Luke Tryl über die Gründe für Großbritanniens Unzufriedenheit
Luke Tryl ist Geschäftsführer von More in Common UK, wo er die Arbeit der Organisation zur öffentlichen Meinung leitet.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und Luke Tryl darüber, was Keir Starmer falsch gemacht hat, warum die Reform UK Partei so stark geworden ist – und ob die Zeit der Konservativen abgelaufen ist.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Hinweis: Dieses Gespräch wurde am 6. Juni 2025 aufgenommen.
Yascha Mounk: Du beobachtest die britische Politik sehr genau. Die Konservative Partei (Anm. d. Red.: auch Tory Partei genannt) war sehr lange an der Macht, und gegen Ende ihrer Regierung war deutlich zu spüren, dass ihr die Energie ausgegangen war. Keir Starmer, ein moderater Parteivorsitzender der Labour Party, konnte mit einer riesigen, historischen Mehrheit ins Parlament einziehen – und trotzdem ist er weniger als ein Jahr nach seinem Amtsantritt schon ziemlich unpopulär, seine Regierung wirkt orientierungslos. Was läuft schief bei der Labour-Regierung?
Luke Tryl: Ja, das ist eine wirklich gute Frage. Ich glaube, es ist wichtig, ein Stück zurückzuschauen, wenn man verstehen will, warum Labour gerade Schwierigkeiten hat. Seit 2016 – also seit dem Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union – sagt die britische Bevölkerung immer wieder: Wir sind unzufrieden mit dem Status quo. In Großbritannien ist alles zu schwierig, zu teuer, es funktioniert einfach nicht so, wie es sollte. 2016 gab es dann dieses Votum, das im Kern sagt: Wir wollen Veränderung. Das bisherige Modell überzeugt uns nicht – vor allem außerhalb Londons und des Südostens. Und danach folgt eine Reihe von dem, was ich „Wahlen des Wandels“ nenne.
2016: Brexit ist eine Abstimmung für Veränderung.
2017: Theresa May ruft Neuwahlen aus, rechnet mit einem leichten Sieg. Doch plötzlich bekommt Jeremy Corbyn, ein sehr linker Labour-Chef, enormen Zulauf. Am Ende hat May nur noch eine Minderheitsregierung. Wieder ein Votum für Veränderung.
2019: Boris Johnson gewinnt mit großer Mehrheit, erobert frühere Labour-Hochburgen im Norden Englands – ehemalige Bergbaustädte und Ähnliches – erneut mit dem Versprechen von Wandel. Er kündigt an, sich auf die Gegenden zu konzentrieren, die sich abgehängt und vergessen fühlen. Doch in dieser Legislaturperiode bleibt der Wandel aus, aus vielen Gründen, und die Konservativen werden sehr unpopulär.
2024: Noch einmal ein Votum für Veränderung – diesmal für Keir Starmers Labour-Partei, die wortwörtlich mit dem Slogan „Change“ (oder „Veränderung”) angetreten ist. Das war die zentrale Botschaft ihrer Kampagne.
Was seitdem passiert ist: Die Leute haben das Gefühl, sie haben den versprochenen Wandel nicht bekommen. Und ich glaube, genau das ist der Hauptgrund für die Enttäuschung gegenüber Labour. Man könnte jetzt sagen: Na ja, Starmer ist doch erst seit weniger als einem Jahr im Amt – ist es nicht ein bisschen unrealistisch, schon große Veränderungen zu erwarten? Aber ich denke, sie haben sich ein paar Fehlstarts geleistet. Einer davon war die Kommunikation. Sie kamen ins Amt und sagten im Grunde: Es wird harte Entscheidungen geben. Wir müssen die Finanzen in Ordnung bringen. Wir müssen das Chaos beseitigen, das die Konservativen hinterlassen haben. Und darauf hat die Öffentlichkeit geantwortet: Von harten Entscheidungen hören wir seit der Finanzkrise 2008. Wir dachten, wir kommen endlich runter von diesem Hamsterrad. Sie haben Labour gewählt, damit die öffentlichen Dienste besser werden und das Leben ein bisschen einfacher wird. Diese Erzählung hat also nicht gezündet.
