Joseph Heath über den Tod des Marxismus
Yascha Mounk und Joseph Heath diskutieren außerdem darüber, wie sich eine wirklich gerechte Gesellschaft schaffen lässt.
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Joseph Heath ist Professor am Philosophie Department der University of Toronto. Als Fellow der Royal Society of Canada und der Trudeau Foundation hat er mehrere Bücher veröffentlicht, darunter Enlightenment 2.0 und The Machinery of Government.
In diesem Gespräch sprechen Yascha Mounk und Joseph Heath über das Ende des westlichen Marxismus, unterschiedliche Zugänge zu Gleichheit und die Frage, wie sich eine wirklich egalitäre Gesellschaft schaffen lässt.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Eines der Dinge, die ich an Substack liebe, ist, dass manchmal genau die Texte am besten laufen und viral gehen, die für Außenstehende zunächst etwas fragwürdig wirken. Dein meistgelesener Substack-Beitrag heißt John Rawls and the Death of Western Marxism – und er erzählt eine größere Geschichte, mit der du dich in deiner akademischen Arbeit wie auch in deinen öffentlichen Texten seit Langem beschäftigst. Warum ist es so, dass die klügsten Akademiker, die in den 1960er- und 1970er-Jahren angetreten sind, um den Marxismus zu retten, am Ende alle als langweilige, weichgespülte liberale Egalitaristen dastanden? Warum hat dieser Versuch, den Marxismus wiederzubeleben, nicht funktioniert? Und was sagt das über jene Menschen – vom voraussichtlichen nächsten Bürgermeister von New York bis zu vielen jungen Autoren und Intellektuellen weltweit –, die heute versuchen, den Sozialismus neu zu beanspruchen?
Joseph Heath: Ja, ehrlich gesagt war dieser Substack-Post – ich schäme mich fast dafür – eine recycelte Vorlesung für Bachelor-Studierende. Immer wenn ich Rawls aufgegeben habe, fand ich ihn als Autor wenig aufregend. Ich suchte nach einer Möglichkeit, die Studierenden zu motivieren, und so kam ich auf diese Linie: Das ist das Buch, das den westlichen Marxismus getötet hat. Einerseits war das ein pädagogischer Kniff, andererseits steckt auch ein Körnchen Wahrheit darin.
Das größere Bild dahinter ist, dass ich nun im dreißigsten Jahr bin, in dem ich als Professor Philosophie unterrichte. Als ich anfing, galt das zwanzigste Jahrhundert mit Rawls als Gegenwartsphilosophie, und die Philosophiegeschichte endete im neunzehnten Jahrhundert. Ich erinnere mich daran, wie Ende des zwanzigsten Jahrhunderts alle Lehrbuchverlage ihre Geschichtsbücher überarbeiten mussten, um das zwanzigste Jahrhundert überhaupt als Geschichte aufzunehmen.
Ich wurde gebeten, einige dieser Projekte zu begutachten oder zu beraten – also: Was sagen wir eigentlich über das zwanzigste Jahrhundert? Gleichzeitig fing ich an, meine eigenen Kurse umzubauen und das zwanzigste Jahrhundert als historische Epoche zu unterrichten. Und dann merkt man plötzlich, welches enorme Dilemma darin steckt: Man muss erklären, was Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts passiert ist, als die Europäer kollektiv durchgedreht sind und der Liberalismus nahezu ausgelöscht wurde. Und dann kommt die Geschichte seines triumphalen Comebacks in den 1970er-Jahren – mit Rawls und dem amerikanischen Liberalismus.
Wenn man das historisch aufzieht, merkt man schnell, dass man etwa zwanzig Minuten braucht, um Studierenden, die keinerlei lebendige Erinnerung an das zwanzigste Jahrhundert haben, zu erklären, was da eigentlich passiert ist. Das ist wirklich eine Herausforderung. Ein Teil davon ist also auch die Geschichte, wie sich der Liberalismus im zwanzigsten Jahrhundert selbst gewandelt hat. Es ist nicht nur so, dass der Marxismus unterging und vom Liberalismus absorbiert wurde; der Liberalismus der späten Nachkriegszeit wurde selbst zu einer weitaus robusteren Doktrin – vor allem, weil er plötzlich etwas zu wirtschaftlichen Fragen zu sagen hatte, während der Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts dazu praktisch nichts beizutragen hatte.
Mounk: Ich liebe den Artikel – und jetzt hätte ich am liebsten auch deine Vorlesung für Erstsemester gehört. Also, führ uns da mal durch. Der Marxismus entsteht im neunzehnten Jahrhundert als Antwort auf die massiven Verwerfungen des damaligen Kapitalismus: die weitverbreitete Verelendung der Arbeiter, schwere Wirtschaftskrisen, ständige Bankenpaniken. Marx kommt zu dem Schluss, dass dieses System nicht nur die Arbeiter ausbeutet, sondern – vielleicht noch wichtiger – dass es zwangsläufig unter dem Gewicht seiner eigenen Widersprüche kollabieren werde.
Warum setzten diese Ideen – wie auch jene der extremen Rechten, des Faschismus und so weiter – den Liberalismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so unter Druck? Und warum ging ihm dann irgendwann die Luft aus?
Heath: Früher fand ich das neunzehnte Jahrhundert langweilig, aber je älter ich werde, desto mehr merke ich, wie faszinierend es eigentlich war. In gewisser Weise ist unser heutiges politisches Denken dem des achtzehnten Jahrhunderts viel näher. Wenn Studierende Texte aus der Aufklärung lesen – Rousseau, Kant und so weiter – wirkt das wie eine natürliche Weise, über die Welt nachzudenken; während vieles des neunzehnten Jahrhunderts sehr fremd wirkt.
Mounk: Das liegt einfach daran, dass das neunzehnte Jahrhundert von den Deutschen dominiert wurde – und Hegel und andere nicht gerade besonders gut lesbar waren.
Heath: Kant war im achtzehnten Jahrhundert zwar auch schon wichtig, aber es gibt etwas sehr Natürliches an seiner Art, an Fragen heranzugehen – was man von Hegel nicht unbedingt sagen kann. Das Entscheidende ist: Im neunzehnten Jahrhundert war der Liberalismus stark an Gesellschaftsvertragstheorien gekoppelt, und der Gesellschaftsvertrag war im Grunde eine Theorie des Staates. Die Gleichheit und die Rechte, die für den Liberalismus zentral waren, bezogen sich nahezu ausschließlich auf politische Rechte und auf den Status als Bürger im Staat.
Zudem gab es die berühmte Unterscheidung zwischen öffentlich und privat – und im privaten Bereich sollte man tun können, was immer man wollte. Wichtig ist aber: Die gesamte Wirtschaft galt als privat. Das bedeutete nicht nur, dass der Liberalismus zur Ökonomie nichts zu sagen hatte; er schirmte den privaten Bereich sogar aktiv gegen jegliche politische Einmischung ab.
Im achtzehnten Jahrhundert war das alles kein großes Problem – da waren im Grunde alle entweder Bauern oder Adel. Es gab schlicht keine gigantische private Wirtschaft. Aber der Liberalismus hat mit dazu beigetragen, jene ökonomischen Kräfte freizusetzen, die die Industrielle Revolution hervorgebracht haben. Plötzlich wurde die Wirtschaft zu einer gewaltigen Angelegenheit. Als enteignete Bauern in Barackensiedlungen neben Fabriken lebten und der Fabrikbesitzer sagte: „Ihr seid alle entlassen“, standen auf einmal Hunderte Arbeiter ohne Job und ohne jede Möglichkeit da, an Essen zu kommen. Das führte zu Aufständen. Es war ein offensichtliches soziales Problem – nur hatte der Liberalismus des achtzehnten Jahrhunderts außer dem Schutz von Eigentumsrechten nichts Brauchbares dazu zu sagen.
Also suchte man nach einer Theorie, die erklären konnte, was mit diesen radikalen wirtschaftlichen Umwälzungen geschehen sollte. In der englischen Tradition war der stärkste Gegenentwurf der Utilitarismus – eine umfassende moralische Theorie, aber keine liberale. Ihr Kern war: Wir sollten versuchen, das größtmögliche Gute hervorzubringen. Ein großer Teil des Sozialismus im neunzehnten Jahrhundert war eigentlich eine Art angewandter Utilitarismus – aber eben nicht Teil der liberalen Tradition.
So wurden Liberale – um es in marxistischen Begriffen zu sagen – von der revolutionären Klasse des achtzehnten Jahrhunderts zur zutiefst reaktionären Klasse des neunzehnten. Sie beharrten ständig darauf, dass kollektive Macht nicht eingesetzt werden dürfe, um die Probleme des Kapitalismus zu lösen. Dadurch entstanden eine reformistische Spielart des Sozialismus, zunehmend radikalere Varianten wie der Marxismus – und eine Art protofaschistische Reaktion, die versuchte, die lokale Gemeinschaft gegen den Kapitalismus zu verteidigen.
All diese Bewegungen lagen komplett außerhalb der liberalen Denkwelt. Um zum Ende der Geschichte zu springen: Das, was ich an Rawls hervorhebe, ist die große Innovation des spätzwanzigsten Jahrhunderts. Er formuliert den Gesellschaftsvertrag in einer so abstrakten Weise, dass er sich nicht nur auf politische, sondern auch auf ökonomische Fragen anwenden lässt.
Mounk: Lass uns hier kurz zurückspringen. Der Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts geriet in echte Schwierigkeiten. Er sagte im Grunde: Ja, die Arbeiter verelenden massenhaft. Wir haben ständig Bankenpaniken. Die Probleme sind enorm. Aber all das gehört zur privaten Sphäre. Und in dieser privaten Sphäre sollen Menschen sehr weitreichende Freiheiten haben. Das heißt: Da können wir politisch nichts tun. Wir müssen da einfach die Zähne zusammenbeißen.
Deshalb entstehen alternative Theorien, die versuchen, diese Lage völlig anders zu denken – die bekannteste und einflussreichste davon ist der Marxismus. Er motiviert in gewisser Weise die Bolschewistische Revolution, und er wird zu einer gewaltigen politischen Kraft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch auch dieser Ansatz bekommt ernste Probleme. Eines der konkreten Probleme lautet: Der Marxismus sagt ständig den Zusammenbruch des Kapitalismus voraus, aber der Kapitalismus sieht überhaupt nicht so aus, als würde er kollabieren. Viele historische Vorhersagen, die Marx macht, erweisen sich schlicht als falsch.
