Irshad Manji über wie man einander in turbulenten Zeiten versteht
Irshad Manji ist Gründerin des Moral Courage College, das Menschen weltweit dabei hilft, aus hitzigen Streitfragen gesunde Gespräche und langfristige Zusammenarbeit zu machen. Ihr neuestes Buch heißt Don’t Label Me: How to Do Diversity Without Inflaming the Culture Wars.
In der aktuellen Folge sprechen Yascha Mounk und Irshad Manji darüber, wie es sich anfühlt, in turbulenten Zeiten US-Bürgerin zu werden, wie man über kontroverse Themen reden kann, ohne gleich gecancelt zu werden – und wie man der Versuchung widersteht, immer Recht haben zu wollen.
Die gesellschaftliche Polarisierung ist so stark wie nie zuvor. Da kann es ziemlich entmutigend wirken – vielleicht sogar naiv –, den Dialog mit Menschen zu suchen, die ganz andere Ansichten vertreten. Was heißt es also, in so einem Moment für Pluralismus einzutreten? Die neue Serie von Persuasion über die Zukunft des Pluralismus – gefördert von der Arthur Vining Davis Foundation – versammelt Essays und Podcastgespräche, die zeigen, warum wir den zivilen Dialog brauchen, und stellt inspirierende Beispiele vor, wie er in der Praxis gelingt.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Du bist ja vor Kurzem US-Staatsbürgerin geworden. Warum? Ist das nicht gerade der falsche Moment, um Amerikanerin zu werden?
Irshad Manji: Lustig, dass du das sagst, Yascha – denn als ich vielen meiner amerikanischen Freundinnen und Freunde erzählt habe, dass ich eingebürgert wurde, haben einige von ihnen – inklusive ein paar Konservativen – mir tatsächlich ihr Beileid ausgesprochen. Die meinten wortwörtlich: „Bist du sicher, dass du das wirklich machen willst?“ Als ich es meinen kanadischen Freunden erzählt habe – und das sind größtenteils keine Konservativen – haben sie mir gratuliert. Das war irgendwie eine interessante Rollenumkehr: Kanadier waren historisch ja immer ein bisschen unsicher, was ihre eigene Identität betrifft – vor allem wenn man gleich neben dem riesigen Elefanten USA lebt. Aber im Lauf der Jahre, und lange vor Trump 2.0, haben Kanadier ein Selbstbewusstsein entwickelt, das ganz gut zu Trumps eigener Arroganz passt, als er meinte, Kanada den Handelskrieg erklären zu müssen. Ich sag dir: Kanadier sind bereit, diesen Krieg zu gewinnen.
Was ich eigentlich sagen will: Ich liebe die Menschen in den USA. Klar, das ist jetzt ein ziemliches Klischee, aber ich reise für meine Arbeit ständig durchs Land – und ich finde, die Leute hier sind viel großzügiger, offener, verbindlicher und freundlicher als in so ziemlich jedem anderen Land. Einschließlich Kanada, wo ich aufgewachsen bin und dem ich wirklich dankbar bin. Deshalb bin ich geblieben. Und du? Du bist ja auch eingebürgert worden – nicht ganz frisch, aber vor, was, fünf Jahren?
Mounk: Genau. Ich wurde kurz nach Trumps erster Wahl eingebürgert – also auch zu einem seltsamen Zeitpunkt. Ein großer Teil des Grundes war, dass ich den politischen Grundwerten der Vereinigten Staaten weiterhin verpflichtet war – den Prinzipien, wie sie in der Verfassung verankert sind. Und ich war damals auch noch ziemlich optimistisch, was die Fähigkeit Amerikas angeht, als diverse Demokratie zu funktionieren. Ich dachte, dass die USA eine viel größere Chance haben als andere Länder, ethnische und religiöse Vielfalt zu einem gemeinsamen Projekt und einer gemeinsamen Gesellschaft zu machen. In mancher Hinsicht bin ich seit 2017 sogar optimistischer geworden. Es ist zum Beispiel ermutigend, dass die Hautfarbe oder die ethnische Herkunft heute weniger stark vorhersagt, wen jemand wählt, als noch vor acht Jahren. Aber in anderer Hinsicht mache ich mir heute mehr Sorgen als früher. Ich fürchte, dass wir in eine tiefe Polarisierung abrutschen könnten, die genau diese Grundwerte untergräbt, für die ich damals unterschrieben habe. Das ist vielleicht ein ganz spannender Vergleich: Wie fühlt es sich 2025 im Vergleich zu 2017 an, US-Bürger zu sein? Und wie viel Hoffnung hast du, dass unser demokratisches Experiment weiter Bestand hat?
Manji: Darf ich dir sagen, warum ich vielleicht mehr Hoffnung habe als viele Leute, die eher links der Mitte stehen? Ich erlebe die Dinge sehr direkt und im Alltag – einfach, weil meine Arbeit mich mit Menschen in ihren ganz normalen Lebensumständen zusammenbringt. Am Tag nach der Wahl im November hatte ich schon lange einen Vortrag bei einer großen Gruppe von Lehrkräften im sogenannten Heartland geplant. Ich habe angefangen, indem ich gefragt habe, wie es ihnen geht. Du kannst dir vorstellen: erstmal Stille. Und dann habe ich in der ersten Reihe jemanden leise schluchzen hören. Eine Frau weinte. Ich habe sie gefragt, ob sie erzählen möchte, was in ihr vorgeht – und was sie dann sagte, war wirklich aufbauend. Sie meinte: „Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich mich dazu verpflichtet habe, in meiner Gemeinschaft, meiner Nachbarschaft, meinem Umfeld präsenter zu sein als jemals zuvor. Denn dort weiß ich, dass ich dazugehöre. Dort weiß ich, dass ich etwas bewegen kann.“ Während ich ihr zuhörte, sah ich im Augenwinkel, wie hinten im Saal jemand winkte. Ich drehte mich um – es war eine andere Lehrerin, die mit einem Päckchen Kleenex wedelte. Sie wollte, dass ich es nach vorne reiche.