Der zweite Punkt ist eine besonders unpopuläre politische Entscheidung: Sie haben angekündigt, dass sie die sogenannte Winterbeihilfe streichen wollen – eine Zahlung, die Rentner jeden Winter erhalten. Früher bekamen sie alle, Labour wollte sie nun einkommensabhängig machen, also nur noch den ärmsten Rentnern auszahlen. Ihre Argumentation war: Warum sollen wir Millionäre subventionieren? Das Problem war aber – und das werden viele Zuhörer nachvollziehen können – dass dadurch eine große Gruppe in der Mitte leer ausgeht: keine Millionäre, aber auch nicht die Ärmsten. Die Entscheidung war extrem unpopulär, nicht nur bei Rentnern, sondern allgemein. Noch schlimmer: Sie haben das Ganze in einem politischen Vakuum verkündet, bevor sie überhaupt ihren ersten Haushalt vorgelegt oder andere große Maßnahmen angekündigt hatten. Ich habe diese Winterbeihilfe-Entscheidung manchmal als Labours Erbsünde in der Regierung bezeichnet, weil sie den Ton für alles Weitere gesetzt hat. Inzwischen sagen sie, dass sie zurückrudern und wieder mehr Rentner dafür qualifizieren wollen.
Der dritte Faktor, der sich ihrer Kontrolle ein Stück weit entzieht, ist die Erschöpfung durch die geopolitische Lage. Eine der großen Frustrationen für die Briten seit dem Brexit ist, dass sich Politik wie ein Dauerfeuer anfühlt: Brexit und die ganzen Auseinandersetzungen darüber, dann die Pandemie, die Lebenshaltungskostenkrise, der Ukrainekrieg, Partygate – ein einziges Drama ohne Pause. Und viele Leute haben nicht das Gefühl, dass das je aufgehört hat.
Also: Es ist eine Mischung aus verschiedenen Faktoren – manche hausgemacht, manche nicht –, die die Leute jetzt zu dem Schluss bringt: Das ist nicht das, wofür wir gestimmt haben. Und, da kommen wir sicher gleich noch drauf, jetzt beginnen sie, sich nach jemand anderem umzuschauen, nach einer Partei oder einer Person, die diesen Wandel endlich liefert.
Mounk: Ich frage mich, ob ein Teil des Problems nicht auch darin liegt, dass Starmer die Wahl im letzten Jahr dadurch gewonnen hat, dass er sich sehr gezielt mit den größten Schwächen seiner eigenen Partei auseinandergesetzt hat. Unter Jeremy Corbyn war die Labour-Partei für große Teile der Bevölkerung kaum noch wählbar. Sie war deutlich weiter links als die britische Öffentlichkeit, und die Leute trauten Corbyn nicht zu, ein kompetenter Premierminister zu sein. Keir Starmer hat die Führung der Labour-Partei damals ziemlich überraschend gewonnen – immerhin war er in Corbyns Schattenkabinett eher ein loyaler Mitläufer gewesen und hatte anfangs nicht den Eindruck vermittelt, er wolle die Partei grundsätzlich neu ausrichten. Doch dann, etwas überraschend, hat er Labour ziemlich kompromisslos in die politische Mitte geführt, einige der unnachgiebigsten Corbyn-Anhänger aus der Partei ausgeschlossen – zum Teil wegen antisemitischer Äußerungen. Das hat der Partei geholfen, sich von einer ihrer größten politischen Schwächen der vergangenen Jahre zu befreien. Diese Schwäche war es ja auch, die den Konservativen – trotz ihrer eigenen Turbulenzen – so lange an der Macht gehalten hat.
Mounk: Es zeigt sich: Die eigenen Schwächen zu korrigieren, ist ein guter Weg, um als regierungsfähige Alternative wahrgenommen zu werden. Es ist aber kein besonders guter Weg, um sich auf das Regieren selbst vorzubereiten. Als die Konservativen nach Jahren interner Streitereien und einer Reihe dysfunktionaler Regierungen endgültig am Ende waren, wirkte Starmer wie eine glaubwürdige Alternative. Er hatte die britische Öffentlichkeit davon überzeugt, dass er kein Extremist ist, sondern ein kompetenter Beamter mit Erfahrung. Die Leute dachten: Ja, wir können uns vorstellen, dass er das besser macht als das Chaos der letzten Jahre. Aber sobald man selbst regiert, wird man nicht mehr daran gemessen, ob man eine plausible Alternative ist – sondern daran, ob man eine proaktive politische Vision hat. Das war etwas, das Teile der Tory-Partei mit dem Brexit hatten. Es war nicht unbedingt eine kohärente Vision – und man kann sicher darüber streiten, ob sie geliefert haben, was sie versprochen hatten –, aber es war immerhin ein Versprechen auf Wandel. Jeremy Corbyn hatte das in seiner eigenen Art auch – keine populäre Vision, aber eben eine Vision von Veränderung. Selbst die moderate Regierung von New Labour unter Tony Blair hatte das. Sie hob sich klar von John Major und Margaret Thatcher ab – besonders kulturell. Sie fußte auf einer konkreten kulturellen und wirtschaftlichen Vorstellung, auch wenn sie nicht besonders radikal war. Weder linksradikal noch rechts, aber mit einer eigenen, durchdachten Philosophie.