Innerhalb des Marxismus entwickelt sich daraufhin eine ganze Literatur, die versucht, das zu erklären – etwa Antonio Gramsci, der sagt, die Bourgeoisie halte sich durch kulturelle Hegemonie an der Macht; deshalb entwickelten Arbeiter nicht das nötige Klassenbewusstsein, um Revolutionen durchzuführen. Es gibt also eine immanente, interne Erklärungsliteratur. Und dann kommt in den 1960er-Jahren eine Gruppe von Philosophen und Sozialwissenschaftlern – Leute wie G. A. Cohen, Philippe Van Parijs und andere –, die sagen: Lasst uns diese Tradition retten. Lasst uns alles aus dem Marxismus herauslösen, was sich als falsch erwiesen hat, und versuchen, daraus eine philosophisch kohärente Theorie zu machen, die wiederum eine politische Grundlage bieten kann.
Erzähl uns etwas über diesen Versuch, dessen intellektueller Geist, finde ich, sehr schön in dem Namen „No-Bullshit-Marxism“ eingefangen ist.
Heath: Nun, es heißt manchmal, wenn Marx heute von den Toten zurückkäme, wäre er kein Marxist mehr. Der Grund ist: Er hat damals mit den fortschrittlichsten ökonomischen Theorien gearbeitet, die es gab, und sie auf seine Weise interpretiert. Paul Samuelson hat Marx einmal „einen kleinen Ricardianer“ genannt.
Der entscheidende Punkt ist: Er war Ricardianer, weil Ricardos Werk damals die fortschrittlichste Ökonomie darstellte. Ein großer Teil der analytischen Marxistenbewegung, die du beschrieben hast – in den späten 60ern und 70ern –, bestand schlicht darin, Marx’ Theorie zu aktualisieren. Man stellte sich vor: Marx kommt zurück, will weitermachen und liest erst einmal hundert Jahre ökonomische Forschung, um zu verstehen, wie der aktuelle Stand aussieht.
Zu seiner Zeit war zum Beispiel die Arbeitswertlehre der Standard unter Ökonomen. Heute ist sie vollständig verworfen. Wenn man Marx also intellektuell ernst nimmt, müsste er – käme er heute zurück – selbstverständlich auch die Arbeitswertlehre aufgeben.
Die Frage lautet dann: Marx verfügte über bestimmte zentrale Begriffe wie den der Ausbeutung, der in seiner ursprünglichen Definition eng mit der Arbeitswertlehre verknüpft war. Wenn man nun die Arbeitswertlehre aufgibt: Lässt sich dieser Ausbeutungsbegriff mit moderner Ökonomie überhaupt neu und stimmig rekonstruieren? Intuitiv wirkt das zunächst nicht völlig ausgeschlossen.
Mounk: Die Arbeitswertlehre klingt wie etwas sehr Komplexes. Die eigentliche Intuition dahinter ist aber ziemlich einfach: Ich arbeite hart in meinem Mindestlohnjob. Ich leiste einen realen wirtschaftlichen Beitrag. Ich kann kaum meine Miete zahlen, und der Besitzer der McDonald’s-Filiale oder eines Walmart-Franchise verdient Millionen. Das Gefühl ist: Ein Teil des Wertes meiner Arbeit wird mir entzogen. Ich werde ausgebeutet, um diese Profite zu ermöglichen. Und genau das ist das eigentlich Ungerechte am kapitalistischen System. Diese Vorstellung hat bis heute eine gewisse intuitive Plausibilität. Wenn ich die Geschichte so erzähle, klingt sie nicht verrückt – sie klingt nachvollziehbar.
Warum also kommen Menschen, die genau diese Intuition teilen, die den Marxismus retten wollen, die sich in dieser Tradition sehen, am Ende zu dem Schluss, dass die Theorie logisch nicht trägt?
Heath: Die Art, wie du die Geschichte erzählt hast, ist die klassische Darstellung. Aber sie vermischt zwei unterschiedliche moralische Anliegen. In deiner Version ist zum Beispiel wichtig, dass der Besitzer enorme Profite macht – nicht etwa einen kleinen Gewinn bei großem Risiko. Im Hintergrund steht also klar ein Anliegen über wirtschaftliche Ungleichheit.
Marx schrieb im neunzehnten Jahrhundert zu einer Zeit zunehmender moralischer Skepsis. Es war auch die erste Epoche, in der man offen atheistisch auftreten konnte, ohne sofort Beruf oder Existenzgrundlage zu verlieren. Viele dachten, Religion und Moral seien so eng verbunden, dass beide verschwinden würden.
Marx wollte seine Kritik am Kapitalismus nicht auf moralische Einwände stützen. Das war seine berühmte Kritik an den Utilitaristen und utopischen Sozialisten: Er hielt sie für naive Moralisten. Statt über Ungleichheit zu klagen, formulierte er einen technischeren Einwand – den Begriff der Ausbeutung. Die Idee war: Man hat ein natürliches Anrecht auf die Früchte seiner Arbeit; wenn jemand einem diese entzieht, wird man ausgebeutet.
In der Realität sind Ausgebeutete meist auch arm – Ausbeutung und Ungleichheit fallen also zusammen. Man musste nicht sauber trennen, worauf sich die Kritik eigentlich stützt. Eine der Leistungen der analytischen Marxisten im zwanzigsten Jahrhundert war es dann, diese Dinge klarer auseinanderzuhalten – und Modelle zu entwickeln, die zeigen, wie sie getrennt auftreten können. Es gibt Situationen, in denen Menschen ausgebeutet werden, ohne dass es Ungleichheit gibt; und Situationen mit Ungleichheit, aber ohne Ausbeutung. Das hat den Punkt zuspitzt.
Mounk: Das ist intuitiv nachvollziehbar. Wenn man schaut, wo Gewerkschaften heute in den USA stark wachsen, sind das oft gutverdienende, ober-mittelständische Berufe – Universitäten, Magazine, Journalismus, Hollywood. Diese Leute verdienen weniger als Uni-Präsidenten oder Studio-Chefs, aber sie gehören klar zur oberen Mittelschicht. Viele verdienen weit mehr als der Durchschnitt. Man sieht also, wie sich das entkoppeln kann: Viele empfinden etwas als Ausbeutung, ohne verelendet zu sein. Manche behaupten sogar, sie seien zutiefst verarmt, obwohl das offenkundig nicht stimmt.
Gib uns ein paar Beispiele dafür, wie sich Ausbeutung und Ungleichheit analytisch trennen lassen – und warum das für die Debatte wichtig wurde.
Heath: Das bekannteste Beispiel ist ein philosophisches Gedankenexperiment: Robert Nozicks „Wilt-Chamberlain-Argument“. Es stammt aus der großen Debatte der 1970er-Jahre zwischen Rawls und Nozick. Nozicks Szenario lautet: Man stelle sich Wilt Chamberlain vor, den großen Basketballstar, der eines Tages beschließt, Basketball nur noch zu spielen, wenn auf jedes Ticket ein Zuschlag von 25 Cent erhoben wird.
Nozick nimmt an, dass Chamberlain allein über diese 25 Cent ein enormes Einkommen erzielt – für damalige Verhältnisse ein skandalöser Grad an Ungleichheit. Die Pointe ist: Wenn jemand außergewöhnliche Talente hat und andere bereit sind, dafür zu zahlen – was wäre daran auszusetzen?
Nozick wollte einen libertären Punkt machen: Freie Märkte erzeugen massive Ungleichheit. Aber das Beispiel stellte auch Marxisten vor ein Problem. Denn Chamberlain wurde einfach für seine Leistung bezahlt. Wenn man nun den Zuschlag wegsteuert oder abschöpft, wirkt das wie Ausbeutung – man verweigert ihm die vollen Früchte seiner Arbeit.
Das war das Szenario, das viele Philosophen irritierte: Ein Fall, in dem die vollständige Auszahlung der Arbeitsfrüchte zu enormer Ungleichheit führt. Und damit stellte sich plötzlich die Frage: Was sagen wir zu Menschen mit besonderen natürlichen Talenten?
Mounk: Nozick argumentiert dabei nicht direkt gegen Marx. Er erwähnt ihn vielleicht irgendwo in Anarchie, Staat, Utopie, aber eigentlich wendet er sich gegen die breitere egalitäre Tradition. Besonders kritisiert er sogenannte „gepanzerte Gerechtigkeitsmuster“ – also die Idee, es gebe ein bestimmtes Soll-Muster von Gleichheit.
Das Muster kann sein, dass alle exakt gleich viel haben sollen. Oder: Ein CEO darf doppelt oder dreimal so viel verdienen wie ein Arbeiter, aber nicht mehr. Egal wie dieses Muster aussieht: Sobald man freie Märkte laufen lässt, wird es sofort wieder zerstört – kaum hat man es hergestellt. Freier Austausch bringt jedes Muster durcheinander.
Selbst wenn Wilt Chamberlain, der Platzanweiser, und alle Zuschauer am Anfang genau gleich viel Geld besitzen: Sobald Chamberlain sagt, ich möchte diesen Zuschlag von fünfundzwanzig Cent, und dreißigtausend Menschen zahlen das einmal pro Woche, ist er innerhalb weniger Monate erheblich reicher als alle anderen. Wo liegt da die Ungerechtigkeit? Das Ergebnis geht vollständig auf freie Vereinbarungen zurück. Was könnte unser Einwand sein?
Was du sagst, ist, dass Nozick zwar nicht direkt die Marxisten attackiert, sein Beispiel für sie aber dennoch ein Problem wird, weil sie nicht nur an einem bestimmten Gleichheitsmuster hängen. Ihr Kernanliegen war immer etwas anderes: dass Menschen die gerechten Früchte ihrer Arbeit behalten dürfen sollen. Das Problem des Kapitalismus besteht nach ihrer Sicht darin, dass jemand einem diese rechtmäßigen Früchte wegnimmt. Und in Nozicks Beispiel kann man nun sagen: Chamberlain bringt nicht einfach ein gewünschtes Verteilungsmuster durcheinander, er versucht nur, die Früchte seiner Arbeit zu behalten und nicht ausgebeutet zu werden. Um Gleichheit zu erzeugen, müssten wir ihn ausbeuten.
Heath: Der Marxismus war eine Art Kollateralschaden des Wilt-Chamberlain-Arguments. Das eigentliche Ziel war eine Rawls’sche Vorstellung von Gerechtigkeit als bestimmtem Muster, und die Pointe lautete: Freiheit zerstört Muster. Der Kollateralschaden entstand, weil der Libertarismus von Nozick von einem Postulat der Selbst-Eigentümerschaft ausgeht: dass man ein natürliches Recht auf den eigenen Körper hat und damit auf die Früchte seiner eigenen Arbeit.