Für viele Hörer mag das jetzt total banal klingen, Yascha. Aber ich sag dir ganz ehrlich: Genau so was liebe ich an den USA und den Menschen hier. Wenn’s drauf ankommt, helfen sie sich gegenseitig – nicht nur in den großen Dingen, sondern auch im ganz Kleinen. Und das sehe ich in Kanada meistens nicht. Da höre ich oft nur, wie sich alle über die Regierung beschweren, selbst bei lokalen Krisen. Natürlich, ich will nicht zu pauschal sein – das sind alles große Verallgemeinerungen. Aber genau weil ich in Kanada lange keine echte Solidarität gespürt habe – außer jetzt vielleicht durch Trumps Angriff auf die kanadische Souveränität – hat mich dieser Unterschied so getroffen. Diese Art von Zusammenhalt auf Nachbarschaftsebene, wie ich ihn hier in Amerika oft erlebe, den habe ich in Kanada einfach nicht wahrgenommen. Ich hoffe wirklich, dass sich dieser Zusammenhalt nicht nur hält, sondern vielleicht sogar noch stärker wird – gerade, weil den Leuten klar wird: Nationale Politik darf nicht unsere Beziehungen vor Ort vergiften.
Mounk: Das unterschreibe ich sofort. Die Frage ist nur: Wann kippt dieser Zusammenhalt? Eine gute Freundin von mir ist Kroatin. Sie ist zum Teil noch vor dem Bürgerkrieg aufgewachsen, hat aber auch einen Teil ihrer Kindheit während des Jugoslawienkriegs erlebt. Und sie hat immer gesagt: Das alles war das Werk von Politikern, von oben aufgedrückt – die normalen Leute hatten nie ein Problem miteinander. Ich fand das immer bemerkenswert. Und ja, vielleicht idealisiert sie das auch ein bisschen. Wahrscheinlich war ihr Umfeld in Jugoslawien viel multinationaler und kosmopolitischer als andere. Sie wuchs in einer Großstadt auf, nicht auf dem Land. Im Alltag können Nachbarn sich gut verstehen, sich respektieren, einander helfen. Aber wenn die politische Lage schlimm genug wird, kann das irgendwann nicht mehr reichen. Ich sage jetzt nicht, dass uns ein ethnischer Bürgerkrieg wie damals in Jugoslawien bevorsteht – das halte ich für extrem unwahrscheinlich. Aber vielleicht ist es ja so: Die alltägliche Freundlichkeit, die Offenheit, die Toleranz – all das, was für mich typisch amerikanisch ist – kann durchaus gleichzeitig existieren mit politischem Zorn, mit der Bereitschaft, das System einzureißen, mit dem Willen, das eigene Land radikal umzukrempeln. Und das kann dann am Ende ziemlich böse Folgen haben.
Manji: Ganz genau. Deshalb denke ich: Wer heute entweder in völliger Verzweiflung steckt oder naiv optimistisch in die Zukunft schaut, hat einfach nicht verstanden, wie komplex menschliche Systeme sind – nicht nur Amerika, sondern generell. Komplexe Systeme sind per Definition unvorhersehbar. Menschen sind keine Maschinen. Wir können nicht einfach ein defektes Teil austauschen, und alles läuft wieder wie geschmiert. Nein, wir sind anpassungsfähige Wesen. In unterschiedlichen Kontexten kommen unterschiedliche Seiten von uns zum Vorschein. Deswegen glaube ich auch so sehr an die Kraft von „relational leadership“ – also einer Art von Führung, die auf Beziehungen setzt. Wenn wir uns auf schwierige Gespräche einlassen, dann macht es einen riesigen Unterschied, ob wir neugierig oder verurteilend auftreten. Das entscheidet darüber, ob aus einem Gespräch ein Dialog oder ein Schlagabtausch wird. Und gerade, weil wir auch jetzt noch Handlungsspielraum haben, haben wir auch die Verantwortung, diesen Raum zu nutzen. Politikerinnen und Politiker können wir nicht kontrollieren – das wissen wir alle. Aber unsere eigene Haltung können wir sehr wohl steuern. Und so Vertrauen stärken oder Misstrauen abbauen, wo wir gerade stehen.
Mounk: Was heißt das konkret? Ich glaube, viele, die diesen Podcast hören, stimmen dir grundsätzlich zu. Sie wollen diesen Kontakt zu anderen, wollen Brücken bauen. Aber oft wirkt dieser Appell ein bisschen abstrakt: „Geht raus und macht was!“ – aber wie genau eigentlich? Vor allem, ohne dabei die eigenen Überzeugungen zu verleugnen, was ja auch irgendwie unehrlich wäre. Gibt es einen Weg, mit Leuten in echter Gemeinschaft zu leben, die politisch ganz anders ticken – und zwar so, dass man die Unterschiede weder ausblendet, noch zulässt, dass sie einen trennen?
Manji: Ja, ich glaube nicht nur, dass es diesen Weg gibt – ich finde sogar, dass darin etwas richtig Schönes steckt. Es geht um ein „Sowohl-als-auch“ im Alltag: Du kannst zu deiner Meinung stehen und gleichzeitig eine gemeinsame Basis schaffen. Lass uns das kurz aufdröseln. Zu seiner Meinung stehen heißt: Du weißt, woran du glaubst. Das gehört zu deiner Identität. Viele Menschen verbinden genau das mit Integrität – und ich bin die Letzte, die sagen würde: „Leg das ab.“ Überhaupt nicht. Gemeinsame Basis schaffen heißt: Wie drückst du deine Meinung aus? Komm mit Neugier statt mit Urteil. Frag ehrlich nach der Geschichte des anderen. Hör nicht nur zu, um zu verstehen – hör zu, um zu lernen. Heute bedeutet „zuhören“ oft nur, dass man das Lippenbekenntnis „Ich höre dich“ runterleiert – und dann einfach zur eigenen Agenda zurückkehrt. Als ob andere nur Objekte in unserem kleinen Drama wären.