Genau das scheint Starmer zu fehlen. Vielleicht gibt es oberflächlich Parallelen zu New Labour: ein Labour-Vorsitzender, der echte politische Kosten auf sich nahm, um die Partei in die Mitte zu führen, der entschlossen wirkte und die Partei regierungsfähig machte. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Er hat keine klare Vision davon, was seine Regierung eigentlich erreichen will – weder kulturell noch in anderen Bereichen. Diese Vision hatte New Labour 1997 sehr wohl.
Tryl: Das finde ich absolut treffend. Wenn man sich Starmers Labour-Partei anschaut, dann wird sie im Grunde darüber definiert, was sie nicht ist. Die erste Abgrenzung war: Wir sind nicht Jeremy Corbyn. Man darf Starmers Leistung nicht unterschätzen, das Labour-Image entgiftet zu haben. Als er übernahm, war gerade ein Bericht über Antisemitismus in der Partei veröffentlicht worden. Labour galt als nicht vertrauenswürdig in Wirtschafts- und Verteidigungsfragen. Er hat Schritte unternommen, um das zu korrigieren. Und er hat sich stark vom Boris-Johnson-Zeitalter abgegrenzt – Johnson, der während der Pandemie Partys in Downing Street feierte, was die öffentliche Stimmung massiv gekippt hat. Danach kam Liz Truss mit ihrem Mini-Budget, das wirtschaftliches Chaos ausgelöst hat. Starmer war dann die sichere, verantwortungsvolle, ethische Alternative – definiert im Kontrast dazu.
Aber du hast völlig recht: Als sie an die Regierung kamen, fuhren sie eine Strategie, die oft als „Ming-Vasen“-Strategie beschrieben wurde. Die Idee war: Kann man mit einer Ming-Vase durch den Raum gehen, ohne irgendetwas zu tun, das das Gleichgewicht stört? Und das hat sie auf gewisse Weise stark eingeschränkt. Sie haben viele Möglichkeiten zur Einnahmenerhöhung von vornherein ausgeschlossen, zum Beispiel indem sie sagten, sie würden Tory-Steuersenkungen nicht zurücknehmen. Das trägt, glaube ich, zu den schwierigen Entscheidungen bei, vor denen sie heute stehen. Und es bedeutete auch – und das hört man, wenn man mit Leuten im Umfeld der Regierung spricht – dass viele mit mehr Planung gerechnet hatten, als Labour ins Amt kam. Die war aber nicht da. Inzwischen scheint sich das zu ändern, aber es hat fast ein Jahr gedauert. Und wie wir wissen, ist das erste Jahr in der öffentlichen Wahrnehmung entscheidend dafür, wie eine Regierung wahrgenommen wird. Wenn ich mit Leuten spreche – was ich täglich in Fokusgruppen tue – höre ich oft dasselbe: Die Leute verstehen nicht so recht, wofür diese Regierung eigentlich steht. Sie sagen Dinge wie: Ich weiß nicht, was die eigentlich wollen. Wenn wir Menschen fragen, wofür die Labour-Partei steht – was sie im besten Fall ausmacht –, nennen sie drei Dinge: sich um die Arbeiterklasse kümmern, die öffentlichen Dienste verbessern und Armut bekämpfen. Aber vieles von dem, was die Regierung rhetorisch sagt, passt nicht dazu. Auch die politischen Maßnahmen nicht. Stattdessen ging es viel um „harte Entscheidungen“ und um technokratische Prozesse.
Mounk: Und das ist, ehrlich gesagt, ein interessanter Kontrast zu New Labour, die von der Linken oft als neoliberal kritisiert werden. Es gibt ja diese berühmte Aussage von Margaret Thatcher, dass Tony Blair ihr größter politischer Erfolg sei – weil er Elemente der Marktwirtschaft übernahm und viele ihrer Reformen fortführte.
Aber wenn man sich sowohl die Rhetorik als auch viele der konkreten Maßnahmen der New-Labour-Regierung anschaut, dann gab es einen unermüdlichen Fokus auf Investitionen in Bildung, auf die Verkürzung von Wartezeiten im staatlichen Gesundheitssystem – was in Großbritannien immer ein zentrales politisches Thema ist –, auf die Verbesserung öffentlicher Dienste und auf die Bekämpfung von Kinderarmut.
Und es ist bemerkenswert, dass Starmer, obwohl er sich in mancher Hinsicht am gemäßigten Kurs von New Labour orientiert, diese Prioritäten rhetorisch kaum betont. Das liegt zum Teil daran, dass Großbritanniens Finanzlage im Jahr 2025 viel angespannter ist als 1997. Er scheint nicht zu glauben, dass es den nötigen finanziellen Spielraum gibt, um wirklich in diese Bereiche zu investieren.