Das Wilt-Chamberlain-Argument zeigte: Wenn das der Maßstab für Gerechtigkeit ist, kann man sich eigentlich nicht über wirtschaftliche Ungleichheit beklagen. Und an diesem Punkt merkten die Marxisten: Das ist genau derselbe Ausgangspunkt wie unserer. Denn Marx stand in mancher Hinsicht sehr nahe bei Locke. Seine Vorstellung war ähnlich: Selbst-Eigentum, Arbeitseigentum, und Ausbeutung als Verletzung dessen – ich arbeite hart, ich produziere etwas, und wer ist dieser Kapitalist, der kommt und nimmt es mir weg?
Die Marxisten stellten fest: Wenn wir an dieser Idee von Arbeit und Selbst-Eigentum festhalten, können wir Ungleichheit offenbar gar nicht kritisieren. Aber wir wollen Ungleichheit kritisieren. Wie lösen wir diesen Widerspruch?
Mounk: Du sagst, einer der großen analytischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts, Jerry Cohen – zugleich ein großartiger Mensch und unglaublich witzig; ich hatte als Doktorand das Glück, sein einstündiges philosophisches Stand-up zu erleben – verbrachte zehn Jahre damit, dieses Problem zu lösen. Er merkt: Seine Tradition des „no-bullshit-Marxismus“ wird durch Nozick beschädigt.
Er versucht, eine Antwort aus der marxistischen Tradition selbst zu finden – also eine Erklärung, die den Begriff der Ausbeutung als Kernproblem des Kapitalismus rettet, und zwar gegenüber Nozicks Beispiel und gegenüber systemischen Analysen wie denen von John Roemer. Wie versucht Cohen, das zu lösen – und warum entscheidet er schließlich, dass dies der falsche Weg ist und er die besseren Antworten im liberalen Egalitarismus findet?
Heath: Ich möchte dieses eine Beispiel nicht überbewerten. Es war wichtig und anschaulich, aber John Roemer hat formale Modelle entwickelt, die dieselbe Spannung sehr viel genauer zeigen. Es gab also eine ganze Reihe unterschiedlicher Arbeiten, die auf dasselbe hinausliefen.
Mounk: Ich hoffe übrigens, dass Wilt Chamberlain Sozialist war. Das wäre eine wunderbare Ironie – aber vermutlich nicht.
Heath: Ein kanadischer Philosoph, David Gauthier, hat eine Variante namens Wayne-Gretzky-Argument geliefert. In Kanada reden wir also über Gretzky. Und er ist definitiv kein Sozialist.
Das führt etwas in die akademische Feinmechanik, aber unter denen, die glaubten, man könne das Wilt-Chamberlain-Argument beantworten und dennoch eine egalitäre Position retten, entstand eine Strömung namens linker Libertarismus. Einige von Cohens begabtesten Schülern gingen in diese Richtung. Sie waren so etwas wie der letzte Rest des westlichen Marxismus: Menschen, die die Prämissen von Selbst-Eigentum und Ausbeutung übernahmen, aber zeigen wollten, dass daraus nicht zwangsläufig die Ungleichheiten folgen müssen, die Nozick behauptet.
Cohen entschied irgendwann, dass es einfacher sei, den Knoten zu durchschlagen: Wenn das gesamte Argument des Marxismus letztlich an der Intuition des Selbst-Eigentums hängt – also daran, dass jemand einen Anspruch auf die vollen Früchte der eigenen Arbeit hat –, dann ist diese Intuition nicht unerschütterlich. Seit rund 150 Jahren weist man darauf hin, dass in einer modernen Wirtschaft, in der viele Menschen gemeinsam arbeiten, unterstützt durch Infrastruktur, Geräte und organisatorische Strukturen, die Vorstellung „meine Arbeit hat dieses Produkt hervorgebracht“ kaum sinnvoll zu bestimmen ist. In einem Naturzustand nach Locke – jemand pflückt Äpfel vom Baum – mag diese Intuition stimmen. In einer komplexen Wirtschaft stimmt sie nicht.
Mounk: Genau. Und das ist für mich die intuitivere Antwort. Man kann beim Nozick-Beispiel etwa fragen: Woher kommt das Stadion? Welche rechtlichen Rahmenbedingungen ermöglichen eine Profiliga? Welche gesellschaftlichen Vorkehrungen sorgen dafür, dass Menschen sicher zum Stadion gelangen können? Und wenn man über Unternehmensgewinne spricht, setzt all das die Rechtsform des Unternehmens voraus, die Risiken kollektiv abfedert und Individuen durch Haftungsbegrenzung schützt.
Deshalb kann man gute Gründe haben, Unternehmer großzügig zu entlohnen, um Innovation zu ermöglichen – aber ebenso gute Gründe, sie zu besteuern, weil sie von diesen Strukturen profitieren. Dafür braucht man keinerlei Theorie darüber, was der „richtige Wert“ von Arbeit sei oder wie man „rechtmäßige Arbeitsfrüchte“ verteilt. Keine Ausbeutungstheorie ist nötig.
Heath: Genau. Und diese Überlegungen machen den Rawls’schen Rahmen so attraktiv. Rawls sagt: Wir können keine Theorie entwickeln, die bei individuellen Ansprüchen ansetzt; die Welt ist viel zu komplex. Wir müssen bei der Grundstruktur der Gesellschaft beginnen – Staat, Wirtschaft, Vertragsrecht, Universitäten und andere große Institutionen. Ihre Aufgabe ist es, Bedingungen einer gerechten Hintergrundordnung zu schaffen, die es Individuen ermöglicht, frei zu handeln.
Man kann nicht jedes einzelne Element aufschrauben. Politisch-philosophisch beurteilen wir die Grundstruktur. Dafür brauchen wir eine abstrakte Theorie der Gerechtigkeit, die festlegt, wie diese Struktur aussehen sollte. Das ist die Rawls’sche Perspektive.
Mounk: Genau dahin wollte ich. Warum können Menschen, die Marxismus retten wollen, irgendwann sagen: Die wichtigsten Anliegen dieser Tradition lassen sich besser über einen liberalen Egalitarismus einlösen? Warum erlaubt der Rawls’sche Rahmen, diese Anliegen so aufzunehmen, dass man zu einer genauso egalitären, aber philosophisch strengeren und politisch realistischeren Position gelangt – und letztlich zu einem gewissen Frieden mit der Marktwirtschaft?
Heath: Sobald man sich dem Egalitarismus zuwendet, landet man häufig beim Liberalismus – weil die liberale Tradition historisch die stärksten Argumente für Gleichheit hervorgebracht hat. Wenn man Marxisten zuhört, geht es meist um Ungleichheit. Der erste Schritt lautet dann: Ich mache Gleichheit zu meinem zentralen Anliegen.
Jerry Cohen blieb an diesem Punkt stehen: Er sagte, man sieht einfach, dass Menschen gleich behandelt werden sollten – und er verzichtete darauf, das zu begründen. Andere finden: Das reicht nicht. Man braucht ein Argument.
Der Liberalismus hat ein solches Argument: den Gesellschaftsvertrag. Früher hielt man Institutionen für göttlich oder traditionell festgelegt. Heute wissen wir: Das trägt nicht. Wie organisieren wir eine Gesellschaft? Durch Regeln, auf die wir uns einigen können. Und das erzeugt sofort Gleichheit: Wenn wir miteinander aushandeln, wie wir leben wollen, kann niemand vom anderen etwas verlangen, was er selbst nicht akzeptieren würde. Diese Gegenseitigkeit ist der Kern der Gleichheit.
Es gibt erstaunlich wenige gute Argumente für Gleichheit. Der Gesellschaftsvertrag ist eines der wenigen überzeugenden. Und Rawls macht ihn zum Ausgangspunkt: Wir müssen Institutionen so gestalten, dass sie für alle akzeptabel wären, wenn wir nicht wüssten, wer wir in der Gesellschaft sind.
Mounk: Stark vereinfacht: Eine soziale Ordnung, die uns alle bindet, muss allen in einer relevanten Weise zugutekommen. Rawls formuliert daraus ein bestimmtes Verteilungsprinzip. Interessant ist aber vor allem, dass sich daraus eine breite Debatte ergibt: Was genau wollen wir eigentlich gleichstellen?
Um das zu veranschaulichen, gibt es ein weit verbreitetes Bild: drei Menschen wollen ein Baseballspiel über einen Zaun hinweg sehen. Einer ist groß genug, einer steht auf einer mittleren Kiste, ein kleines Kind auf einer großen Kiste – damit alle über den Zaun schauen können. Das wird als „Gerechtigkeit durch Ergebnisgleichheit“ bezeichnet. Dem gegenüber steht die Darstellung, in der jeder dieselbe Kiste bekommt und zwei nichts sehen. Ursprünglich wurde dies als „Chancengleichheit“ versus „Ergebnisgleichheit“ beschrieben.
Unabhängig von der Begriffswahl: Was ist das Problem dieser Vorstellung von Ergebnisgleichheit, die politisch so einflussreich geworden ist? Warum sagen Menschen aus der Tradition des no-bullshit-Marxismus: Das ignoriert all das, worüber wir seit fünfzig Jahren nachdenken?
Heath: Die ganze Sache mit „Gerechtigkeit“ im Sinne von Ergebnisgleichheit war für viele Philosophen frustrierend, weil die politische Philosophie über Jahrzehnte von der Frage „Gleichheit – aber wovon?“ beherrscht wurde. Diese Debatte ist vor vielleicht acht oder neun Jahren abgeebbt, aber während eines großen Teils meiner Laufbahn war sie das dominierende Thema. Es gab eine unglaublich intensive Auseinandersetzung darüber, wie man das Gleichheitsprinzip richtig verstehen sollte.
In gewisser Weise stritten die Philosophen dabei nur untereinander, es war eine extrem dichte, interne Debatte, die nach außen kaum sichtbar wurde. Ein Teil der Frustration gegenüber diesem neuen „Equity“-Begriff lag darin, dass er völlig losgelöst war von dieser langjährigen akademischen Diskussion.