Ich bin mir übrigens nicht sicher, ob ich dir da in einem Punkt zustimme. Studien zeigen immer wieder: Menschen brauchen gar nicht unbedingt Zustimmung – sie wollen einfach nur gehört werden. Viele setzen „zuhören“ gleich mit „zustimmen“. Und wenn wir in diese Falle tappen, glauben wir schnell, dass wir jetzt irgendwie „mitschuldig“ sind, weil wir nicht direkt zurückschlagen oder „etwas klarstellen“. Aber da ist keine Mitschuld. Im Gegenteil: Wenn du Leute direkt konfrontierst, werden sie nur defensiver – und dadurch oft noch sturer, als sie eigentlich wären. Ich nenne diesen Ansatz „moralische Courage“: Du sprichst nicht nur die Macht da draußen an, sondern auch die Macht in deinem eigenen Gehirn. Und das Schöne daran: Wenn du die Temperatur senkst, hören dir die anderen plötzlich wirklich zu. Es geht hier nicht um Höflichkeit – ich mag das Wort ehrlich gesagt gar nicht. Es geht auch nicht darum, nett zu sein. Es geht darum, wirksam zu kommunizieren – damit das, was du sagst, tatsächlich Gehör findet.
Mounk: Ich finde diesen Ansatz wirklich überzeugend. Aber gleichzeitig höre ich in meinem Kopf schon die Einwände dagegen. Einer davon lautet: Ein Teil der heutigen politischen Führung will doch provozieren. Die leben davon, andere zu reizen. Die haben Spaß daran Leute zu schockieren. Zum MAGA-Stil gehört es ja gerade, Dinge in Brand zu setzen, nicht Brücken zu bauen.
Manji: Da geh ich mit. Und ich will da auch ganz klar sein: Ich sage nicht, dass diese Haltung – ehrliche Fragen stellen, wirklich zuhören, aktiv gemeinsame Basis schaffen – aus professionellen Konflikttreiber plötzlich Heilige macht. Überhaupt nicht. Aber zwei Punkte sind mir wichtig. Erstens: Du weißt nie, mit wem du es wirklich zu tun hast, bis du’s ausprobierst. Ich hab es oft erlebt, dass Leute bei mir automatisch denken: „Ah, die hat sicher irgendeine politische Agenda, die will mich gleich rhetorisch fertig machen.“ Und dann wird aus der goldenen Regel schnell eine neue Regel: Tu ihnen was, bevor sie dir was tun. Das heißt, sie gehen sofort in Angriffsmodus, einfach nur aus der Annahme heraus, ich würde dasselbe mit ihnen machen. Wenn sie dann merken, dass das überhaupt nicht mein Stil ist, dass ich sie nicht auf irgendeine politische Schublade reduziere – sondern ihnen wirklich zuhöre – dann verändert sich was.
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Also, erstens: Geh nicht davon aus, dass alle Narzissten, Soziopathen oder Polarisierer sind. Klar, manche Leute sind genau das. Aber ich finde, es ist völlig in Ordnung, Respekt anzubieten, dann festzustellen, dass da absolut nichts zurückkommt, und am Ende zu sagen: Ich hab dir in diesem Gespräch so viel Respekt entgegengebracht, wie ich konnte – aber ich merke, da kommt nichts zurück. Lass uns einfach wieder anknüpfen, wenn du bereit bist, mir ebenfalls Respekt zu zeigen.
Achte mal drauf, was du nicht sagst: Du sagst nicht „Leck mich“, was das Gespräch für heute und für immer beendet. Du sagst auch nicht: „Dann müssen wir eben einsehen, dass wir uns uneinig sind“, was wieder die Tür zuschlägt. Stattdessen gibst du dem anderen die Verantwortung zurück. Wenn der Person das Thema wichtig genug ist, wird sie sich mit einer erwachseneren Haltung melden müssen.
Mounk: Das finde ich wirklich spannend. Wie sieht das Ganze denn in einem engeren, persönlicheren Kontext aus? Wenn es um Fremde geht – jemand auf dem Marktplatz, der dich einfach nur anbrüllt und provozieren will – ist es leicht, Grenzen zu ziehen. Man erkennt die Leute, die einfach Spaß an der Konfrontation haben. Und mit denen lohnt sich ein echtes Gespräch dann meist auch gar nicht. Auf der anderen Seite gibt’s dann das Idealszenario: Jemand, der echt gut drauf ist, einfach eine ganz andere Meinung hat, und mit dem man ein zivilisiertes Gespräch führen kann – ein Wort, das du ja nicht so magst.
Aber viele Situationen sind eben nicht so klar. Nehmen wir eine jüdische Familie, in der es tiefe Meinungsverschiedenheiten über Israel und Palästina gibt. Das sind Leute, die du im Grunde liebst und für gute Menschen hältst, aber beim Thema Politik fliegen die Fetzen. Oder, anderes Beispiel: In einer linksgerichteten Freundesgruppe gibt’s hitzige Debatten über Transrechte – und vielleicht gibt’s da Leute, die sehr stark auf der Seite von Transaktivismus stehen, und andere, die man heute als „TERFs“ bezeichnen würde, die auf biologische Geschlechtsunterschiede pochen. Auch da gibt’s Vertrauen im Alltag, man mag sich grundsätzlich – aber sobald es politisch wird, kommen Vorwürfe. Dann heißt es schnell: „Wenn du meine Sicht auf Transrechte nicht teilst, bist du ein schlechter Mensch – und niemand sollte noch mit dir sprechen.“ Wie kommt man in solchen Kontexten weiter?
Manji: Ich glaube, Schritt eins ist eine richtig ehrliche Frage an sich selbst: Warum will ich dieses Gespräch überhaupt führen? Will ich einfach nur ein Statement abgeben? Oder will ich wirklich etwas bewegen? Wenn du nur ein Statement abgeben willst – okay, dein gutes Recht. Wir leben zum Glück noch in einem Land, in dem du das kannst. Aber dann darfst du dich nicht wundern, wenn dein Gegenüber gar keinen Anreiz hat, dir wirklich zuzuhören. Weil du ja nur stampfst. Wenn du aber auch etwas verändern willst, beeinflusst das deine ganze Haltung. Dann kommen die Tools ins Spiel, über die wir gesprochen haben. Du kannst das Gespräch zum Beispiel so beginnen: „Ich weiß, wie leidenschaftlich du bei diesem Thema bist. Ich bin’s auch. Genau deshalb reden wir ja miteinander. Aber ich weiß auch: Du bist so viel mehr als nur dieses Thema. Ich hab also kein Recht, dich nur darauf zu reduzieren. Kannst du das umgekehrt auch bei mir so sehen?“
Wenn dein Gegenüber kein Soziopath ist, wird er oder sie damit meistens sofort mitgehen. Und was du dann oft siehst, ist so ein leiser Seufzer der Erleichterung. Denn es gibt eine Sache, vor der Menschen mehr Angst haben als vor dem Tod: Verurteilung, mit der sie nicht gerechnet haben. Wenn du ein Olympionike bist, hast du dich bewusst dafür entschieden, bewertet zu werden. Aber wenn du mit einem Freund oder einer Freundin sprichst, hast du das nicht. Daher kommt übrigens das Wort „mortified“ (deutsch: gedemütigt) – es stammt vom französischen „mort“, also Tod. Wenn wir uns „mortified“ fühlen, dann sterben wir innerlich ein bisschen. Und genau deswegen ist dieses ungefragte, ungeplante Urteil so verletzend. Deshalb: Mach klar, dass du nicht da bist, um jemanden zu verurteilen. Und dann schau mal, was passiert.