Tryl: Nein, überhaupt nicht. Genau wie du sagst: Viele verwechseln die Mäßigung von New Labour mit einem Mangel an Vision. Dabei war Tony Blair ein Premierminister mit echter Mission. Wenn man sich – wie du gesagt hast – die öffentlichen Dienste anschaut, aber auch den Fokus auf Kinderarmut, dann sieht man, wie viel diese Regierung da bewegt hat. Auch das, was sie im Bereich der Dezentralisierung getan hat, hat die Art, wie Großbritannien regiert wird, grundlegend verändert.
Mounk: Dezentralisierung – für ein nicht-britisches Publikum – bedeutete, dass viele Kompetenzen an nationale Parlamente in Schottland und Wales abgegeben wurden.
Tryl: Genau – es ging um die Gründung des schottischen Parlaments, der walisischen Nationalversammlung und die Reform des House of Lords, also unserer zweiten Kammer. Es ist eigentlich verrückt, dass es im House of Lords immer noch ein paar erbliche Sitze gibt – also Menschen, die ihren Platz geerbt haben. Blair hat den Großteil dieser erblichen Lords abgeschafft, das war eine bedeutende Verfassungsreform. Er hat auch große Reformen im öffentlichen Dienst durchgeführt, zum Teil in Bereichen wie Bildung, die die Tories später sogar weitergeführt haben: Schulen mehr Autonomie geben, inhaltsstärkere, anspruchsvollere Lehrpläne einführen – solche Dinge.
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Und trotzdem hat man bei dieser Regierung nicht das gleiche Gefühl einer Mission. Du hast recht – die finanziellen Spielräume sind enger als damals. Es gibt viele Probleme, viele Brände, die gelöscht werden müssen. Aber ich glaube, ein Teil liegt auch an Starmer selbst. Starmer ist ein sehr erfahrener Jurist. Er war Direktor der Staatsanwaltschaft. Er ist jemand, der glaubt: Man handelt auf Grundlage von Beweisen, und von dort aus arbeitet man sich vor. Man trägt seinen Fall mit Fakten vor – nicht mit einem festen Ziel vor Augen, das man sich vorher schon gesetzt hat. Manche sagen: Keir Starmer war eigentlich nie dafür gedacht, Premierminister zu werden. Er sollte die Labour-Partei nach Jeremy Corbyn stabilisieren, die Tories sollten wegen ihrer großen Mehrheit noch eine Amtszeit bekommen, und Labour war ohnehin weit abgeschlagen. In gewisser Weise ist er – durch die Fehler der Tories, das Mini-Budget, Partygate und all das – so etwas wie ein zufälliger Premierminister geworden. Ich glaube, er brauchte auch selbst etwas Zeit, um sich in der Rolle zurechtzufinden.
Ich würde noch einen Punkt ergänzen: In der Politik kämpfen die Leute oft den letzten Krieg. Ich denke, die Labour-Partei ist durch die Erfahrung der Wahl 2015 ziemlich traumatisiert, als Ed Miliband gegen David Cameron verloren hat. Ihre Analyse war damals: Die Tories kamen 2010 an die Macht und haben von Anfang an den Ton gesetzt. Sie sagten, Labour habe ein Chaos hinterlassen. Sie würden nun im nationalen Interesse harte Entscheidungen treffen. Und Labour versucht jetzt, genau dieses Narrativ zu übernehmen. Der Unterschied ist nur: 15 Jahre später sind die Leute das leid. Was ich immer wieder höre, ist: Warum reden die eigentlich ständig über die Tories? Wir haben die doch aus gutem Grund abgewählt. Wir wollen wissen, was ihr stattdessen machen wollt.
Mounk: In den 1980er Jahren hat die Labour-Partei in der Opposition ein sehr linkes und sehr detailliertes Wahlprogramm geschrieben. Das wurde später berühmt als „das längste politische Selbstmordschreiben der Geschichte“. Dann – ich glaube, das war bei der Wahl mit Ed Miliband als Spitzenkandidat – hat er in den letzten Tagen des Wahlkampfs zehn Versprechen in einen seltsamen Stein meißeln lassen, und irgendjemand nannte das „den größten Grabstein der britischen Geschichte“ oder so ähnlich – für mich war das auf jeden Fall das einprägsamste Bild dieser Kampagne.