Mounk: Vielleicht müssen wir erst einmal deutlich machen, warum die Frage „Gleichheit – aber wovon?“ überhaupt wichtig ist. Wenn ich mit Studierenden spreche, lautet ihre Intuition oft ganz schlicht: Sie wollen eine Gesellschaft, die insgesamt gleicher ist, in der Menschen fair und gleich behandelt werden und in der es keine riesigen Unterschiede beim Reichtum oder in der Behandlung gibt. Das klingt erst einmal nach einem guten Zielbündel. Aber sobald man etwas tiefer geht, merkt man, dass diese Ziele häufig miteinander kollidieren.
Der einfachste Konflikt ist: Man könnte meinen, Menschen sollten pro Arbeitsstunde ungefähr gleich bezahlt werden, und gleichzeitig, dass sie entsprechend ihrer Anstrengung entlohnt werden sollen. Diese beiden Forderungen können auseinanderfallen. Wenn eine Person ständig hin- und herläuft, um etwas zu erledigen, und eine andere sich zwischendurch ausruht oder schlicht weniger Einsatz zeigt, wird es so oder so eine Art Ungleichheit geben. Entweder ergibt sich am Ende ein ungleicher Lohn, oder aber die effektiven Lohnsätze sind ungleich, weil eine Person für jede Arbeitseinheit de facto doppelt so viel erhält wie die andere.
Die Frage lautet dann sofort: Wir verstehen uns als Egalitaristen, wir wollen Gleichheit – aber Gleichheit wovon? Wollen wir eine strikte Lohngleichheit, unabhängig von Umständen und Einsatz? Wollen wir Gleichheit beim Stundenlohn, sodass jemand, der zwanzig Prozent mehr arbeitet, auch zwanzig Prozent mehr verdient? Wollen wir Gleichheit bei der Produktivität, sodass jemand, der deutlich mehr leistet, mehr bekommen soll? Was genau ist das, was wir angleichen wollen?
Und diese Frage lässt sich über Geld hinaus auf andere Dinge übertragen, die als begehrenswert gelten. Stimmt das so? Und warum entwickelt sich aus dieser Frage eine fünfzigjährige Forschungsindustrie?
Heath: Tatsächlich ist es noch breiter. Amartya Sen wird oft zugeschrieben, diese Debatte angestoßen zu haben, weil er die äußerst provokante Beobachtung gemacht hat, dass nicht nur ausdrücklich egalitäre Theorien, sondern im Grunde fast alle Positionen der politischen Philosophie egalitär sind. Er behauptete: Utilitarismus ist eine Form von Egalitarismus, Libertarismus ebenfalls – alle sind Egalitaristen, sie unterscheiden sich nur darin, was sie gleichmachen wollen.
Das war eine bemerkenswert provokante Idee. Traditionell hatte man den Egalitarismus als eine Strömung gesehen, die anderen Schulen gegenübersteht. Sen sagte: Nein, alle sind egalitär – sie streiten nur über das Objekt der Gleichstellung. Ein Teil der Attraktivität dieser These lag darin, dass wir, wie ich vorhin gesagt habe, gar nicht so viele wirklich starke Grundargumente für Gleichheit besitzen. Sen schlug nun vor: Wir brauchen gar kein gewaltiges Grundargument, denn alle sind ohnehin Egalitaristen. Alles, was wir brauchen, ist ein sehr gutes Argument dafür, warum unsere bevorzugte Größe die richtige ist, um sie anzugleichen.
Mounk: Utilitaristen sagen grob, wir sollten so handeln – oder politische Maßnahmen so gestalten –, dass sie die Bilanz von Glück über Leid in der Welt maximieren. Da gibt es unterschiedliche Varianten, aber das ist die einfachste. Libertäre sagen dagegen: Es gibt bestimmte natürliche Freiheiten, die wir als Individuen haben, und das Wichtigste an einer politischen Ordnung ist, dass sie diese Freiheiten nicht verletzt. Eine davon ist die wirtschaftliche Freiheit. Wenn Wilt Chamberlain also einen Zuschlag von fünfundzwanzig Cent auf seine Tickets verlangen will – wer sind wir, ihm das zu verbieten, nur weil wir eine merkwürdige Vorliebe für ein bestimmtes Verteilungsmuster von Ressourcen haben?
Wie können diese beiden Positionen nach Sen – und vielleicht auch nach dir – als egalitär gelten?
Heath: Der Utilitarismus war sein zentrales Beispiel. Im achtzehnten Jahrhundert war er schockierend egalitär. Bentham hatte den berühmten Satz, dass ein einfaches Unterhaltungsspiel genauso viel wert sei wie hohe Dichtkunst. Der Sinn davon war, die damals verbreitete, eher aristokratische Vorstellung zurückzuweisen, dass es „höhere“ und „niedere“ Genüsse gebe. Für Bentham gab es einfach nur Genuss.
Ein wesentlicher Bestandteil der utilitaristischen Rechnung war: Alle Genüsse zählen gleich, und die Freuden jedes Menschen zählen in gleicher Weise. Das war die Grundlage für den bekannten utilitaristischen Ansatz, die Summe der Freuden zu maximieren. Und genau darin sah Sen eine egalitäre Intuition: Niemandes Freude ist von vornherein mehr wert als die eines anderen. Viele fanden das augenöffnend.
Utilitarismus ist nicht egalitär in dem Sinne, dass er sich nicht speziell für die Verteilung von Glück interessiert – er betrachtet nur die Gesamtsumme. Aber er besteht auf dem egalitären Grundsatz, dass die Freude jedes Einzelnen gleich zählt. Ähnlich beim Libertarismus lässt sich sagen: Er will sicherstellen, dass alle mit genau demselben System von Rechten ausgestattet sind.
Er besteht darauf, dass diese grundlegende Gleichheit an Rechten und ihrer Ausübung nicht verletzt wird. Das war der Ausgangspunkt der Debatte: diese provokante Behauptung. Sie brachte viele dazu zu glauben, man könne Gleichheit nun als ein technisches Problem behandeln, nämlich: was angeglichen werden soll. Und das hat dazu geführt, dass man viele klassische Kontroversen neu zu formulieren versuchte. Etwa die intuitive Unterscheidung zwischen Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit.
Diese Unterscheidung war traditionell als Frage verstanden worden, zu welchem Zeitpunkt man gleichstellen möchte: am Anfang oder am Ende. Aus Sens Perspektive lautete die These: Darum geht es gar nicht. Der Zeitpunkt ist keine genuin egalitäre Frage. Entscheidend ist, was das Objekt der Gleichstellung ist. Alles, was sich als „Ergebnis“ darstellen lässt, kann man auch als Größe formulieren, die man angleichen möchte.
Viele Ökonomen sind daran gewöhnt, in Kategorien wie Wohlergehen, Effizienz und Optimierung von Wohlergehen zu denken. Sen sagte: Man könne auch Gleichheit in Begriffen des Wohlergehens fassen. Eine naheliegende – wenn auch problematische – Position lautet dann: Wir sollten versuchen, das Wohlergehen anzugleichen. Das sieht ähnlich aus wie Ergebnisgleichheit, aber man spricht nicht über „Ergebnisse“, sondern über „Wohlergehen“. Das war seine Anregung.
Mounk: Um das wieder mit unserem Ausgangspunkt zu verknüpfen: Warum ist diese ganze Debatte wichtig, wenn wir klug über Gleichheit nachdenken wollen – und weshalb untergräbt sie die stillschweigende Annahme dieses Memes, das im Kern für Ergebnisgleichheit beziehungsweise das, was manche „Equity“ nennen, argumentiert?
Heath: Diejenigen, die Wohlergehen angleichen wollten, kamen der Idee einer Ergebnisgleichheit am nächsten. Sie merkten aber ziemlich schnell: In dem Moment, in dem Individuen Entscheidungen treffen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, kann man unmöglich ernsthaft behaupten, man wolle das alles auf einen Stand bringen.
Ein Beispiel, das in der Literatur auftauchte, war ein Mönch, der ein Gelübde der Askese abgelegt hat und deshalb zum Beispiel nur 1500 Kalorien am Tag zu sich nimmt. Er ist offensichtlich schlechter gestellt als der durchschnittliche Amerikaner. Aber wir empfinden dieses Ergebnis nicht als ungerecht, weil es offenkundig auf einer bewussten Entscheidung beruht.
Eine Strategie bestand daher darin, am Begriff des Wohlergehens festzuhalten, ihn aber zu modifizieren: Man sagt, wir wollen Wohlergehen angleichen – außer wenn das Wohlergehen, das jemand erreicht, eine Folge der eigenen Entscheidungen ist. In diesem Fall versuchen wir nicht mehr, es auszugleichen. Nur wenn Unterschiede auf Umständen beruhen, die außerhalb der Kontrolle der Betroffenen liegen, sollen sie angeglichen werden.
Das führte zu einer Position, die man „verantwortungssensiblen Egalitarismus“ nannte. Die Idee lautete: Wir gleichen Unterschiede aus, für die man Menschen nicht verantwortlich machen kann; wir gleichen nicht aus, wofür sie selbst verantwortlich sind. Daraus entstand der Begriff „Glücksegalitarismus“. Dessen Vertreter waren stolz auf ihre Position, weil sie glaubten, den offensichtlich stärksten konservativen Einwand gegen rohen Egalitarismus entschärft zu haben: Wenn man jemandem Essen gibt und er wirft es weg, ist es keine Ungerechtigkeit, wenn er nachher nichts mehr zu essen hat.
Das Problem mit dem Bild von den Kindern auf den Kisten ist, dass genau diese grobe Ergebnisgleichheit den alten konservativen Einwand bestätigt: Sie versucht, ein Ergebnis gleichzumachen, ohne darauf zu achten, welche Entscheidungen Menschen getroffen haben und wie viel Verantwortung sie für ihre Lage tragen.
Mounk: Du sagst an anderer Stelle: Entscheidend ist, welche Umstände vorliegen. Handelt es sich um ein Grillfest, bei dem allen gesagt wurde, sie sollen ihre eigene Kiste mitbringen? Ist es so, dass eines dieser Kinder schlicht keine Kiste organisieren konnte, weil es durch tieferliegende Ungerechtigkeiten strukturell benachteiligt ist? Oder hat dieses Kind einfach aus Bequemlichkeit keine mitgenommen, obwohl es zuhause genügend Kisten gibt?
