es naiv, zu einer No-Kings-Kundgebung zu gehen und sich von Schildern bewegen zu lassen wie „We’re better than this“, „I love USA“, „Make Orwell fiction again“? Das war eines, das ich sah. Es hat mich bewegt, aber ich fragte mich auch: Wohin führt das? Es ist eine Art erster Schritt: Wir sind da, wir sind nicht verschwunden, wir haben unser Land nicht aufgegeben. Anstand existiert noch – aber er wirkt machtlos.
Ich bin kein politischer Stratege, Yascha. Du bist darin besser, klüger. Wir sind uns sicher einig, was die Opposition politisch tun könnte – und auch über die Grenzen dessen. Denn ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem Politik im Sinne von Programmen für die meisten Wähler nicht mehr reicht. Es geht um Identität – Stammes-, politische, rassische, welche auch immer. Das haben wir schon länger; jetzt scheint es festgefahren. Du kannst schnelles Internet aufs Land nach Arkansas bringen – deshalb wird Arkansas nicht plötzlich den demokratischen Präsidenten wählen, der es dorthin gebracht hat. So funktioniert es nicht mehr.
Wie überwindet man das? Ich würde sagen: Fang zumindest bei den grundlegenden menschlichen Qualitäten an, die Menschen noch verbinden. Ich glaube weiterhin, die meisten wollen eine anständige Gesellschaft, keine Gewalt, sie mögen die Verachtung, die Hetze, den Hass nicht, die wir täglich erleben. Sie wollen, was gut für ihren Nachbarn ist – und sogar für ihre Landsleute –, und sie haben Angst vor der Richtung, in die wir steuern. Wenn man dort ansetzt, bei dieser fast unpolitischen Ausgangslage, dann kann das zu Antworten auf die politischeren Fragen führen – sogar auf die programmatischen –, also was Menschen erreichen könnte, die einen für den Feind halten. Denn da stehen wir: Wenn wir widersprechen, sind wir der Feind.
Mounk: Ich habe eine zweiteilige Antwort – der erste Teil ist schlicht, und ich bin mir ziemlich sicher damit. Es ist nicht originell, aber es würde viel bewirken: Wenn die Demokraten 2026 die Zwischenwahlen gewinnen wollen und vor allem 2028 die Präsidentschaft, müssen sie in die politische Mitte. Was Trump tut, ist für die Demokratie gefährlicher und moralisch schlimmer; aber Trumps Republikanische Partei liegt kulturell weit außerhalb des amerikanischen Mainstreams. Unglücklicherweise gilt das in manchen Punkten auch für die Demokraten. Diese Punkte sind weniger wichtig – die Themen sind es auch –, aber für viele Wähler zählen sie.
Ich glaube, die erste Partei, die wirklich zurück in die Mitte findet – was ökonomisch heißt: an Kapitalismus, Wachstum und private Initiative glauben und zugleich an den Sozialstaat und daran, dass Reiche und Großkonzerne ihren fairen Anteil zahlen; bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass Vetternwirtschaft Realität ist und bekämpft werden muss – wird gewinnen. Kulturell heißt das: patriotisch sein, daran glauben, dass Amerika als Einwanderungsland die Beiträge von Menschen aus aller Welt anerkennt; „leben und leben lassen“ in Fragen von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität; zugleich aber anerkennen, wie wichtig Kontrolle über die eigenen Grenzen ist – und dass nicht nur Bigotte oder Transfeinde Bedenken haben, wenn biologische Männer im Spitzensport der Frauen antreten. Diese Position ist eine Siegerposition. Wenn die Demokraten dort zuerst ankommen, gewinnen sie 2028.
Und 2028 zu gewinnen, ist wichtig – angesichts dessen, was passieren könnte, wenn Trumps Erben weitere vier oder acht Jahre an der Macht bleiben. Es gibt aber noch eine grundlegendere Ebene. Damit kann man 2028 gewinnen – mit einem halbwegs charismatischen Kandidaten, keiner Jahrhundertfigur –, aber es reicht nicht, um Trumps Republikaner so aus dem Feld zu schlagen, dass sie zur Reform gezwungen werden.