Großbritannien hat ein Mehrheitswahlsystem – ähnlich wie bei den Wahlen zum US-Repräsentantenhaus. Es gibt mehrere Kandidaten pro Wahlkreis, aber gewählt ist, wer die meisten Stimmen bekommt. Es muss keine absolute Mehrheit sein – eine einfache Mehrheit reicht. Das führt tendenziell dazu, dass sich ein Zweiparteiensystem herausbildet. Es ist für kleinere Parteien schwer, sich durchzusetzen, weil viele Wähler befürchten, ihre Stimme zu verschwenden. Man würde also erwarten, dass in Großbritannien, wenn die Labour-Partei ins Straucheln gerät und der Premierminister unpopulär ist, die Stimmen zur anderen großen Partei zurückwandern – in diesem Fall zu den Konservativen, den Tories, die mit Kemi Badenoch eine junge, einigermaßen charismatische, durchaus interessante Vorsitzende haben. Sie wurde in Großbritannien geboren, wuchs größtenteils in Nigeria auf und kam mit 16 zurück. Sie ist in vielen kulturellen Fragen offen konservativ – steht dabei aber auch für ein moderneres Großbritannien, allein schon durch ihre Herkunft und ihr Auftreten.
Doch genau das passiert gerade nicht. Stattdessen sehen wir in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen drei Parteien: Labour, den Konservativen unter Kemi Badenoch – und der Reform Partei unter der Führung von Nigel Farage. Erzähl uns ein bisschen über Nigel Farage, über die Reform Partei, und warum er in diesem Moment so stark zu profitieren scheint.
Tryl: Nigel Farage ist kein neues Gesicht in der britischen Politik. Man kann sogar argumentieren, dass er vielleicht die einflussreichste Figur der vergangenen 25 Jahre ist. Früher war er Vorsitzender einer Partei namens UK Independence Party – UKIP.
Mounk: Ihr Ziel war es, Großbritannien von der Europäischen Union zu „befreien“ – was sie, ob man das nun gut findet oder nicht, auch geschafft haben.
Tryl: Ihr Aufstieg hat David Cameron damals so unter Druck gesetzt, dass er das Referendum einberufen hat, um die konservative Koalition zusammenzuhalten. 2016 haben sie dann – wider Erwarten – das Referendum gewonnen und damit den Austritt Großbritanniens aus der EU durchgesetzt. 2019 kam Farage mit der Brexit Partei zurück auf die politische Bühne, die gegründet wurde, um gegen Theresa Mays „Soft-Brexit“-Deal zu kämpfen – er fand, der Deal halte zu viele Verbindungen zur EU aufrecht. Das führte schließlich zum Sturz von Theresa May, Boris Johnson kam an die Macht, und Farage erklärte sich bereit, in einigen Wahlkreisen keine Brexit-Partei-Kandidaten aufzustellen. Während der letzten Legislaturperiode wuchs dann vor allem auf der rechten Seite der Unmut darüber, dass die Tories nicht lieferten, wofür sie gewählt worden waren – insbesondere beim Thema Einwanderung. Ein großer Teil der Brexit-Kampagne drehte sich nicht wirklich um Europa, sondern um die Begrenzung der Zuwanderung. Unter Boris Johnson stieg die Nettozuwanderung auf fast eine Million pro Jahr. Netto, wohlgemerkt – also eine sehr hohe Zahl.
Nigel Farage ist jetzt Teil dieser neuen Partei namens Reform UK. Interessant ist: Bis zur sprichwörtlich letzten Minute – also etwa um diese Zeit vor einem Jahr – wollte Farage sich nicht festlegen, ob er überhaupt für Reform UK kandidieren würde. Dann, als er die Schwäche der Konservativen spürt, entscheidet er sich während des Wahlkampfs dazu, einzusteigen, übernimmt den Vorsitz – und die Partei gewinnt fünf Sitze im Parlament. Das ist nicht viel, bei insgesamt 650 Sitzen, aber sie erreichen 15 % der Stimmen. Das ist ein sehr beachtlicher Stimmenanteil für eine dritte Partei – und fast ausschließlich auf Kosten der Konservativen. Der Grund, warum die Konservativen ihr historisch schlechtestes Ergebnis eingefahren haben, ist Reform UK, die ihnen die Stimmen wegnimmt. Sie verlieren also Stimmen nach rechts an Farage, und gleichzeitig nach links an Labour und die Liberal Democrats.
Was ist seit der Wahl passiert? Genau das ist eigentlich das Spannendste. Normalerweise würde man erwarten, dass eine neue Regierung eine Art Honeymoon-Phase bekommt – dass sich die konservative Opposition erstmal zurückzieht, ihre Wunden leckt, sich neu sortiert, überlegt, wer sie ist und welche Wählerschichten sie künftig ansprechen will. So läuft das normalerweise. Stattdessen ist der politische Zyklus völlig überdreht. Wie wir schon besprochen haben, ist Labour sehr schnell unpopulär geworden. Das hat den Konservativen aber gar nicht die Chance gegeben, sich zu erholen. Der große Gewinner war Reform UK – als neue Partei, unbefleckt von Regierungsverantwortung. In unseren Umfragen sind sie von 15 % bei der Parlamentswahl auf etwa 28–29 % gestiegen und liegen inzwischen tatsächlich in Führung – nicht nur bei uns, auch bei anderen Instituten. Bei den Kommunalwahlen letzten Monat hatten sie riesigen Erfolg. Sie haben einige Gemeinderäte komplett übernommen – das ist die Verwaltungsebene unterhalb von Westminster. Sie haben dort die Mehrheit geholt. Auch bei Bürgermeisterwahlen haben sie klar gewonnen. Ein wirklich bemerkenswertes Ergebnis.