Im wirklichen Leben unterscheiden sich unsere moralischen Intuitionen massiv, je nachdem, welche Hintergrundgeschichte wir im Kopf haben. Ist das ein Kind, das in einem benachteiligten Viertel aufgewachsen ist, mit einer schlechten Schule, wenigen Chancen, kaum Unterstützung – und nun in einem Mindestlohnjob hängt? Oder ist es jemand, der im Prinzip dieselben Chancen hatte wie andere, sie aber nie genutzt hat, vielleicht einen Job im Streit hingeworfen hat und jetzt schlechter dasteht? Diese Unterschiede machen moralisch einen erheblichen Unterschied – und werden in dem Beispiel vollständig eingeebnet.
Heath: Egalitäre Philosophen hatten das Gefühl – vielleicht etwas überheblich –, sie hätten gelernt, diesen Einwand zu entschärfen. Ja, es stimmt: Menschen treffen schlechte Entscheidungen. Aber es gibt eben auch eine Fülle von Umständen, die klar jenseits ihrer Kontrolle liegen – strukturelle Faktoren, die zu Ungerechtigkeit beitragen. Wirtschaftliche Bedingungen, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht – das alles ist nicht gewählt und hat nachweisbare Auswirkungen auf die Ergebnisse.
Die etwas selbstbewusste egalitäre Position lautete: Wir können eine egalitäre Lehre formulieren, die genau diese unverschuldeten Faktoren herausfiltert, und dann eine institutionelle Antwort entwickeln, die versucht, entlang dieser Dimensionen anzugleichen – ohne jede einzelne Folge unkluger individueller Entscheidungen ausgleichen zu wollen. Viele waren überzeugt, sie hätten damit die klassischen konservativen Einwände gegen einfachen Egalitarismus endgültig entkräftet.
Mounk: Eine der Attraktionen dieser Tradition ist – wie du angedeutet hast –, dass sie die historisch mächtigsten Argumente der Rechten, nämlich Wahl und Verantwortung, in das Instrumentarium der egalitären Linken integriert. Jetzt gehen wir natürlich tief in die Philosophie, aber ich finde, es lohnt sich.
Ich habe im Rahmen meiner Dissertation eher nebenbei über Glücksegalitarismus nachgedacht und kenne einige der Einwände dagegen. Die Ausgangsintuition ist stark: Wir wollen nicht einfach gleiche Ergebnisse oder ein bestimmtes Gleichheitsmuster. Was unsere Ungerechtigkeitsintuition auslöst, ist, wenn jemand aus Gründen arm ist, für die er nichts kann. Jemand wächst in einem Stadtteil mit miserabler Schule auf, leidet vielleicht als Kind an Mangelernährung, erwirbt dadurch keine marktfähigen Fähigkeiten und bleibt als Erwachsener in Armut – das wirkt offensichtlich unfair. Da gab es keine eigenständige Entscheidung, die ihn in diese Lage gebracht hätte.
Die große Einsicht des Glücksegalitarismus ist, dies zu benennen, ohne sich auf vollständige Ergebnisgleichheit festzulegen. Nehmen wir zwei Kinder aus wohlhabenden Familien in einem gut situierten Vorort, beide besuchen Eliteschulen. Das eine landet in einem exzellenten Job, das andere arbeitet nie ernsthaft und lebt am Ende in Armut. Das wirkt nicht in demselben Maße wie eine dramatische Ungerechtigkeit. So weit, so gut.
Es gibt aber zwei Probleme. Das erste wurde von Elizabeth Anderson formuliert. Sie sagt: In einem Glücksegalitarismus müsste der Staat – wenn er ehrlich wäre – Menschen am unteren Ende auf eine Art behandeln, die zutiefst entwürdigend ist. Statt zu sagen: „Wir wissen nicht genau, warum du in dieser Lage bist – vielleicht hattest du Pech, vielleicht hast du nicht alle Chancen genutzt –, aber du hungerst und wir wollen nicht, dass Menschen hungern, also helfen wir dir“, müsste der Staat sinngemäß sagen: „Wir haben deinen Fall sorgfältig geprüft und festgestellt, dass du nicht aus eigener Schuld arm bist. Du bist nicht arm, weil du deine Talente nicht genutzt hast, sondern weil du schlicht keine Möglichkeit hattest, auf dem Markt Geld zu verdienen. Egal wie sehr du dich bemüht hättest, du bist so wenig begabt, dass wir dir nun Unterstützung gewähren.“
Selbst wenn Menschen in dieser Lage Hilfe bekommen, wären sie in einer tief untergeordneten Position, weil diese Hilfe auf der Diagnose beruht, dass sie nichts Produktives beitragen können. Sie sind in dieser furchtbaren Lage aus Gründen, die vollständig außerhalb ihrer Kontrolle liegen – und genau das ist die Voraussetzung dafür, dass sie Unterstützung erhalten. Daran ist etwas Demütigendes. Das ist die eine Einwandslinie.
Die andere, die ich sehr überzeugend finde, ist, dass sich diese Sicht hoffnungslos in metaphysischen Fragen darüber verheddert, was eine Entscheidung überhaupt ist. Es klingt zunächst einfach zu sagen: Wenn du aus eigenen Entscheidungen arm bist, helfen wir dir nicht; wenn du arm bist, obwohl du nichts hättest anders machen können, helfen wir dir. Das klingt plausibel – aber sind reale Staaten und Sozialverwaltungen wirklich die richtigen Institutionen, um darüber zu entscheiden? Kann ein Sachbearbeiter je sicher wissen, warum jemand in einer bestimmten Lage ist? Und selbst wenn wir diese praktische Ebene ausblenden und nur im Rahmen „idealer Theorie“ über Prinzipien der Gerechtigkeit nachdenken, hängt der Begriff der Verantwortung letztlich von deiner Haltung zur Frage des freien Willens ab.
Wenn du an freien Willen glaubst, dann magst du sagen: Manche Menschen haben schlechte Entscheidungen getroffen, also ist es in Ordnung, wenn sie weniger haben. Wenn du glaubst, es gibt keinen freien Willen, dann verpflichtet sich der Glücksegalitarismus eigentlich wieder auf strikte Ergebnisgleichheit. Denn wenn niemand je wirklich „eine Wahl“ trifft und wir alles kompensieren wollen, was auf „Pech“ zurückgeht – also auf Dinge außerhalb der Kontrolle der Person –, dann ist jede Ungleichheit außerhalb ihrer Kontrolle, weil nichts wirklich in ihrer Kontrolle liegt.
Dann hängt es plötzlich von deiner metaphysischen Position zum freien Willen ab, ob wir die egalitärste Gesellschaft der Geschichte oder eine extrem ungleiche Ordnung für gerecht halten. Und das wirkt ziemlich unrealistisch.
Heath: Zur Klarstellung: Ich bin kein Glücksegalitarist. Einige meiner Freunde sind es, ich selbst war das aber nie. Ich erkläre dir diese Position, aber ich vertrete sie nicht. Glücksegalitarismus war zudem nicht die einzige Option. Er war gewissermaßen die linkeste Spielart, weil er mit dem umfassendsten Gleichheitsanspruch startete: dem Versuch, das Wohlergehen aller anzugleichen und alle gleich glücklich zu machen. Diese Sicht war offensichtlichen Einwänden ausgesetzt. Man versuchte dann, sie zurückzustutzen, indem man sagte: „Gut, außer wenn es Folge eigener Entscheidungen ist“, oder: „außer in diesen und jenen Fällen“. Man nahm also eine sehr weitreichende Gleichheitsvorstellung und ergänzte eine Reihe von Ausnahmen.
Genau diese Ausnahmen führen zu den Problemen, die du beschrieben hast. Ein alternativer Ansatz besteht darin, umgekehrt vorzugehen und mit einer bescheideneren Vorstellung zu starten, wohin die Reise in Sachen Gleichheit eigentlich gehen soll. Das findet man etwa bei Rawls: Gleichheit entsteht aus Systemen der Zusammenarbeit. Rawls beschreibt die Grundstruktur der Gesellschaft als System der Kooperation. Wenn du und ich nicht zusammenarbeiten müssen, können wir machen, was wir wollen; es gibt dann keinen zwingenden Grund, uns als Gleichberechtigte zu behandeln. Wenn wir aber kooperieren müssen, dann braucht es gemeinsame Spielregeln – und genau dort entsteht Gleichheit.
Gleichheit bezieht sich also nicht auf die menschliche Existenz insgesamt, sondern auf die Verteilung der Erträge aus Zusammenarbeit. Diese Position schien anfangs knauserig und weniger moralisch heroisch – und wurde in einem sehr linken akademischen Umfeld daher schnell als „rechts“ abgetan. Aber man kann von dort aus zu einer robusteren Gleichheitsvorstellung aufbauen.
In gewisser Weise starten Glücksegalitaristen mit einem rhetorisch sehr starken Egalitarismus und schneiden dann immer mehr davon weg. Der vertragstheoretische oder Rawls’sche Ansatz beginnt mit einer eher bescheidenen Vorstellung und versucht, sie zu stärken. Ich denke, viele Probleme des Glücksegalitarismus lassen sich vermeiden, wenn man von dieser scheinbar dürftigen Idee der „Erträge aus Kooperation“ ausgeht und von dort aus arbeitet.
Mounk: Ich will dazu kurz etwas sagen, denn das finde ich sehr interessant. Etwas, das mir am Glücksegalitarismus und generell an vielen ethischen Theorien merkwürdig vorkommt, ist die implizite Vorstellung, die Welt sei von Natur aus in einem furchtbaren Zustand, und unsere moralische Aufgabe bestehe darin, jede Ungleichheit und jede Ungerechtigkeit, die die Natur produziert, zu korrigieren.
Man sieht das daran, dass Vertreter dieser Tradition, schon in den 1990er-Jahren, Positionen vertreten haben, die heute fast nach der „Incel“-Logik klingen – lange bevor es so etwas wie eine „Manosphere“ oder diesen Diskurs gab. Wenn man sagt: Wir haben die Pflicht, jede Ungleichheit zu kompensieren, für die jemand nichts kann, könnte man zum Beispiel argumentieren: Manche Menschen sind attraktiver oder charismatischer als andere. Das führt zu enormen Unterschieden. Die Fähigkeit, einen liebevollen Lebenspartner zu finden, der sich um einen kümmert und eine Familie mit einem gründen möchte, ist etwas sehr Wichtiges. Manche haben es hier deutlich leichter – aufgrund von Faktoren, die sie sich nicht ausgesucht haben. Müssten wir das nicht irgendwie ausgleichen?