Mounk: Ich stimme dir da größtenteils zu. Aber eine Sache macht mir Sorgen: Es gibt eine ganze politische Infrastruktur, die dafür sorgt, dass Menschen, die absolut keine Soziopathen sind, trotzdem extrem wertend werden. Da gibt es ein ganzes ideologisches Überbauwerk, das dir einredet: Wenn jemand nicht exakt deine Meinung zu einem bestimmten Konflikt im Nahen Osten oder zur Definition einer Frau teilt, dann ist das ein schrecklicher Mensch, der will, dass andere leiden und sterben. In so einem Umfeld – wenn bestimmte Medien das noch verstärken, und wenn dein ganzes soziales Umfeld dir klarmacht, dass du rausfliegst, wenn du nicht die richtige Meinung vertrittst – dann fangen selbst Leute, die einfach nur ihr Leben leben, ihre Freundschaften pflegen und in ihrem Beruf bestehen wollen (zum Beispiel in einem eher links geprägten Bereich wie der Kunstszene), an zu denken: Wenn ich nicht auch so urteile, wenn ich nicht sofort jeden meide, der nicht die richtige, orthodoxe Haltung hat – und ihn wie eine Art verseuchte Substanz behandle –, dann bin ich der Nächste, der rausfliegt.
Genau das ist es, was dieser intellektuelle oder ideologische Überbau macht. Er nutzt viele unserer zutiefst sozialen Instinkte gegen uns – etwa unseren Wunsch, mit anderen verbunden zu sein, und unsere Angst vor sozialer Ausgrenzung –, um uns dazu zu bringen, uns selbst in genau jene Soziopathen zu verwandeln, die die Menschlichkeit des einen Andersdenkenden nicht mehr sehen, die die guten, ehrenwerten Motive dieser Person nicht mehr wahrnehmen können, nur weil sie eine andere Meinung vertritt – ganz egal, ob sie damit recht hat oder nicht. Denn genau das, so wird uns vermittelt, sei der Preis, um weiter Teil der Gruppe zu bleiben: Teil unserer Freundesgruppe, Teil unserer Familie, Teil unserer Community.
Manji: Ich verstehe dich. Genau in solchen Momenten, in solchen Situationen, sind ehrliche Fragen Gold wert. Wenn ich zum Beispiel die Andersdenkende bin und du jemand bist, der in der Freundesgruppe eine bestimmte Orthodoxie durchsetzen will, dann sollte ich überhaupt kein Problem damit haben, dich zu fragen: Hast du eigentlich selbst manchmal Angst, gecancelt zu werden? – und dann schauen, wie sich das Gespräch entwickelt. Und ganz egal, was du antwortest, da gibt es immer noch eine nächste Frage. Und weil du aus einer Haltung der Neugier fragst und nicht aus einem inquisitorischen Impuls, setzt du damit gleich den Ton für das Gespräch. Du öffnest einen Raum, in dem es ein bisschen mehr Spielraum gibt. Und in so einem Gespräch solltest du dann auch ganz offen sagen können: Ich selbst habe Angst, gecancelt zu werden. Würdest du das mit mir machen? – und dann das Gespräch einfach weiterlaufen lassen. Ich glaube, vielen ist das gar nicht klar, aber wenn man sich freiwillig verletzlich zeigt – anstatt dass einem diese Verletzlichkeit von außen aufgezwungen wird –, dann wirkt das gar nicht wie Schwäche. Es wirkt wie Stärke. Und zwar eine Stärke, die nicht überheblich ist. Also: Lass dich drauf ein. Du wirst merken, dass es oft – wenn nicht sogar fast immer – diejenigen entwaffnet, die mit dem Ziel ins Gespräch gekommen sind, zu verletzen. Und wenn sie deine Verletzlichkeit doch gegen dich verwenden wollen, dann kannst du dich auf das berufen, worüber wir vorhin gesprochen haben: Sag ihnen, dass du ihnen so viel Respekt entgegengebracht hast, wie du konntest – aber dass du davon nichts zurückbekommst. Und wenn sie bereit sind, dir diesen Respekt zu zeigen, könnt ihr dort weitermachen, wo ihr aufgehört habt. Du hast deinen Handlungsspielraum genutzt, um klare Bedingungen zu setzen – jetzt liegt der Ball im Feld der Person, die sich bislang respektlos verhalten hat.
Mounk: Ich glaube, wie die meisten Menschen, waren auch du und ich früher ein bisschen ideologischer unterwegs. Vielleicht ist es einfach Teil des Älterwerdens, dass man irgendwann merkt: Man lag in manchen Dingen daneben. Manche Entwicklungen sind ganz anders verlaufen, als man dachte. Und manche Menschen, auf die man früher herabgeblickt hat, sind eigentlich ziemlich anständig – während andere, zu denen man aufsah oder die man als Teil des eigenen Lagers betrachtete, sich als gar nicht so toll herausgestellt haben. Man lernt, ein bisschen selbstkritischer zu sein, ein bisschen weniger überzeugt von der eigenen Unfehlbarkeit. Aber wie schafft man es – jenseits dieses scheinbar unvermeidlichen Reifungsprozesses (und ja, ich weiß, ich klinge wie 80) – der Versuchung zu entkommen, immer so verdammt sicher zu sein? Es gibt ja eine echte moralische Befriedigung darin, zu glauben, man stehe auf der Seite des Guten und Gerechten – und jeder, der widerspricht, versteht einfach nicht, wie wichtig diese moralische Sache ist, oder will schlicht, dass andere Menschen leiden. Das gibt einem das Gefühl, Teil einer großen, moralisch überlegenen Bewegung zu sein. Es gibt einem das Gefühl, besser zu sein als der andere. Und es liefert einfache Antworten auf die großen Fragen des Lebens: nach Sinn und Wahrheit. Das sind keine kleinen Dinge. Wie lernt man also, diese einfachen, schnellen Befriedigungen loszulassen – und stattdessen die langsameren, vielleicht mühsameren Freuden einer fundierten, aber offenen Haltung zu genießen?