Dafür müssen wir begreifen – und deshalb hat mich das Romanende berührt –, wie sehr wir nicht verstanden haben, wie sich die Welt verändert hat. Unser Grundnarrativ lautet: Wir sind die Zukunft, die Gegner – Trump in den USA, Reform UK in Großbritannien, die AfD in Deutschland – sind die Vergangenheit. Ich denke dabei an das Wort „ewiggestrig“ – die ewig von gestern. Wir sehen unsere Gegner so.
Das ist bequem, denn es bedeutet: Wir werden ohnehin die Zukunft sein, wir haben schon gewonnen. Ein triumphalistisches Selbstbild. Ich glaube zunehmend, viele Wähler sehen uns als diejenigen, die die Sprache der Vergangenheit sprechen – die Sprache von 2000, nicht von 2025. Bei allen Fehlern klingen die Populisten nach Gegenwart; sie haben begriffen, dass alte Tabus und Regeln nicht mehr gelten. Sie leben im Heute. Wir im Gestern.
Packer: Und sie beherrschen die Medien der Gegenwart, statt an denen der Vergangenheit festzuhalten.
Mounk: Genau. Die fundamentalere Aufgabe ist: Wie klingen wir wieder nach Gegenwart oder Zukunft? Vielleicht deutet das Romanende darauf hin – ich erwarte nicht, dass dein Protagonist die Probleme von Trumps Amerika löst oder uns den Weg zur Neuerfindung weist; das wäre zu viel verlangt. Aber ich dachte: Ja, er ist anständig, liebenswert in all seinen Fehlern. Trotzdem schulden wir mehr – zumindest in der realen Welt. Wir schulden den Versuch, Kompass und Sprache so zu erneuern, dass wir diesen Werten wieder eine reale Chance geben.
Packer: Ja. Das können wir von Hugo Rustin nicht verlangen – er hat am Ende des Romans genug durchgemacht; es reicht, dass er mitten im Bürgerkrieg im Wohnzimmer weiter Patienten behandelt. Aber von uns selbst müssen wir es verlangen. Ich spüre: Etwas geht zu Ende, und ich bin zu alt, um es zu verstehen. Das ist, in gewisser Weise, das Credo der letzten Zeilen.
Aber das heißt nicht, dass ich mich zurückziehe und zuschaue, wie die nächste Generation es richtet. Solange wir leben, sind wir in der Pflicht. Was deinen Vorstoß in Richtung Mitte angeht: Bei vielem bin ich bei dir. Vielleicht rücke ich ökonomisch etwas weiter nach links – Anti-Monopol, Kritik am Klüngelkapitalismus –, das würde ich ins Zentrum stellen.
Korruption ist für normale Amerikaner ein starkes Thema, und Trump hat sie instrumentalisiert, bevor er der korrupteste Präsident der Geschichte wurde. Ein Demokrat sollte diesen katarischen Jet und die Memecoins, die in die Familienkasse der Trumps fließen, wirklich in den Fokus rücken.
Mounk: Eine kleine Meinungsverschiedenheit – nicht dein Hauptpunkt, aber erwähnenswert. Ich widerspreche nicht wirklich: Beides muss stark sein, und es steht nicht in Konkurrenz. Man muss klarmachen, dass man an unser Wirtschaftssystem glaubt, an Wohlstand, an Chancen – nicht nur an Mindestlohn, sondern daran, dass Ambitionen gedeihen können. Zu oft klingen Demokraten nicht so – nicht nur die Linken, auch die in der Mitte. Gleichzeitig muss glaubhaft sein, dass man über Trumps Korruption wütend ist und über vieles andere im System – etwa wie schwer es ist, vor einer Behandlung zu erfahren, was sie kosten wird und ob sie einen, wenn man weniger Mittel hat als du oder ich, vielleicht die Miete kostet. Man kann in beiden Punkten gleich entschlossen sein; die Kunst ist, sie nicht gegeneinander auszuspielen.