Philippe Van Parijs, einer der wichtigen Denker dieser Tradition, sagt im Kern: Ja. Wir können kein Recht auf einen bestimmten Partner festschreiben – das würde gegen Freiheitsrechte verstoßen –, aber wir sollten jedem eine „gerechte, handelbare Beteiligung an Partnerschaften“ zugestehen. Wer also aufgrund von Pech keinen Partner findet, soll auf andere Weise kompensiert werden. Ich finde diese Denkweise ziemlich befremdlich. Und diese Befremdung rührt daher, dass dahinter die implizite Vorstellung steht, wir hätten als Menschen die Aufgabe, die Welt geradezubiegen – so, als hätte Gott einen schlechten Job gemacht und wir müssten jetzt als eine Art Ersatzgott die Schieflagen ausbügeln.
Demgegenüber steht – wie du betont hast – eine Sichtweise à la Rawls, die viel einfacher und intuitiver ist. Wir sind Menschen in einer Welt, in der es Stärken, Schwächen, Vorteile und Nachteile gibt. Das ist erst einmal einfach so. Aber wir sind in Systeme sozialer Kooperation eingebunden – und diese Kooperation ist mit Zwang verbunden. Wenn ich die Gesetze eines Landes missachte, kann ich im Gefängnis landen oder andere schwere Konsequenzen tragen.
Eine alte Frage der politischen Philosophie lautet: Was rechtfertigt das? Wenn der Staat sagt: „Du schuldest Steuern auf deinen kleinen Limonadenstand, gib mir ein Drittel deines Gewinns oder du wirst bestraft“, womit begründet er das? Wenn er sagt: „Hier ist eine Lärmschutzregel, und wenn du sie verletzt, wirst du bestraft“, worauf stützt sich diese Autorität? Die Antwort lautet: Diese Ordnung ist nur dann legitim, wenn die Bedingungen der Kooperation fair sind und alle in ihr sinnvolle Vorteile haben.
Die eigentliche Frage lautet dann: Unter welchen Bedingungen sind diese Kooperationsbedingungen fair? Und das ist, wie ich finde, ein wesentlich sinnvollerer Ausgangspunkt – nicht nur für Fragen der Gleichheit, sondern generell dafür, warum moralische Fragen in der Politik überhaupt entstehen.
Heath: Ja, ich stimme dir völlig zu. Diese Punkte zu Ehe und Sexualbeziehungen gehen auf eine ältere Provokation von Nozick zurück, der behauptet hat, es gebe eine Analogie zwischen dem „Heiratsmarkt“ und dem kapitalistischen Markt. In beiden Fällen, so seine These, kommen einfach Menschen zusammen. Bei romantischen Beziehungen: Man trifft jemanden, man kommt zusammen. Beim Kapitalismus: Jemand hat etwas zu verkaufen, ein anderer möchte es kaufen, man trifft sich und tauscht Güter.
Beim sogenannten Heiratsmarkt hat das einige ziemlich toxische Implikationen. Nozick sagt: In diesem „Markt“ interessiert sich niemand für Gleichheit oder Ungleichheit der Ergebnisse. Hübsche Menschen heiraten hübsche Menschen, und es gibt kein staatliches Programm, das das korrigieren soll. Zugleich ist es einer der letzten Bereiche, in denen rassistische Diskriminierung praktisch erlaubt ist, weil Menschen weiterhin offen „Rassenpräferenzen“ bei der Partnerwahl äußern – und das ist weitgehend akzeptiert.
Auf den kapitalistischen Markt übertragen sagt Nozick dann: Wie unterscheidet er sich? Wenn ich dich in meinem Schnellimbiss nicht bedienen will – warum sollte ich dazu gezwungen werden? Das war damals ein so unerträgliches Argument, dass es zunächst nicht wirklich ernst genommen wurde, bis später Leute wie Van Parijs sagten: Ja, er hat recht – diese Analogie ist stark, deswegen müssten wir vielleicht auch im Heiratsmarkt eine Art korrigierende Gerechtigkeit einführen.
Die richtige Antwort darauf ist, auf einen ganz wesentlichen Unterschied hinzuweisen. Der Heiratsmarkt – oder wie auch immer wir die Sphäre der Sexualbeziehungen nennen wollen – ist kein Kooperationssystem in derselben Weise wie der kapitalistische Markt. Zwei Menschen können eine Beziehung eingehen, ohne irgendetwas von anderen in der Gesellschaft zu benötigen. Es ist eine unabhängige Zweierbeziehung.
Im Markt dagegen hängt meine Möglichkeit, mich etwa auf philosophische Arbeit zu spezialisieren, davon ab, dass Millionen anderer Menschen sich auf ganz andere Dinge spezialisieren – Kleidung, Nahrung, Infrastruktur. Der Markt ist ein gewaltiges System der Kooperation – und genau das wirft Gerechtigkeitsfragen auf. Hier folgt der Gedankengang der Rawls’schen Linie und steht quer zum glücksegalitaristischen Ansatz. Man kann nicht einfach sagen: Das ist schlecht. Das Problem an Ungleichheiten, die durch eine Marktwirtschaft entstehen, ist, dass der Markt ein System organisierter Kooperation ist. Und immer, wenn wir systematisch miteinander kooperieren, stellt sich die Frage, wie wir die Früchte dieser Kooperation aufteilen.
Der Kooperationsstandpunkt ist aus meiner Sicht die überzeugendere Position – und er erlaubt, Nozicks Provokation mit dem Heiratsmarkt relativ leicht zu parieren. Ein großer Teil dessen, was im Glücksegalitarismus passiert, ist meines Erachtens ein fehlgeleiteter Versuch, Versicherung zu verstehen. Das ist ein Schwerpunkt meiner eigenen Arbeit. Eine der Schwächen des Glücksegalitarismus ist, dass er eigentlich keine Theorie der Versicherung hat.
Versicherung ist ein sträflich vernachlässigter Bestandteil moderner Gesellschaften und insbesondere des Wohlfahrtsstaates. Paul Krugman hat die Bundesregierung der Vereinigten Staaten einmal als „eine große Versicherungsgesellschaft mit Armee“ bezeichnet. Das ist eine großartige Formulierung, weil sie einfängt, wie man über den Wohlfahrtsstaat nachdenken sollte: vor allem als Bündel von Versicherungsprogrammen. Das sind einige der wichtigsten Kooperationssysteme in unserer Gesellschaft, in denen wir Risiken gemeinsam tragen. Als Kooperationssysteme werfen sie Fragen auf: Wie werden Lasten und Vorteile darin verteilt? Daraus ergeben sich viele interessante Gerechtigkeitsfragen.
Mounk: Hilf uns, diese Sicht zu motivieren. Das naheliegendste Beispiel ist die Arbeitslosenversicherung. In vielen Ländern verlangt der Staat, dass du einen Beitrag aus deinem Lohn in einen Fonds einzahlst. Wenn du deinen Job verlierst, kannst du daraus Leistungen beziehen. Die Struktur entspricht eins zu eins einer Versicherung.
Niemand will arbeitslos sein oder hofft darauf, die Stelle zu verlieren. Aber man zahlt verpflichtend einen kleinen Teil des Lohns ein – und im Gegenzug steht im Ernstfall, wenn man plötzlich keine Arbeit mehr hat und die Hypothek nicht bedienen kann, ein Schutz da: Man verhungert nicht auf der Straße, sondern kann hoffentlich eine Zeitlang weiter seine Rechnungen zahlen.
Das ist vergleichbar mit einer Autoversicherung. Ich hoffe nicht auf einen Unfall. Aber ich zahle jeden Monat eine kleine Prämie. Wenn es doch kracht, bekomme ich eine Auszahlung, kann Schäden am anderen Wagen bezahlen und hoffentlich meinen eigenen reparieren.
Wie ist es mit Renten oder Kinderleistungen? Viele Elemente des Wohlfahrtsstaats scheinen nicht so offensichtlich als Versicherungen strukturiert zu sein wie die Arbeitslosenversicherung.
Heath: Es gibt ein hervorragendes Buch von David Moss mit dem Titel „When All Else Fails“, das die Logik all dieser Systeme durchspielt und zeigt, wie in vielen von ihnen eine implizite Versicherungsstruktur steckt. Man kann die Entwicklung des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert und den Aufstieg des Wohlfahrtsstaats auch als tiefgreifende Veränderung der Art lesen, wie wir als Gesellschaft Risiken bündeln.
Viele von uns sind daran gewöhnt, die Lage der Arbeiter im neunzehnten Jahrhundert in einer grob marxistischen Weise zu lesen. Man sagt: Ihre Lebensbedingungen waren so schlecht, weil Ungleichheit und Ausbeutung herrschten. Ich bin ein großer Fan eines Buches von François Ewald mit dem Titel „L’État Providence“, das teilweise ins Englische übersetzt wurde.
Er argumentiert: Das ist die falsche Sichtweise. Man sollte sich vielmehr klarmachen, dass die Institutionen der feudalen Gesellschaft in Europa ganz unterschiedliche Formen der gemeinsamen Risikoabsicherung boten. Sie boten den Menschen Schutz gegen die großen Lebensrisiken: Verwitwung, Erwerbsunfähigkeit – aber auch das Risiko, die eigenen Ersparnisse zu überleben. Gerade im Alter nicht mehr arbeiten zu können, ist eines der zentralen Risiken.
Die traditionelle mittelalterliche Gesellschaft hatte eine Vielzahl von Institutionen, die Menschen eine bescheidene, aber ausreichende Absicherung dagegen boten. Was mit der Industrialisierung und dem Kapitalismus geschah, war: Der Kapitalismus zerstörte die meisten dieser Institutionen. Die Lage der Arbeiter im neunzehnten Jahrhundert spiegelt daher weniger eine Verteilungsungleichheit, sondern die Tatsache wider, dass große Teile der Bevölkerung Risiken ausgesetzt wurden, denen Menschen historisch zuvor nicht in dieser Weise ausgesetzt waren.
Dass es plötzlich so viele Bettler, Waisen, Witwen gibt, hat damit zu tun, dass die gemeinschaftlichen Unterstützungssysteme zerfallen sind. Das Drama, das Ewald für das späte neunzehnte und das zwanzigste Jahrhundert beschreibt, ist der Aufstieg der Versicherung – sowohl der privaten Versicherungswirtschaft als auch des Wohlfahrtsstaats. Das Beispiel der Renten ist besonders aufschlussreich. Eine Rente ist eine Form von Leibrente.