Manji: Diese simplen Glücksmomente, diese kleinen Dopamin-Kicks – klar, die kennt man. Ich hab sie früher auch genossen. Und zwar richtig. Für mich war’s tatsächlich das Älterwerden, das den Wendepunkt gebracht hat. Ich bin irgendwann einfach körperlich und psychisch eingebrochen. Meine Gesundheit hat massiv gelitten – nur weil ich darauf bestand, immer im Recht zu sein. Ganz kurz, für alle, die meine Geschichte nicht kennen: Kurz nach dem 11. September habe ich ein Buch geschrieben, The Trouble with Islam Today. Schon der Titel war natürlich eine Kampfansage. Und genau so ist es dann auch gekommen. Ich habe damals auf die Stimme in mir gehört, von der ich dachte, sie sei mein Gewissen – in Wirklichkeit war es mein Ego. Diese Stimme sagte mir: Du wirst angegriffen werden, von Leuten, die dein Buch nie gelesen haben und es auch nie lesen werden – aber trotzdem eine Meinung dazu haben. Und wenn sie dich angreifen, dann musst du zurückschlagen. Genau das hab ich gemacht. Immer und immer wieder. Ich hatte mir angewöhnt, potenziell gute Gespräche in vergiftete Schlagabtausche zu verwandeln. Aus einer Diskussion wurde sofort ein „Ich gewinne, du verlierst“.
Das Ergebnis: Meine Kritiker wurden noch lauter und aggressiver. Und selbst meine Unterstützer wurden irgendwann skeptisch: Geht’s ihr hier eigentlich noch darum, wirklich etwas zu bewegen? Oder geht’s ihr nur darum, klüger zu wirken als die anderen? Am Ende hat mein Körper einfach dichtgemacht. Ich hatte einen Anfall. Mitten in der Öffentlichkeit. Und ich denke heute: Das war nicht nur mein persönlicher Zusammenbruch, das war auch ein Bild für den Zustand unserer öffentlichen Debatte. Unsere Gesellschaft hat quasi einen Anfall. Wir sind so fragil geworden, dass allein schon der Gedanke an Widerspruch sich für viele wie ein persönlicher Angriff anfühlt.
Ich wusste also, dass ich etwas ändern musste – aber hier war mein Dilemma: Ich hatte starke Überzeugungen, von denen ich mich nicht trennen wollte. Je mehr ich mich mit den Entscheidungswissenschaften beschäftigt habe – also der Frage, warum wir Menschen tun, was wir tun, und warum wir oft nicht das tun, was wir behaupten zu tun –, desto klarer wurde mir: Wir alle kommen mit einem Gehirn zur Welt, das über eine primitive Region verfügt, die fünfmal pro Sekunde nach Bedrohung scannt. Wenn man das mit einer Kultur der sofortigen Bedürfnisbefriedigung kombiniert, in der so ziemlich alles politisiert ist, ist es kein Wunder, dass wir auf diese kognitive Täuschung hereinfallen, die uns glauben lässt, Widerspruch sei gleichbedeutend mit einem Angriff. Ich musste emotionale Vereinbarungen mit mir selbst treffen, um die Art von Tipps, Tools und Strategien, über die wir heute sprechen, tatsächlich zur Gewohnheit werden zu lassen. Eine dieser Vereinbarungen ist ganz einfach: Wenn mir jemand eine Frage stellt, auf die ich in meinem Innersten keine Antwort weiß, hinter der ich wirklich stehen kann, dann versuche ich nicht, mich irgendwie durchzulavieren – ich halte kurz inne und frage zurück: Wie würdest du mich darüber nachdenken lassen? Was würdest du mir raten? Es ist enorm befreiend, diesen Druck loszuwerden, immer recht haben zu müssen. Ich nehme diese Podcast-Folge im Stehen auf. Und ich erwähne das, weil ich heute nur deswegen aufrecht stehe und nicht flach auf dem Rücken liege – ausgelaugt und depressiv –, weil ich Neugier zur Gewohnheit gemacht habe. Und ich bin heute so viel glücklicher – nicht nur, weil Lernen Freude macht, sondern auch, weil ich gesünder bin. Mein Nervensystem wird nicht mehr Tag für Tag bis aufs Äußerste strapaziert.
Mounk: Ich mache im Unterricht oft etwas Ähnliches. Als ich das erste Mal unterrichtet habe, hatte ich große Angst davor, was passiert, wenn ich eine Frage nicht beantworten kann. Wie peinlich wäre es, wenn mir ein Erstsemester Student eine Frage stellt – und ich als Doktorand, der gerade ein Seminar leitet, weiß die Antwort nicht. Verlieren sie dann den Respekt vor mir? Verliere ich die Autorität, die ich brauche, um den Kurs vernünftig zu leiten? Heute warte ich auf genau diese Frage. Ich lebe für diese Frage, weil ich gemerkt habe: Wenn ich offen zugebe, dass ich etwas nicht weiß, steigt das Vertrauen der Studierenden in all das, was ich sonst sage, enorm. Wenn sie mich etwas fragen und ich sage: „Gute Frage. Weiß ich nicht. Kann das mal jemand googeln?“ oder „Ich schau das nach und geb euch nächste Woche Bescheid“ – je nachdem, wie komplex die Frage ist –, dann denken sie sich: Moment mal. Wenn dieser Professor etwas nicht weiß, sagt er das einfach so – dann heißt das ja, dass er bei allem, was er beantwortet, wirklich weiß, wovon er spricht. Das ist ein großartiger Moment im Klassenzimmer.