Packer: Sie dürfen nicht konkurrieren, weil sie zusammenhängen. Klüngelkapitalismus, Trumps Korruption und ein von Kongresshand gezimmertes, zutiefst ungerechtes Steuersystem bei gleichzeitiger Ausblutung des IRS – all das bremst die Aufstiegswünsche normaler Menschen. Man sollte den Leuten nicht sagen: Wir sorgen dafür, dass alle das Gleiche haben; wir geben euch Sicherheit, Rente, Medicare. Das ist das Minimum.
Aber es darf nicht die Botschaft sein. Die Botschaft muss die Aspirationen ansprechen – wir sind und bleiben ein Land der Aufstrebenden. Dieses Aufstreben prallt derzeit frontal – ich sage „Oligarchie“ – auf Trump und jene, die bei seiner Amtseinführung mit auf der Bühne standen. Sie schaden unseren Kindern, den Arbeitern, der Wirtschaft. Das lässt sich problemlos mit der Aufstiegsbotschaft verbinden.
Bei kulturellen Fragen stimme ich dir zu. Es war fatal, dass die Linke die Demokraten bei Identität, Migration, Sprache und Rede so weit nach links gezogen hat. Ich würde dich – als Experten – trotzdem fragen: Glaubst du, dass bloße Politikwechsel ohne die tiefere, jahrelange Arbeit des Organisierens und Brückenbauens in jenen tiefroten Gebieten, die die Demokraten aufgegeben haben – also etwas, das nicht um eine Wahl und eine Botschaft kreist –, heute noch eine Wahl drehen können? Vielleicht die paar Stimmen, die Swing States kippen. Aber nichts Entscheidendes. Trumps Populismus bliebe – und bliebe eine sehr starke Kraft.
Mounk: Ich glaube, viele dieser Anpassungen würden in einer Wahl den Ausschlag geben – und das ist entscheidend, denn der einzige Weg – ein Mantra, das ich seit fast zehn Jahren wiederhole –, autoritäre Populisten zu schlagen, führt über die Wahlurne. Man muss in der Lage sein, Wahlen gegen sie zu gewinnen. Wenn einige dieser Änderungen sehr plausibel den Unterschied in knappen Rennen ausmachen können, dann sind sie äußerst wichtig.
Im größeren Bild sehe ich zwei Gefahren dieses politischen Moments. Die erste: Die Demokraten nehmen diese Änderungen gar nicht vor – und mir ist derzeit alles andere als klar, dass sie die entsprechenden Lehren bis 2028 gezogen haben, schon weil sie sie nach 2024 nicht gezogen haben. In den tieferen Reihen der Partei gibt es ein paar Stimmen, die sich trauen, auszuscheren; im Großen und Ganzen weichen demokratische Mandatsträger dem Thema aber aus.
Schaut man etwa auf die Debatte, die Abigail Spanberger im Rennen um das Gouverneursamt in Virginia geführt hat: Sie war völlig außerstande, zu irgendeinem dieser Themen eine moralische Position zu formulieren, und versuchte, sich mit Ausflüchten aus der Affäre zu ziehen, die auf mich zutiefst unüberzeugend wirkten – ehrlich gesagt so, als würde sie den Wählern nicht sagen, was sie wirklich denkt. Ich weiß nicht, was sie wirklich denkt. Es könnte so oder so sein, aber ich hoffe, sie hat dazu eine Haltung. Als fühlender Mensch sollte sie das. Den Wählern hat sie diese Haltung jedenfalls ganz sicher nicht mitgeteilt. Das ist die erste Gefahr.
Die zweite Gefahr: Die Demokraten führen die Kriege von gestern. Sie korrigieren ihre Positionen bei ein paar Punkten, bei denen sie erkannt haben, dass sie weit von den Wählern entfernt sind – weil genügend Fokusgruppen und Umfragen ihnen sagen, dass dies 80:20-Fragen sind – und passen sich dort an. Aber all jene Mechanismen, die sie überhaupt erst zu Positionen treiben, die auf der Seite der 20 Prozent – oder der 80 Prozent – liegen, bleiben bestehen.