Eine Leibrente ist ein etwas spezielles Finanzprodukt: Man zahlt einen bestimmten Betrag im Voraus ein und erhält im Gegenzug eine feste regelmäßige Zahlung vom Ruhestand bis zum Tod. Leibrenten sind Versicherungsprodukte, weil sie Menschen gegen das Risiko absichern, ihre Ersparnisse zu überleben. Die meisten kennen sie nicht, weil es auf privaten Märkten für Leibrenten gravierende Marktfehler gibt.
Wenn du unter fünfzig bist und zu einer Bank gehst und sagst: „Ich möchte eine Leibrente kaufen“, wird man sie dir in der Regel nicht verkaufen, weil solche Produkte erst ab einem bestimmten Alter angeboten werden. Das ist ein Marktversagen. Eine der Aufgaben des Wohlfahrtsstaats besteht darin, dieses Loch zu schließen, indem er kollektive öffentliche Renten anbietet. Wenn du mit dreißig arbeitest, zahlst du verpflichtend in ein staatliches Rentensystem ein – im Kern in eine große, öffentliche Leibrente.
Mounk: Genau, und da gibt es etwas, das auf den ersten Blick kontraintuitiv wirkt und das wir erklären sollten. Beim Auto ist es klar: Du willst keinen Unfall. Deine Präferenz ist, unfallfrei zu fahren. Trotzdem zahlst du eine Versicherung – und wenn das schlechte Ereignis eintritt, bekommst du Geld und wirst finanziell halbwegs entschädigt.
Beim Alter ist es komplizierter. Eigentlich willst du ein langes Leben. Du möchtest lieber lange leben als früh sterben. Aber finanziell betrachtet sieht es merkwürdig aus: Wenn du mit 65 in Rente gehst, Ersparnisse für fünfzehn Jahre hast und nach fünf Jahren stirbst, ist das finanziell gesehen „Glück“, weil du gestorben bist, bevor deine Ersparnisse aufgebraucht waren. Wenn du dagegen noch fünfundzwanzig oder dreißig Jahre lebst und deine Ersparnisse nach fünfzehn Jahren verbraucht sind, ist das „Pech“.
Das Rentensystem schützt dich vor diesem finanziellen Pech, indem es sicherstellt, dass du auch dann noch ein Einkommen hast, wenn du länger lebst, als statistisch erwartet wurde – sodass du im Alter würdig leben kannst.
Heath: Ja, und darin steckt jede Menge Verwirrung. Die erste entsteht bei Renten, wenn man eine Momentaufnahme macht und sagt: Was passiert hier eigentlich? Aus einer rein verteilungspolitischen Perspektive sieht es so aus, als würde der Wohlfahrtsstaat ständig Ungleichheit korrigieren. Man schaut auf Renten und sagt: Das ist doch einfach eine Umverteilung von Jung zu Alt. Und dann diskutiert man darüber, warum man den Alten überhaupt Geld geben sollte. Früher waren alte Menschen oft arm, also betrachtet man das Programm als egalitäre Maßnahme.
Aber das ist die falsche Perspektive. In der Momentaufnahme sieht es wie Umverteilung von Jung zu Alt aus. Über den gesamten Lebensverlauf hinweg ist es keine Umverteilung zwischen Generationen, sondern zwischen dem eigenen jüngeren und dem eigenen älteren Ich. Die tatsächliche Umverteilung findet zwischen Menschen statt, die früh sterben, und Menschen, die lange leben. Wer früh stirbt, hat Beiträge in die Rentensysteme gezahlt, die stillschweigend an jene übergehen, die ein langes Leben haben.
Man kann nun fragen: Warum sollten wir diese Umverteilung wollen? Ich benutze gern das Beispiel der Autoversicherung. Auch da scheint es so, als gäbe es Umverteilung von „guten“ Fahrern zu „schlechten“ Fahrern. Man könnte fragen: Warum verlangt die Gerechtigkeit das? Die Antwort lautet: Gerechtigkeit verlangt das nicht – es ist einfach die Logik eines Versicherungssystems.
Bestimmte Ereignisse sind in erster Linie Pech, auch wenn eigenes Verhalten eine Rolle spielen kann. Wenn jede und jeder von uns allein dieses Pech tragen müsste, wäre das hochgradig ineffizient, denn man müsste ständig so viel Geld bereithalten, dass man sich im Notfall ein neues Auto leisten könnte. Stattdessen bündeln wir unsere Ersparnisse, weil sich auf Bevölkerungsebene ziemlich genau vorhersagen lässt, wie viele Unfälle es geben wird. Wir sichern uns gemeinsam gegen bestimmte Risiken ab.
Renten funktionieren genau so. Es gibt ein schlechtes Ereignis – länger zu leben, als die eigenen Ersparnisse reichen. Wir legen unsere Beiträge zusammen, um sicherzustellen, dass niemand von uns dieses Risiko allein tragen muss. Nichts davon ist im Kern Umverteilung. Es ist ein System organisierter Kooperation.
Mounk: Ich glaube, ein Teil der Schwierigkeiten, Versicherung zu verstehen – wenn auch hoffentlich nicht für die Hörerinnen und Hörer dieses Podcasts –, ist noch grundsätzlicher. Man sieht in sozialen Netzwerken immer wieder den Gedanken – und ich meine, jemand in einer amerikanischen Talkshow hat ihn kürzlich auch geäußert –, dass man die Versicherungsbeiträge zurückbekommen müsse, wenn man ein Jahr lang nicht krank war. Das zeigt, wie fundamental das Prinzip oft missverstanden wird.
Wenn wir zurück zur größeren Linie unseres Gesprächs kommen: Wenn wir den Wohlfahrtsstaat als im Kern versicherungsbasiert verstehen, was sagt uns das über sein Wesen? Und allgemeiner: Angesichts all dieser feinen philosophischen Unterscheidungen – wie sollten wir heute für eine bestimmte Form von Gleichheit argumentieren?
Für jene in meinem Publikum, die zu Recht über Ungleichheit im kapitalistischen System besorgt sind, die ein Problem darin sehen, dass viele Menschen arm sind, während einige unfassbar reich sind, und die politische Maßnahmen wollen, die Menschen gegen schlechte Ereignisse absichern oder auch umverteilen – was ist aus deiner Sicht das überzeugende Argument dafür? Und warum ist es so wahrscheinlich, dass die Wiederkehr des Sozialismus, die teilweise Wiederkehr kommunistischer Ideen und der Ruf, den Kapitalismus als System vollständig zu verwerfen, nicht zu den Ergebnissen führt, die sich diese Leute erhoffen?
Heath: Der ganze Exkurs über Versicherung kam jetzt etwas unvermittelt, aber der Grund, warum ich ihn eingebracht habe, ist folgender: Wenn ich auf die Probleme der amerikanischen Gesellschaft schaue, sehe ich die Vereinigten Staaten vor allem als eine unterversicherte Gesellschaft – im Wesentlichen aus Angst vor staatlicher Macht. Wenn man einmal verstanden hat, dass der Wohlfahrtsstaat überwiegend nicht darin besteht, Peter Geld wegzunehmen, um es Paul zu geben, wird klar: Ein Teil dessen, was wie Umverteilung aussieht, ist tatsächlich Versicherung. Es sind Mechanismen, die Menschen gegen bestimmte Risiken absichern.
Die Schwäche des Wohlfahrtsstaates im klassischen Sinn in den USA hat dazu geführt, dass Amerikaner deutlich stärker Risiken ausgesetzt sind, gegen die sie sich vernünftigerweise gern schützen würden – die aber immer wieder ausschließlich durch die Brille der Umverteilung betrachtet werden. Das ist ein etwas älteres Beispiel, aber ich erinnere mich an Barbara Ehrenreichs Buch „Nickel and Dimed“. Sie hat in den USA als Kellnerin und Niedriglohnarbeiterin gearbeitet und darüber berichtet. Die mediale Debatte drehte sich fast nur um Armut und niedrige Löhne. Als ich das Buch las, hatte ich den Eindruck: Eigentlich geht es auf jeder Seite um Krankenversicherung. Die ganze Dramatik dreht sich um Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, Behandlungskosten, unbezahlte Rechnungen.
Amerikaner unterschätzen oft, wie sehr das Fehlen einer umfassenden Krankenversicherung und eines dichten Wohlfahrtsnetzes jede Ecke des sozialen Lebens prägt. Wenn ich mir Ungleichheit in den USA anschaue, habe ich das Gefühl, der Fokus auf das reichste Prozent und Figuren wie Jeff Bezos ist eine Art glänzendes Ablenkungsobjekt. Die wirklich gravierende Ungleichheit liegt darin, dass die unteren dreißig Prozent eine extrem klebrige Kategorie bilden: Es ist in den USA enorm schwer, aus diesem Bereich herauszukommen – verglichen mit vielen europäischen Ländern oder auch Kanada.
Vieles davon hängt mit Versicherung zusammen: mit fehlenden Sicherungsnetzen, mangelnden Programmen, die Menschen am unteren Ende einen echten Start ermöglichen. Das muss man nicht in einer nullsummenhaften Umverteilungssprache formulieren. Man kann es in der positiven Logik von Versicherung ausdrücken – als Schutz vor Risiken. Ein Großteil des Glücksegalitarismus war ein missglückter Versuch, genau das zu benennen. Er identifizierte das Thema Risiko, stülpte dem Ganzen aber sofort einen Gleichheitsrahmen über, statt in Begriffen von Versicherung zu sprechen.
Mounk: Das ist ein sehr interessanter Punkt. Denn Glücksegalitarismus sagt im Grunde: Wir haben eine abstrakte Pflicht, die Ungerechtigkeiten zu beheben, die von Natur oder Zufall produziert werden. Und er versucht das, indem er für jede einzelne Person klären will, ob sie wegen eigener Entscheidungen oder wegen Pech arm ist – und dann die Opfer von Pech möglichst auf ein gleiches Niveau hebt. Das ist den intuitiven Vorstellungen der meisten Menschen radikal fremd.
Wenn man stattdessen sagt: Die meisten Amerikaner arbeiten hart und halten sich an die Regeln – um die Formulierung von Barack Obama zu verwenden – und sie verdienen ein Leben mit materieller Würde und Chancen. Aber im Leben passiert Schlimmes: Arbeitsunfälle, Behinderungen, schwere Krankheiten, die einen arbeitsunfähig machen. In unserer Gesellschaft sind Menschen gegen viele dieser Risiken schlecht abgesichert, obwohl sie oft nichts dafür können. Es ist nicht deine Schuld, dass du krank wirst oder einen Unfall hast. Wäre es nicht besser, in einer Gesellschaft zu leben, die Menschen vor solchen Risiken schützt?