Was mein eigener Lernprozess zeigt, ist aber auch: Man braucht ein gewisses Maß an Selbstvertrauen. Als ich das erste Mal vor einer Klasse stand, hatte ich definitiv ein bisschen Impostor-Syndrom. Ich dachte: Habe ich hier wirklich was zu suchen? Weiß ich wirklich mehr als diese Studierenden? Verdiene ich es, da vorne zu stehen? Mit der Zeit – je mehr ich unterrichtet habe und gemerkt habe, dass ich ihnen wirklich etwas vermitteln kann und hoffentlich kein ganz schlechter Lehrer bin – habe ich diese Angst verloren. Ich konnte zugeben, dass ich etwas nicht wusste, weil ich nicht mehr damit beschäftigt war, mir selbst und anderen zu beweisen, dass ich den Platz da vorne verdient habe. Aber das zeigt auch: Man muss sich in einem ziemlich heiklen psychologischen Raum bewegen. Wenn du zu wenig Selbstvertrauen hast, zu wenig Ego, gehst du in solche Gespräche mit dem Impuls: Ich muss dir zeigen, dass ich klüger bin als du. Ich darf mir keine Blöße geben. Ich muss beweisen, dass ich Bescheid weiß. Und genau dann lässt man keine Offenheit zu, keine Verletzlichkeit – und verpasst alles, worüber wir hier sprechen.
Wenn man auf der anderen Seite zu viel Ego oder Selbstvertrauen hat, geht man vielleicht genau deshalb in eine Diskussion rein – nicht um wirklich zuzuhören, sondern weil man sich ein bisschen nach Streit sehnt oder nach Aufmerksamkeit. Vielleicht lebt man sogar ein Stück weit für die Kontroverse. Und das macht’s dann schwierig, weil man sich wirklich genau in der richtigen Zone bewegen muss: genug Selbstvertrauen, um sich verletzlich zu zeigen, offen zu sein – aber nicht so viel, dass man kein echtes Interesse mehr daran hat, im Gespräch zu bleiben, sich überzeugen zu lassen, und selbst mit Argumenten zu überzeugen. Ich fürchte nur, es gibt nicht besonders viele Leute, die genau in dieser Schnittmenge landen.
Manji: Da hast du recht. Momentan gibt’s tatsächlich nicht viele, die genau in diesem Bereich der Venn-Diagramme leben. Aber genau deshalb bringe ich Menschen bei, wie man diese Haltung wirklich zur Gewohnheit macht. Du kannst wissen, dass es diesen Ansatz gibt. Du kannst sogar die ganzen Skills kennen, über die wir heute gesprochen haben. Aber Wissen ist nicht dasselbe wie Anwenden. Stell dir das vor wie bei einem Sport: Du kannst die Regeln kennen. Oder wie bei einer Fremdsprache: Du kennst vielleicht die Grammatik. Oder bei einem Instrument: Du weißt, wie der Ton entsteht. Aber gut wirst du erst, wenn du übst, übst, übst. Und die Wahrheit ist: Wenn du oft genug übst, wird’s leicht. Es wird komplett automatisch. Und genau dann hört dein primitiver Gehirnteil auf, sich gegen all das zu wehren – und du kannst auf eine Art durch die Welt gehen, die versöhnt, anstatt zu spalten.
Es gibt im Alltag so viele Situationen, in denen man das anwenden kann. Ich geb dir ein kleines Beispiel: Ich lebe in Brooklyn, und neulich habe ich einen Mann gesehen, der seinem Hund am Halsband rumgezerrt hat. Die Leine war richtig fest, und ich kenne jemanden, deren Hund daran gestorben ist, weil sie das zu oft gemacht hat. Bevor ich diese Skills trainiert hatte, hätte ich den Mann angeschrien: Wie kannst du nur! Das ist Misshandlung! Du solltest überhaupt kein Tier besitzen dürfen! Stattdessen hab ich zu ihm gesagt: „Das ist nicht mein Hund, sondern deiner, das verstehe ich. Ich will dir nur sagen, dass eine Freundin von mir ihren Hund verloren hat, weil sie genau das ein paar Mal zu oft gemacht hat. Ich würd dir dieses Gefühl gern ersparen. Ich kann mir vorstellen, wie schlimm das wäre.“ Und er hat sich bei mir bedankt.
Was ich mit dieser Geschichte zeigen will: Anstatt – wie es die Komplexitätsforschung nennt – direkt den „korrigierenden Weg“ zu gehen, also den Zeigefinger zu erheben und zu predigen (was meist nur zu Abwehr führt), geh durch die Seitentür. Frag dich: Was kann ich sagen, um dem Typen zu zeigen, dass es mir nicht nur um den Hund geht, sondern auch um ihn? Und wenn du ihm sagst, dass du ihm dieses Gefühl der Trauer ersparen willst – zack, gehen die emotionalen Schutzschilde runter. Ich musste in einer Zehntelsekunde entscheiden, wie ich reagiere – aber ich konnte das, weil ich diese Haltung verinnerlicht habe. Dahin zu kommen, kostet Mühe. Am Anfang fühlt es sich anstrengend an, weil es eben eine Fähigkeit ist. Aber wenn du’s draufhast, ist es Befreiung. Befreiung von Stress, Befreiung von Angst. Du kannst weiter für das einstehen, woran du glaubst – und gibst anderen die Chance, dir wirklich zuzuhören.
Mounk: Du hast jetzt ein paar Mal angedeutet, dass du genau das unterrichtest. Ich würde gern mehr darüber hören, wie man diese Fähigkeiten überhaupt vermitteln kann – und worin sich dein Ansatz von vielen anderen in diesem Bereich unterscheidet. Du beschreibst deinen Unterricht ja so, dass es dabei nicht ums Urteilen geht, sondern darum, wie man über Unterschiede hinweg miteinander reden kann, wie man mit Diversität so umgeht, dass es das Miteinander fördert und Menschen befähigt, offen zu kommunizieren. Und das heißt ja auch: Viele der Angebote in diesem Feld sind deutlich wertender unterwegs.