Mounk: Vielleicht sollte man hier erwähnen, dass es im Vereinigten Königreich keine wirkliche Entsprechung zu Bundesstaaten und Gouverneuren gibt – außer vielleicht in Schottland und Wales. Wenn man hört, dass eine Partei einen Gemeinderat übernimmt, klingt das für Amerikaner vielleicht so, als würde es nur um ein paar Stadträte gehen. Aber Gemeinderäte sind tatsächlich sehr einflussreiche politische Organe. Gemeinderatsvorsitzende haben ungefähr so viel Macht wie eine Mischung aus Bürgermeister und Gouverneur eines Gebiets.
Tryl: Genau so ist es. In manchen dieser Räte hat Reform UK 50 Sitze aus dem Nichts gewonnen und damit fast alle Sitze übernommen. Das war ein in der britischen Politik beispielloses Ergebnis – und das erste Mal in der Geschichte Großbritanniens, dass weder die Konservativen noch Labour bei einer nationalen Wahl die meisten Stimmen bekommen haben. Das gab es bisher nur bei Europawahlen – UKIP oder die Brexit Partei hatten da schon mal gute Ergebnisse –, aber bei einer nationalen Wahl ist das neu. Es ist also ein politisches Erdbeben. Einige von uns haben sich gefragt: Wie real ist diese Reform-Welle eigentlich? Wählen die Leute die wirklich? Und ja – offenbar tun sie es. Zumindest im Moment.
Wie kann man Reform UK beschreiben? Ich würde sagen, sie sind im Grunde eine rechtspopulistische Partei. Aber man sollte sie nicht mit radikal-rechten Parteien in Europa verwechseln. Sie sind nicht das britische Pendant zur AfD. Nigel Farage hält sich grundsätzlich an demokratische Normen. Wenn man sich die Anhängerschaft von Reform anschaut: Etwa ein Fünftel sagt, sie schämen sich dafür, dass Großbritannien eine multiethnische Demokratie ist – aber vier Fünftel sagen das eben nicht. Die Mehrheit ist gemäßigter. Sie sind stark kulturell-konservativ, und das zentrale Thema für Reform-Wähler ist die Einwanderung. Wenn man fragt: Warum wählt ihr Reform UK?, sagen rund sieben von zehn: Wegen der Migration. Das ist viel mehr als bei allen anderen Themen. An zweiter Stelle kommt: Ich bin einfach enttäuscht von den beiden großen Parteien. Danach kommt lange nichts. Die Partei wird also fast ausschließlich über das Thema Einwanderung mobilisiert. Bei der letzten Wahl kam ein Großteil ihrer Stimmen von früheren Tory-Wählern, die 2019 für Boris Johnson gestimmt hatten.
Interessant ist, dass sich das Profil der Reform-Wählerschaft gerade verändert. Der Sprung von 15 % auf 28–30 % bedeutet: Die neuen Wähler kommen nicht nur von den Konservativen, sondern auch von Labour. Etwa 12 % der Labour-Wähler von der letzten Wahl sind jetzt bei Reform. Diese neuen Wähler sind in vielen Fragen moderater und vor allem von allgemeiner Politikverdrossenheit getrieben. In Fokusgruppen höre ich oft: Ich weiß nicht genau, was ich von Reform halten soll, aber die Tories hatten 14 Jahre Zeit und haben alles vermasselt. Labour überzeugt mich auch nicht – also werfe ich einfach mal die Würfel. Diese „Würfelwurf-Mentalität“ höre ich wirklich häufig. Reform zieht inzwischen auch viel mehr Frauen an. Die Gruppe, die seit der Wahl am deutlichsten zu Reform gewechselt ist, sind Gen-X-Frauen – also Frauen etwa im Rentenalter –, die auch am häufigsten sagen: Großbritannien ist auf dem falschen Weg. Reform baut also gerade eine deutlich breitere Wählerbasis auf – getragen von dem Gefühl, dass der Status quo nicht funktioniert. Sie gewinnen viele jener Wähler zurück, die Boris Johnson 2019 erstmals für die Tories mobilisiert hatte – Wähler aus dem Norden Englands, aus ehemaligen Industriestädten, die sich vom System vergessen fühlen.