In dieser Perspektive wird auch sichtbar, dass solche Sicherungen es Menschen leichter machen, Risiken einzugehen: einen Job zu kündigen, ein Unternehmen zu gründen, etwas Neues zu wagen – ohne sofort zu fürchten, im Krankheitsfall völlig schutzlos dazustehen. Das hätte positive Effekte für alle. Und es ist eine deutlich plausiblere Argumentationsweise, wenn man politische Mehrheiten gewinnen will.
Heath: Ja, eines der vielen Rätsel der amerikanischen Gesellschaft ist dieser Hang zum normativen Maximalismus – extrem weitreichende moralische Forderungen zu formulieren in einem Kontext, in dem diese Positionen nicht nur politisch chancenlos sind, sondern in dem es nicht einmal die Institutionen gäbe, um sich ihnen anzunähern.
Ein Teil davon hat, glaube ich, mit der Isolation von Akademikern in den USA zu tun. In Europa ist es relativ wahrscheinlich, dass eine Professorin oder ein Professor, der sich mit Wirtschafts- und Sozialpolitik beschäftigt, irgendwann einmal von einer Regierung in eine Kommission berufen oder um Rat gefragt wird. Das wirkt wie ein Korrektiv gegen normative Übertreibung. Wenn jemand fragt: „Was sollen wir jetzt mit dem Steuersystem tun?“, wird sofort klar, wie wertvoll realistische, erreichbare normative Maßstäbe sind.
In den USA, wie ich es an Universitäten erlebt habe, interessiert sich außerhalb der Hochschule oft niemand dafür, was Professoren denken. Das erleichtert es, sich in extremen, weltfremden Forderungen einzurichten. Meine Einschätzung zum Glücksegalitarismus ist: Man braucht diese hochgradig umstrittenen normativen Annahmen gar nicht, um zu vernünftigen politischen Zielen zu kommen.
Ich habe mich diesem Themenfeld mit einer Art normativem Minimalismus genähert: Man soll von den gewünschten politischen Maßnahmen ausgehen und dann ein normatives Prinzip wählen, das gerade stark genug ist, um diese Maßnahmen zu rechtfertigen – aber nicht provokanter oder umstrittener, als unbedingt nötig.
Einige meiner Intuitionen stammen aus Kanada, aus den Debatten über das Gesundheitssystem im späten zwanzigsten Jahrhundert. Damals, als die Kosten stiegen, wurde ernsthaft über eine Privatisierung diskutiert. Die Konservative Partei war damals im Großen und Ganzen dafür. Heute will das niemand mehr – aus offensichtlichen Gründen –, aber damals war das eine reale Option.
Mir fiel auf, dass praktisch alle Verteidiger des öffentlichen Gesundheitssystems ausschließlich mit Gleichheitsargumenten arbeiteten: Es müsse öffentlich sein, damit alle exakt dieselbe Versorgung erhalten. Die Gegenseite sagte: Ein privates System wäre effizienter. Niemand verteidigte ernsthaft die mittlere Position: dass es enorme Vorteile hat, Gesundheit als öffentliches Versicherungsproblem zu organisieren – in Form eines Einzahler-Systems.
Das Versicherungsargument für ein öffentlich finanziertes Gesundheitssystem war politisch heimatlos. So bin ich überhaupt in diese Debatte hineingeraten und habe ein Buch geschrieben, in dem ich das kanadische System vor allem aus Effizienzgründen verteidigt habe. Und dieses Prinzip lässt sich verallgemeinern: Man sollte kein normatives Prinzip wählen, das viel kontroverser ist, als es sein muss, um vernünftige soziale und politische Ziele zu rechtfertigen.
Mounk: Vielleicht kannst du noch ein Stück weitergehen. Du hast es jetzt schon ein paar Mal erwähnt: Du bist Kanadier und kennst die Vereinigten Staaten sehr gut, also hast du eine Art Insider–Outsider-Blick auf Amerika. Du bist sehr vertraut mit den amerikanischen Debatten und siehst die Gesellschaft zugleich ein Stück weit von außen. Was, glaubst du, sind die wichtigsten Dinge, die die USA tun müssten, um eine egalitärere Gesellschaft zu werden – und zwar in einer Weise, die mit den Einsichten der politischen Philosophie darüber vereinbar ist, welche Form von Gleichheit vernünftig ist und sich in den letzten fünfzig Jahren zu verfolgen gelohnt hat?
Du kannst dabei gern sowohl inhaltliche Empfehlungen geben – also welche Versicherungen oder sozialstaatlichen Programme Amerika zusätzlich einführen und wie es das tun sollte – als auch politische Empfehlungen: Wie sollten Amerikaner für solche Positionen argumentieren, ohne sich rhetorisch oder strategisch in Sackgassen zu manövrieren?
Heath: Das ist eine gute Frage. Ich verbringe eine ungesunde Menge Zeit damit, über Amerika und seine Probleme nachzudenken. In gewisser Weise sind wir ja alle dazu gezwungen, weil Amerika sich offenbar vorgenommen hat, die gesamte westliche Zivilisation mit in die Luft zu jagen. Amerikanische Probleme werden mehr und mehr zu den Problemen aller. Für Kanadier ist das besonders frustrierend, weil wir Amerika sehr genau beobachten. Wir sind geradezu besessen von Amerika, werden aber auch stark von ihm beeinflusst. Es gibt eine Menge Dinge, die von außen leicht zu sehen sind, die für Amerikaner selbst aber sehr schwer zu erkennen sind.
Es ist zudem schwierig, solche Beobachtungen vorzubringen, ohne gleich als Nörgler dazustehen – und die Polarisierung in den USA macht das extrem heikel. Ich spiele deshalb oft die Karte „Ich bin ja nur ein Kanadier, ich weiß nicht so genau, wovon ich rede, aber mir scheint …“, einfach um zu vermeiden, sofort einer bestimmten Lagerlogik im Kulturkampf zugeordnet zu werden – und um Amerikanern trotzdem ein paar Dinge sagen zu können, die mir eigentlich offensichtlich vorkommen.
In vielen Politikfeldern springen einem bestimmte Punkte ins Auge. Ein offensichtliches Beispiel ist, dass Amerikaner massiv unterschätzen, wie sehr der Mangel an Waffenkontrolle ihren Handlungsspielraum in vielen anderen Bereichen einschränkt. Die Tatsache, dass Waffen überall sind, macht etwa Debatten über Polizeireformen in den USA völlig anders als Debatten über Polizei in einem Land, in dem eben nicht überall Waffen im Umlauf sind.
Ein anderes Beispiel sind sogenannte Lebensmitteldürren – Gegenden ohne vernünftige Einkaufsmöglichkeiten. Ich wollte einmal eine kleine Foto-Reportage über kanadische Städte machen: Bei uns gibt es eine Supermarktkette namens No Frills, eine Art extremer Discounter wie Aldi oder Sam’s Club. Egal wie „schlecht“ ein Viertel ist – irgendwo mittendrin steht ein riesiger No-Frills-Markt. Warum? Weil es keinen Grund gibt, nicht auch im problematischsten Viertel von Toronto oder Vancouver einen Billig-Supermarkt hinzustellen – denn die Leute laufen dort nun einmal nicht mit Waffen herum. Das verändert unheimlich viel im öffentlichen Leben.
Darum erlebt man in Amerika große akademische Debatten über Ernährungssicherheit und Lebensmitteldürren, aber der Handlungsspielraum der Politik ist durch das hohe Gewalt- und Waffenniveau extrem eingeschränkt. Ein weiteres Beispiel ist eine gleich hohe Pro-Kopf-Finanzierung im Bildungswesen. Ein Großteil des Dramas um Wohnsegregation ist eigentlich ein Stellvertreterkonflikt um Bildungschancen – und der hängt wiederum damit zusammen, dass viele Bundesstaaten in den USA kaum oder gar nicht über die Grenzen einzelner Schulbezirke hinweg umverteilen.
In vielen anderen Ländern gilt: Selbst wenn Schulen über Grundsteuern finanziert werden, wird das Geld auf Landes- oder Bundesebene komplett umverteilt, sodass jeder Schüler exakt den gleichen Betrag pro Kopf erhält. Anstatt zu versuchen, Stadtviertel über Rassenzuschnitt umzubauen oder komplizierte Grenzziehungen vorzunehmen: Wenn das Kernproblem der Zugang zu Bildungsfinanzierung ist, dann löst man eben das. Man finanziert jeden Schüler von der ersten bis zur zwölften Klasse im ganzen Bundesstaat mit demselben Betrag. Das hätte enorme Auswirkungen auf das Land.
Ein weiterer Punkt ist Mobilität. Einer der Gründe, warum es in Amerika so schwer ist, der Armut zu entkommen, ist, dass es unglaublich schwierig ist, als armer Mensch umzuziehen. Ein Teil des Problems liegt darin, dass es kein einheitliches, umfassendes Sozialsystem gibt. Es gibt das Programm SNAP für Lebensmittelhilfen und dann sechs oder sieben andere Leistungen, jede in einem anderen Bundesstaat anders organisiert, mit jeweils eigenen Hürden bei der Antragstellung. Wenn du in Oklahoma arm bist, ist es extrem schwer, irgendwo anders neu anzufangen – die Leute bleiben hängen.
Ein großer Teil des „MAGA-Problems“, das Problem der arbeitslosen Bergleute und Ähnliches ließe sich auf subtile Weise entschärfen, wenn die Bundesregierung viel entschiedener darauf bestünde, dass Sozialleistungen über Staatsgrenzen hinweg portabel sein müssen. Wenn du eine strukturschwache Region mit kollabierender Wirtschaft hast, könnten die Menschen diese Region einfach verlassen.
Ich möchte nicht wie ein besserwisserischer Kanadier klingen, aber wir hatten auch Kohleminen in Kanada, in abgelegenen Gegenden – und jede einzelne davon ist inzwischen geschlossen. Und trotzdem haben wir keine große Bevölkerung verbitterter, arbeitsloser Bergleute, die in Scharen die extreme Rechte wählen. Warum? Weil der Bund die Portabilität der Sozialleistungen zwischen den Provinzen strikt durchsetzt. Wenn du in einer abgehängten Region lebst und die Mine schließt, ist das kein angenehmer Übergang – aber die Leute ziehen weg.
Das ist ein Aspekt, dessen Bedeutung amerikanische Progressive meiner Ansicht nach massiv unterschätzen: wie viel man erreichen könnte, wenn man auf der Übertragbarkeit von Leistungen bestehen würde.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.