Manji: Da muss ich dir respektvoll widersprechen. Erstens: Ich bringe Menschen nicht bei, keine Urteile zu fällen. Wir sind Menschen – natürlich urteilen wir. Der Punkt ist eher: Versuch, dein Vor-Urteil zu reduzieren. Also zu urteilen, bevor du wirklich etwas weißt. Und genau daraus entsteht das Wort „Vorurteil“. Es geht darum, sich einzulassen, statt einfach anzunehmen. Übrigens, das ist auch genau die ursprüngliche Bedeutung von „Respekt“ – das kommt vom lateinischen respectare, also: nochmal hinschauen. Anstatt also meinem primitiven Hirn zu erlauben, dir sofort ein Etikett aufzukleben und zu glauben, ich hätte dich komplett durchschaut – entweder um dich dann gleich anzugreifen oder mich gar nicht erst auf dich einzulassen – nehme ich mir einen Moment. Eine Sekunde reicht. Ich atme tief durch, merke vielleicht, dass mein Ego gerade übernimmt, und entscheide mich dann, dich als den vielschichtigen Menschen zu sehen, der du bist – nicht nur als dieses eine Gespräch.
Der zweite Punkt: Der Raum, in dem sich die Arbeit mit moralischem Mut bewegt, ist der der Entpolarisierung. Und in diesem Bereich sagen dir alle, du sollst ohne Vorurteile an den Tisch kommen. Wirklich alle. Was wir bei Moral Courage herausgefunden haben, ist: Menschen spielen gerne Spiele. Und ich meine das überhaupt nicht zynisch oder ironisch. Wir haben unsere Arbeit mit Teenagern und Erwachsenen buchstäblich in Spiele verwandelt. Es gibt ein Programm, in dem wir Jugendliche zertifizieren, ihre Peers als „Moral Courage Mentoren“ zu begleiten. Und Phase zwei dieses Programms besteht aus einer Reihe von Handyspielen, die wir entwickelt haben – einfach, um sie weiter zu motivieren: üben, üben, üben. Es braucht Kreativität und Ideenreichtum von uns, die sich eine Welt wünschen, in der Menschen sowohl bei ihrer Haltung bleiben als auch Gemeinsamkeiten schaffen können. Aber der Aufwand lohnt sich. Die Ergebnisse sind so gegen den Strich unserer Kultur, dass sie tatsächlich Hoffnung machen. Und das muss ich betonen: Ich bin keine Optimistin. Ich habe ein zu pessimistisches Bild unserer Spezies – mich eingeschlossen –, um optimistisch zu sein. Aber ich habe Hoffnung. Und das ist ein wichtiger Unterschied.
Mounk: Erzähl mal ein paar Beispiele von diesen Spielen. Du kommst also in einen Raum voller Teenager. Die haben eigentlich keine Lust, da zu sein – vielleicht ist das Teil vom Schulalltag oder so. Einige sind vielleicht motiviert, aber viele denken sich wahrscheinlich: Was will diese Erwachsene von uns? Warum sollen wir ihr zuhören? Wie baust du ein Spiel auf, das diesen inneren Widerstand aufbricht und nachhaltig verändert, wie man mit Menschen umgeht, die ganz andere Meinungen haben?
Manji: Auch da muss ich dich ein bisschen korrigieren. Du sagst, die Schüler denken: Was will diese Erwachsene von uns, warum sollte ich ihr zuhören? Aber in Wahrheit wollen die meisten Jugendlichen bei uns mitmachen. Wenn da keine eigene Motivation wäre, würde nichts, was wir tun, irgendeinen Effekt haben. Unsere Reise für Jugendliche besteht aus drei Phasen. Los geht’s mit einem Spiel vor Ort. Dabei merken die Teilnehmenden schnell: Nur über die fünf Kernfähigkeiten von moralischem Mut Bescheid zu wissen reicht nicht. Jetzt, im Spiel, müssen sie diese Fähigkeiten wirklich anwenden – und wow, das ist gar nicht so leicht. Aber viele sind so neugierig auf das, was sie da über sich selbst lernen, dass sie sich freiwillig für Phase zwei entscheiden.
Und in dieser zweiten Phase kommen dann die Handyspiele ins Spiel – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Jeder bekommt eine Stunde Zeit, um acht Runden eines Spiels zu durchlaufen, das sich um vier Themen dreht: Generationenkonflikt, Zugang zu Waffen, Religion in der Gesellschaft und Meinungsfreiheit. Man kann mit Avataren spielen, und man muss eine bestimmte Punktzahl erreichen, um zur dritten Phase zugelassen zu werden. Und hier ist der Clou: Man gewinnt nicht, indem man den anderen fertig macht – sondern indem man genug Respekt zeigt, damit der Avatar sich nochmal mit einem treffen will. Über die acht Spielrunden hinweg merken die Jugendlichen: Vertrauen entsteht am ehesten, wenn man die andere Person erst mal nach ihrer Lebensgeschichte fragt, statt gleich ins Streitthema reinzuspringen. Wir alle wollen gewinnen – und anstatt diesen Impuls zu unterdrücken, drehen wir ihn einfach um. Bei uns bedeutet Gewinnen: gehört zu werden. Und der sicherste Weg, selbst gehört zu werden, ist: erstmal zuzuhören.
Mounk: Wir haben jetzt darüber gesprochen, wie man unter schwierigen Umständen den Dialog aufrechterhält – im persönlichen Umfeld, im Freundeskreis, in der Zivilgesellschaft und im Rahmen von Bildungsinitiativen. Aber wie sieht das in der Politik aus? Was würdest du zum Beispiel einer angehenden politischen Kandidatin sagen, jemandem, der darüber nachdenkt, erstmals für das Repräsentantenhaus oder den Senat zu kandidieren – vielleicht in einem umkämpften Wahlkreis? Also in einem Umfeld, in dem es nicht nur darum geht, die ohnehin Überzeugten zu mobilisieren, sondern tatsächlich auch diejenigen zu erreichen, die anderer Meinung sind. In einer Zeit, in der viele Wähler nach Leidenschaft verlangen – was sich schnell in Vereinfachung verwandeln kann – und jemanden wollen, der sagt: Unsere Seite ist großartig, die andere Seite ist schrecklich. Wie kann man die Werte der eigenen Seite vertreten, ohne die andere zu verteufeln?