Packer: Ja, diese Denkweise ist so verfestigt, dass man sie mit dem Presslufthammer aufbrechen müsste – nachjustieren reicht nicht. Das sehe ich täglich, obwohl wir angeblich „über Wokeness hinaus“ sind. Identität ist für viele Progressive immer noch die grundlegende Kategorie, durch die sie Politik und Gesellschaft sehen – so tief verankert, dass sie es oft nicht einmal merken. Und für viele Menschen ist das zutiefst fremd – nicht für alle, aber für sehr viele Amerikaner.
Also ja: Es muss etwas Tieferes geben als nur veränderte Positionen, und Schweigen zu Kulturfragen reicht nicht. Wenn man dazu schweigt, hängt man sie einem um den Hals – und verliert. Es braucht die Bereitschaft, auch Menschen im eigenen Lager vor den Kopf zu stoßen. Sonst – und genau das hat Kamala Harris nicht getan – wird der Rest des Landes mit Recht sagen: Wenn du nicht einmal das aussprechen kannst, warum sollte ich dir bei jenem vertrauen? Du willst doch nur meine Stimme.
Mounk: Es entsteht der Eindruck: „Eigentlich glaube ich das alles, aber leider halte ich die meisten Amerikaner für Bigotte, also mache ich hier Zugeständnisse an die Bigotten“ – so hat es neulich ein populärer Podcast in einem viralen Interview formuliert. Das ist ebenfalls ein Fehler. Übrigens kann man bei Kulturfragen genauso deutlich auf beiden Seiten sprechen wie bei ökonomischen Themen. Beides ist wahr: Der Kapitalismus war für Amerika ein großer Gewinn – er hat das Land zu einer der reichsten großen Nationen der Geschichte gemacht und das Leben der Menschen enorm verbessert. Und zugleich gibt es Formen eines Klüngelkapitalismus, die Konzernen und Reichen erlauben, zu exploiteren und Renditen abzugreifen – dagegen braucht es wirksame Mittel. Ganz ähnlich gilt: Wir sollten uns unbedingt dagegenstellen, wenn die Trump-Regierung trans Personen aus dem Militär wirft, obwohl sie nichts falsch gemacht haben und ihrem Land loyal und patriotisch dienen. Ihnen zu sagen, sie dürften diese Laufbahn nicht fortsetzen, nur weil sie trans sind, ist empörend. Ich glaube, die meisten Amerikaner können das nachvollziehen und teilen. Und selbst wenn nicht – selbst wenn das eine 40:60-Frage wäre –, gewinnt eine Politikerin, die das mit moralischer Klarheit formuliert, an Vertrauen: Sie spricht authentisch, mit Leidenschaft, aus Überzeugung.
Gleichzeitig kann man der Ansicht sein, dass es unfair ist, wenn Menschen, die eine männliche Pubertät durchlaufen haben, in Elitewettbewerben des Frauensports antreten. Zwischen beiden Aussagen besteht kein Widerspruch. Man kann beides klar aussprechen – statt zu sagen: „Was soll Virginia dazu tun? Das entscheiden bitte lokale Schulbezirke, Eltern und Lehrkräfte. Ich beziehe keine Position.“ Diese Haltung meidet die Debatte, verrät nicht, was man wirklich glaubt, und verleiht den eigenen Überzeugungen keine Stimme.
Packer: Worauf du hinauswillst, ist: Es braucht moralische Leidenschaft und Klarheit – und sie muss universal gelten. Beide Seiten haben sich von der Idee verabschiedet, dass Moral für alle Menschen gleichermaßen gilt. Auf der Linken hängt moralische Bewertung – Rechte, Status, Verhalten – von der Identität ab. Auf der Rechten ist es vollständig parteiisch geworden: Vizepräsident J. D. Vance verteidigt jeden Neonazi, der online den Kopf herausstreckt und etwas Abscheuliches sagt – schlicht, weil er „zur eigenen Seite“ gehört.
Sich von der Vorstellung zu lösen, dass Moral universell sein muss, ist gefährlich. Selbst wenn philosophisch vieles dagegen eingewandt werden mag – politisch müssen wir so handeln, als ob sie universell gilt. Sonst trauen die Menschen einem nicht – und man verliert auch selbst den inneren Halt.