Man muss auch sagen: Nigel Farage ist persönlich ein enormer Magnet für diese Wähler. Er gilt als authentischer, als jemand, der „die Dinge beim Namen nennt“ – und genau das zieht viele an. Reform UK hat die Konservativen in den meisten Umfragen inzwischen deutlich auf den dritten Platz verdrängt. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass die Tories den gleichen Weg gehen wie die Republikaner in Frankreich oder andere mitte-rechts Parteien – dass sie einfach in die Bedeutungslosigkeit verschwinden. Im Moment liegt Reform vor Labour.
Mounk: Wie wahrscheinlich ist es deiner Meinung nach wirklich, dass bei den nächsten Parlamentswahlen – die in Großbritannien ja immer ein Stück weit davon abhängen, wann der Premierminister sie ansetzt, wobei es derzeit eher unwahrscheinlich ist, dass Starmer bald wählen lässt, angesichts seiner schlechten Umfragewerte – Reform UK die Konservativen überholt und womöglich sogar eine neue Regierung bildet? Das letzte Mal, dass eine der beiden dominierenden Parteien von einem Newcomer verdrängt wurde, war ja der Moment, als das Duopol aus Konservativen – die schon sehr lange eine zentrale Rolle in der britischen Politik spielen – und der Liberalen Partei durch den Aufstieg von Labour im frühen 20. Jahrhundert aufgebrochen wurde. Diese Umwälzung inspirierte den Titel eines bekannten Buchs: The Strange Death of Liberal England. Das sind Jahrhundertmomente. Es gab in der Vergangenheit immer wieder politische Phasen, in denen sich so ein Umbruch andeutete – aber meist kam es dann doch nicht dazu. So wie bei Drittparteien-Versuchen in den USA. Daher, ganz konkret gefragt: Wie hoch würdest du die Wahrscheinlichkeit einschätzen, dass Reform bei der nächsten Wahl entweder stärkste oder zweitstärkste Partei im Parlament wird?
Tryl: Ich will mich nicht auf eine konkrete Prozentzahl festlegen. Aber was ich sagen würde, ist: Die Wählerschaft ist im Moment so volatil, dass ich nicht überrascht wäre, wenn wir 2029 – also zum spätestmöglichen Wahltermin – wieder sprechen würden und Nigel Farage Premierminister wäre. Wenn wir sprechen würden und er die Konservativen deutlich geschlagen hätte, würde mich das genauso wenig überraschen. Wenn Reform hingegen einfach wieder verschwinden würde – so wie die Social Democratic Party in den 1980ern – wäre ich ebenfalls nicht überrascht. Und nur zur Klarstellung: Ich meine nicht die SPD in Deutschland. Die britische Social Democratic Party lag in Umfragen mal bei 50 %, holte dann aber nur rund 30 Sitze bei der Wahl 1983. Ich halte wirklich alles für möglich.
Was ich aber mit Sicherheit sagen kann: Die Konservativen stecken in ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn man sich ihr Wählerprofil ansieht, gewinnen sie nur noch bei den Über-75-Jährigen. Sie haben keine klare inhaltliche Ausrichtung mehr. Wenn Nigel Farage nicht nur beweist, dass Reform UK bei Migration, Kriminalität und kulturellen Themen harte Positionen vertreten kann, sondern auch bei Kommunalwahlen gewinnen kann, dann fällt für viele konservative Wähler die letzte psychologische Hürde. Ein zentrales Hindernis war bislang das Gefühl: Eine Stimme für Reform ist eine verlorene Stimme. In einer Fokusgruppe hat mir jemand gesagt: Ich würde gerne Reform wählen, aber das ist wie mit Autos in diesem Land – wir haben Ford und Volkswagen. Warum sollte ich eine Drittmarke nehmen? Wir haben Labour und die Tories. Aber wenn Farage dieses Duopol tatsächlich aufbricht, dann ist das ein echtes Signal.
Gibt es noch Chancen für die Konservativen? Vielleicht. Aber ich glaube, ein häufiger Denkfehler ist, anzunehmen, dass Reform-Wähler einfach nur extremere Konservative seien. Das stimmt so nicht. Bei kulturellen Themen – Migration, Gender-Debatten, Strafrecht – liegen Konservative und Reform-Wähler ziemlich nah beieinander. Aber bei Wirtschaftsthemen sind Reform-Wähler deutlich weiter links. Sie befürworten viel stärker staatliche Eingriffe, Verstaatlichungen und Umverteilung.