Manji: Indem man sagt: Ich weiß, wir leben in einer Zeit von wir gegen die anderen. Und ich weiß auch, dass wir als Menschen dadurch nicht gesünder geworden sind. Einige von euch wollen, dass ich die andere Seite fertig mache. Aber ich wette, viele von euch sehnen sich nach jemandem, der Menschen zusammenbringen kann. Und deshalb: Das ist, woran ich glaube – und ich habe nicht immer recht. Ich will hören, was die sagen, die glauben, dass ich falsch liege. Aber damit ich zuhören kann, müsst ihr euch konstruktiv einbringen – nicht im Sinne von: Alles abfackeln. Einverstanden?
Das hat wieder mit dem Konzept der gewählten Verletzlichkeit zu tun. Du gibst Worten, was viele Menschen empfinden, sich aber nicht zu sagen trauen. Wenn die Leute sehen, dass du dich ehrlich bemühst, ein anständiger Mensch zu sein und gleichzeitig Haltung zu zeigen, werden sie dich meist unterstützen. Diejenigen, die es nicht tun, entlarven sich selbst. Ich denke oft darüber nach: Ein großer Fehler von Präsident Obama – in meiner bescheidenen Meinung – war, dass er diesen Ruf hatte, ein großartiger Kommunikator zu sein, obwohl er es eigentlich gar nicht war. Er konnte manchmal schöne Formulierungen finden. Aber was hätte ihn davon abgehalten, sich bei Pressekonferenzen wöchentlich hinzustellen und zu sagen: Das sind die Themen, an denen ich gerade arbeite. Das bereitet mir Schwierigkeiten. Damit ringe ich gerade. Ich würde gerne von zehn Bürgerinnen und Bürgern hören: Wie würdet ihr darüber denken? Was sind eure Ideen?
Er hat jede Woche auf ein paar Briefe und E-Mails geantwortet. Aber warum nicht Menschen aktiv auffordern, ihre kreativsten Ideen zu teilen? Und dann ein Team haben, das gute Vorschläge weiterverfolgt. Wir brauchen Kreativität – ganz gleich, woher sie kommt. Das ist der Unterschied: Du wertschätzt Pluralismus nicht nur als Idee – denn das bleibt abstrakt. Du lebst Pluralismus als eine Haltung. Und wenn das zu simpel klingt, sag mir, warum. Ich glaube, es geht darum, das Beste aus der Vielfalt an Gedanken zu machen, die es in diesem Land – in jedem Distrikt – gibt.
Mounk: Ich habe das Gefühl, dass es Momente gibt, die offener für eine bestimmte Art von politischem Appell sind als andere. Ich denke, Obama hat in seiner ersten Kampagne genau so einen Moment geschaffen, in dem Menschen das Bedürfnis hatten, wieder zueinanderzufinden. Das war der Kern seiner Botschaft – schon bei seinem ersten großen nationalen Auftritt 2004 beim Parteitag der Demokraten, mit den berühmten Worten: "Es gibt nicht die roten Staaten Amerikas oder die blauen Staaten Amerikas – es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika." Aber vielleicht lag das auch am damaligen politischen Klima – und an der damaligen Technologie. Nach 9/11 hatten viele Amerikaner das Bedürfnis nach Zusammenhalt. Viele fanden, dass die Bush-Regierung diese Chance durch den Irakkrieg verspielt hatte. Und soziale Medien waren 2008 noch nicht so dominant wie heute.
Manji: Yascha, seine Kampagne hat die sozialen Medien genutzt – um zu gewinnen.
Mounk: Klar, aber die Struktur war noch eine ganz andere. Facebook war nicht das, was es heute ist. E-Mails, ja – aber das hat Menschen auf eine andere Weise erreicht. Facebook war noch nicht flächendeckend, es gab kein Instagram, kein TikTok. Was ich sagen will: Vielleicht haben sich die Leute inzwischen von Obamas Einheitsversprechen abgewandt. 2016 hat es dieses Versprechen gegeben, aber es hat sich für viele nicht erfüllt. Vielleicht sind wir heute weniger offen für diesen etwas naiven Appell. Ich fand ihn nicht naiv – ich finde, da steckt viel Wertvolles drin. Aber es gab möglicherweise eine Enttäuschung, die die Menschen empfänglicher gemacht hat für konfrontative Politik. Vielleicht hat sich auch die technologische Landschaft verändert, weil soziale Medien heute tiefer und aggressiver in unser Leben eingreifen. Meine Frage ist also: Glaubst du, es gibt politische Momente, die besser für solche Kandidaten geeignet sind – und andere, die es weniger sind? Könnte es sein, dass die heutige Spaltung, die Radikalität dessen, was die Trump-Regierung gerade tut, vielleicht doch eine neue Sehnsucht nach etwas Verbindenderem weckt – nach all den Jahren der tiefen Spaltung?
Manji: Ich spreche gar nicht mal von Einheit. Vergiss Einheit. Es geht mir darum, dass wir die größte natürliche Ressource dieses Landes nutzen: die Vielfalt an Erfahrungen, Gedanken und Perspektiven. Der entscheidende Punkt ist: Vertrauen aufbauen. Studien aus den letzten fünf Jahren zeigen: Es ist nicht so, dass wir uns über die großen Themen uneinig sind. Tatsächlich gibt es überraschend viel Konsens – sogar bei vermeintlich umstrittenen Themen wie Klimawandel oder Einwanderung. Nein, das Problem ist nicht die Meinungsverschiedenheit über Themen – sondern das Misstrauen gegenüber einander. Wir vertrauen einander nicht. Wir vertrauen nicht darauf, dass uns jemand nicht vorführt. Deshalb reden wir nicht miteinander. Und genau dadurch verstärken wir das Misstrauen. Und verlieren den Blick für all die Themen, bei denen wir längst Fortschritte machen könnten – weil wir uns ja oft einig sind!
Es geht also nicht um Kumbaya. Es geht wirklich darum, Vertrauen in der Gesellschaft wiederherzustellen – Woche für Woche, Gespräch für Gespräch. Und ich komme zurück zu dem Punkt über komplexe Systeme: Wir Menschen sind keine Maschinen. Noch nicht. Wenn wir in einer bestimmten Haltung in eine Situation gehen, beeinflussen wir, wie andere darauf reagieren. Wir können andere nicht kontrollieren – und das sollten wir auch gar nicht wollen. Aber wir können uns selbst kontrollieren. Genau das ist die Chance – und genau jetzt ist der Moment, diese Verantwortung ernst zu nehmen.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.