Mounk: Ich bin mir nicht sicher, dass das philosophisch nicht standhält – darüber können wir ein andermal diskutieren. Der andere Punkt ist: Das Problem reicht tiefer, als ich es in The Identity Trap beschrieben habe. Es geht tiefer als die „Identity Synthesis“, tiefer als die Obsession mit Identität. Die Demokraten sind zur Partei einer hochgradig zertifizierten, sehr wohlhabenden Elite geworden. Thomas Piketty – dem ich nicht in allem zustimme – nennt das die „Brahmanisierung der Linken“. Dieses Phänomen ist in den USA nachweisbar, aber auch in Europa. Mich hat kürzlich erstaunt zu sehen, dass die deutsche SPD, einst Partei der Arbeiter und des Proletariats, heute eine Wählerkoalition hat, in der 20 Prozent Arbeiter sind – und 60 Prozent Beamte, also meist obere Mittelschicht und Mittelschicht.
Warum vertritt die Demokratische Partei bei manchen Themen törichte Positionen? Weil Identität im Zentrum ihrer Koalition steht. Und warum steht Identität dort im Zentrum? Nicht, weil es eine organische Nachfrage von Latinos und Schwarzen gäbe, die angeblich die Basis der Demokraten sind. Viele von ihnen haben in kulturellen Fragen eher konservative Ansichten – und sie sprechen ganz gewiss nicht so, als kämen sie gerade aus einem Proseminar an der Harvard University. Sondern weil die Partei von den Produkten der meritokratischen, professionellen Managerklasse getragen, finanziert und repräsentiert wird. Wie wir dieses Problem lösen, weiß ich nicht.
Packer: In The Emergency gibt es dazu eine Analogie – denn es geht nicht nur um Bildung. Bildung ist die entscheidende Trennlinie, aber sie spiegelt eine Stadt-Land-Spaltung, die immer größer geworden ist. Im Roman heißen die Städter „Bürger“ und die Landbevölkerung „Yeomen“. Dahinter steht das Gefühl, dass wir in den letzten 25 Jahren fast zu zwei verschiedenen – nicht ganz Spezies, aber doch Menschentypen – geworden sind. Das stammt aus meiner Recherche im ländlichen Raum für The Unwinding: Wenn ich aus Brooklyn nach West-North-Carolina fuhr, fühlte es sich an, als wäre ich weiter gereist als nach dem Irak. Wir scheinen nicht mehr dieselbe Kultur oder Sprache zu teilen; wir essen anderes, sehen anderes – das schlich sich ein und wurde Trumps Markenzeichen.
Wie es dazu kam, ist eine lange Geschichte – ich habe es in Sachtexten oft beschrieben. Im Roman ist es gegeben; was es erzeugt, sind gewaltige wechselseitige Ressentiments und Missverständnisse. Wir begreifen schlicht nicht, was „die anderen“ denken oder schätzen – und unterstellen, was uns die sozialen Medien nahelegen: Auf dem Land seien sie alle rassistisch, in den Städten alle verdorben. Das ist mir fast in Fleisch und Blut zur größten Sorge geworden: wie weit die Hälfte des Landes von der anderen abgerückt ist.
Für die Demokraten ist das ein strukturelles Problem, weil sie am Ende dieser Spaltung meistens verlieren. Der Senat ist zugunsten ländlicher Regionen verzerrt, das Repräsentantenhaus ebenfalls, das Electoral College genauso – selbst das House, weil die Stimmen in Städten konzentriert sind. Sie kämpfen also ständig bergauf und auf ungünstigem Terrain, weil sich die Stadt-Land-Spaltung mit der Bildungs-/Nichtbildungs-Spaltung deckt. Ohne diese Kluft zu überbrücken und Wähler zurückzugewinnen, die noch vor Kurzem – in den 1990ern, 2008 als letztem Aufbäumen – demokratisch wählten, werden die Demokraten keine Mehrheitspartei.
Wie hat Obama das geschafft? Im Kern, indem er sagte: Ihr fühlt euch abgehängt, missverstanden, das System arbeitet nicht für euch. Ich bin auch ein Außenseiter; meine Geschichte zeigt, wie es funktionieren könnte, wenn wir besser zusammenstehen. Das war für einen kurzen Moment eine siegreiche Botschaft – getragen von einem Ausnahmetalent. Aber die Partei muss dorthin zurückschauen, um nach vorn zu kommen.
Bevor wir schließen – wir laufen sicher gegen die Zeit –, Yascha: Wie belebt man den Liberalismus selbst? Wenn das die Philosophie ist, die uns wichtig ist – die unsere politischen Positionen prägt, unsere Stimmen leitet, unsere Identität formt –, dann wirkt sie müde. Verbraucht. Lese ich MAGA-Intellektuelle, spüre ich Energie, Furor; Liberale schauen zurück zu John Rawls. Wie bringt man Werte, auf die wir nicht verzichten wollen, in Gegenwart und Zukunft? Das ist sicher eine längere Debatte – aber ich muss dich mit dieser Frage entlassen.
Mounk: Ein guter Auftakt immerhin. Zwei Gedanken dazu. Erstens überschätzen wir meiner Meinung nach die Energie auf der postliberalen Rechten – oder zumindest die Tiefe ihrer Ideen. Ich habe kürzlich in London mit Curtis Yarvin debattiert; ich hoffe, die Rechte an dem Gespräch zu bekommen, um es im Podcast zu senden. Seine Ideen fand ich nicht besonders beeindruckend – und es war nicht schwer, den Liberalismus gegen diese Kritik zu verteidigen. Wir sollten uns intellektuell mehr zutrauen, als wir es in diesem Moment oft tun. Da ist viel Rauch – mal sehen, wie viel Feuer.
Zweitens glaube ich, dass uns die Umstände in mancher Hinsicht in die Hände spielen. Die Tugenden des Liberalismus sind schwer zu vermitteln, wenn man in einer Welt lebt, die – bei allen Ungerechtigkeiten, Ausschlüssen, Ausnahmen – im Kern liberal ist. Zu erklären, warum freie Rede, rechtsstaatliches Verfahren, Gewaltenteilung wichtig sind, ist schwer mitreißend, wenn freie Rede meist respektiert wird, Due Process existiert und die Gewaltenteilung eingehalten wird.
In einer Welt aber, in der die Regierung die Macht des Bundesstaats nutzt, um Rede zu unterdrücken – in der etwa im Vereinigten Königreich jährlich über 10.000 Menschen wegen unpopulärer Äußerungen festgenommen werden –, werden diese Werte plötzlich greifbar. Die Idee des rechtsstaatlichen Verfahrens ist sehr abstrakt – bis ein Präsident seinem Justizminister in einer wohl privat gemeinten Nachricht nahelegt, bestimmte Personen ins Visier zu nehmen, und wenige Tage später neu eingesetzte Staatsanwälte genau diese Personen anklagen. Dann ist das keine abstrakte Sorge mehr.
Packer: Gut – du hinterlässt mir ein Fünkchen Optimismus, und das ist gut. Mein letzter Einwand: Wir leben in dieser Welt, in der unsere Herrschenden liberale Werte täglich mit Füßen treten. Ich weiß nicht, wie stark die Amerikaner darauf in der Breite reagieren – und sie abwählen. Ist es zu fern, zu abstrakt, wenn es einen salvadorianischen Einwanderer trifft, eine Eliteuniversität, eine Stadt tausend Meilen entfernt, die fremd wirkt? Ich weiß es nicht.
Wir werden es sehen – aber mich beunruhigt eine Art Benommenheit, in die viele Amerikaner verfallen sind, während all das geschieht. Ich weiß nicht, was sie aufrüttelt. Bis das geschieht, wird es weitergehen. Und ich werde mich fragen, ob diese Werte für die meisten von uns wirklich noch zählen.
Mounk: Da gehe ich mit. Du hast mich höflich unterbrochen, bevor ich zum pessimistischeren Teil kam – lass mich zwei düstere Punkte ergänzen. Erstens die Frage nach dem Zeitpunkt. Ich glaube, der durchschnittliche Bürger Venezuelas – und wohl auch der Türkei – versteht heute sehr genau, wie wichtig der Liberalismus ist. Er benutzt vielleicht nicht das Wort, aber er weiß, was es heißt, in einem liberalen Land zu leben. Sagst du ihm, warum Due Process und freie Rede wichtig sind, rennst du offene Türen ein. Nur: Dort ist es zu spät, das politisch einfach zu wenden. Es gibt keine Wahlen mehr, in denen eine überzeugende Mehrheit sagt – zack –, Erdoğan ist weg, zack, Maduro ist weg. Die Frage ist: Wann lernen wir diese Lektion? Vielleicht zu spät.
Zweitens: Jedes Mal, wenn der Liberalismus in eine tiefe Krise geraten ist – wie jetzt; im 19. Jahrhundert und offenkundig in der Mitte des 20. Jahrhunderts –, musste er sich neu erfinden. Ja, es gibt jetzt eine große Chance, die Bedeutung von freier Rede, Due Process, Gewaltenteilung zu predigen. Aber um Erfolg zu haben, muss der Liberalismus alte Gewissheiten loslassen, aufhören, in der Sprache von 2000 oder 1970 zu reden, und Antworten auf neue, drängende Probleme finden. Ich fürchte, wir arbeiten nicht genug daran. Das versuche ich – vielleicht wird es mein nächstes Buch –, und das versucht Persuasion. Wenn du Förderer bist: Melde dich gern; Persuasion läuft gerade eine sehr ambitionierte Serie dazu, wie man den Liberalismus neu belebt. Das ist die Aufgabe, die wir angehen müssen – und ich sehe zu wenig davon. Je verrückter Trump wird und je unheimlicher dieser Moment, desto weniger davon tun wir; desto eher scheint es zu reichen, einfach zu rufen, wie schlimm Trump ist.
Ich könnte jeden Morgen aufstehen und einen Artikel darüber schreiben, wie schlimm Trump ist – und ich glaube es jeden Morgen. Ich widerstehe dem Impuls – nicht immer, manchmal muss man es sagen –, weil ich wirklich glaube: Da kommen wir nicht durch, indem wir nur vom Dach rufen, wie gefährlich er ist. Sondern indem wir selbstkritisch sind und unsere politische Tradition neu erfinden, sie auf neue Weise lebendig machen. Das ist eine große intellektuelle Aufgabe, und ich sehe zu wenige, die sich ihr ernsthaft stellen. Es ist schwer. Ich weiß nicht, ob ich selbst einen nennenswerten Beitrag leisten werde – aber das sollte unser gemeinsames Ziel sein. Daran arbeite ich, bescheiden, so gut ich kann.
Packer: Es ist ein ehrenwertes Unterfangen, und du weißt, dass ich es unterstütze. Das ist eher dein Revier als meins; ich höre dir dazu viel zu. Es ist schwer – wirklich schwer –, weil es lange dauert. Es passiert nicht auf einer Konferenz oder einem Retreat, wo man schmissige Botschaften bastelt, die alle Widersprüche auflösen. Vieles geschieht unbewusst: Neue Institutionen entstehen, neue Menschen treten hervor.
Denk daran, wie auf die Gilded Age die Progressive Era und dann der New Deal folgten. Viele der gleichen Übel – Masseneinwanderung mit all ihren Spannungen, Arbeitsunruhe, Ungleichheit, Monopole, gewaltige technologische Umbrüche – all das gab es schon vor 120 Jahren. Es dauerte mindestens eine Generation vom ersten Aufbegehren der 1890er-Jahre bis zur vollen Ausprägung eines neuen Liberalismus im New Deal der 1930er. Das hielt dann rund 50 Jahre – und begann zu erodieren; heute wirkt es politisch und programmatisch verbraucht, vielleicht längst.
Wie belebt man die Werte? Man wirft sie nicht weg. Man sagt nicht: Wir müssen die andere Seite kopieren, nur weil sie gerade besser aussieht. Aber man muss radikal offen sein, Ideen und Positionen neu zu bedenken. Ich stimme dir zu: Die Demokratische Partei hockt derzeit in einer Defensivhaltung – und das ist kein guter Ausgangspunkt.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.