Mounk: Man kann das vielleicht so zusammenfassen: Es gibt ein kulturell rechts orientiertes Milieu, das wirtschaftlich aber sehr unterschiedliche Vorstellungen hat. In den USA sieht man das ja bei der Republikanischen Partei: Viele Wähler der alten konservativen Oberschicht sind der Partei treu geblieben, statt zu den Demokraten zu wechseln. Also diese klassische Country Club-Republikaner-Figur. Im britischen Fall wäre das jemand aus den Home Counties oder einer wohlhabenden Gegend, mit freistehendem Eigenheim, Hochschulabschluss oder gutem Facharbeiterjob – eindeutig Mittelschicht, wahrscheinlich obere Mittelschicht. Wahrscheinlich „posh“, jemand, der seine Kinder auf Privatschulen schickt und so weiter.
Und dann gibt es diese neue rechte Wählerschaft, die im gesamten Westen aufsteigt: Arbeiterschicht, die früher SPD in Deutschland, Labour in Großbritannien, oder Demokraten in den USA gewählt hat. Früher klassisch proletarisch – heute so kulturell entfremdet vom linksliberalen Mainstream, dass sie nach rechts abgewandert ist. Aber sie wollen eben keine Steuererleichterungen für die Reichsten. Keine Politik, die vor allem Großkonzernen hilft. Sie wollen, dass sich für sie etwas verbessert. In den USA, wo beide Gruppen noch in der gleichen Partei stecken, läuft der Kompromiss oft so, dass Trump rhetorisch wirtschaftlich auf Arbeiter zielt, aber politisch doch meist die Bessergestellten bedient – wie etwa in seinem aktuellen Haushaltsentwurf. In Großbritannien haben sich diese beiden Gruppen dagegen auseinanderentwickelt. Deshalb rückt Reform bei Wirtschaftsthemen weiter nach links. Würdest du das so unterschreiben, Luke?
Tryl: Absolut. 2019 hat Boris Johnson es noch geschafft, diese beiden Gruppen zusammenzubringen: die traditionellen Konservativen und die wirtschaftlich eher links, aber gesellschaftlich konservativen Ex-Labour-Wähler. Wir nennen sie „Red Wall“-Wähler – benannt nach den Wahlkreisen im Norden Englands, die traditionell Labour gehörten. Diese Koalition ist inzwischen zerbrochen, und Reform fischt genau diese Stimmen – sozialkonservativ, aber wirtschaftlich eher links. Und Farage setzt genau darauf. Seine früheren Parteien waren deutlich libertärer: UKIP stand für Staatsabbau, Steuersenkungen, weniger Sozialausgaben. Reform ist das nicht. Erst letzte Woche hat Farage angekündigt, dass er das Kindergeld auch für das dritte und vierte Kind ausweiten will – etwas, das selbst Labour bislang nicht gemacht hat, obwohl der Druck wächst. Die Tories hingegen bleiben zurück mit einem Kern, der wirtschaftlich und kulturell rechts steht. Aber das eigentliche Problem – und darüber haben wir noch gar nicht gesprochen – ist: Sie verlieren nicht nur sozialkonservative Wähler an Reform, sondern auch ihre wirtschaftlich moderaten Wähler an die Liberal Democrats. Vor allem im Süden Englands – in Oxfordshire, Hampshire und den Home Counties. Bei der letzten Wahl haben die LibDems 72 Sitze gewonnen – ein historischer Erfolg. Sie haben genau die Konservativen abgegriffen, die früher Tory gewählt haben, weil sie sich niedrigere Steuern, Stabilität und kompetentes Regieren wünschten. Das Mini-Budget unter Liz Truss hat diesen Ruf zerstört. Und diese Wähler sind nun auch weg. Was übrig bleibt, ist ein relativ enger Kern. Man fragt sich wirklich – zumindest im Moment, wobei die Politik sehr volatil ist – wofür die Tories eigentlich noch stehen. Wenn man sozialliberal und wirtschaftlich rechts ist, wählt man LibDems. Wenn man Reform-Style Konservatismus will, kombiniert mit staatlicher Intervention, wählt man Reform.
Was ich oft sage: Wenn ich Fokusgruppen mit Reform-Wählern mache und es nicht um Migration geht, klingen viele von ihnen wie Corbyn-Anhänger. Wie sie über Großkonzerne, das manipulierte System und die Ungerechtigkeit des Kapitalismus sprechen – das erinnert sehr an linke Rhetorik. Reform besetzt dieses Feld sehr effektiv. Natürlich führt das auch zu Spannungen in der Partei selbst. So etwas sehen wir ja auch in den USA – etwa beim Streit zwischen Elon Musk und Donald Trump, ein Mikrokosmos der größeren Spannungen im rechten Lager. Bei uns gab es gerade ein kleineres Beispiel: Der Parteivorsitzende von Reform, Zia Yusuf – ein Unternehmer im Tech-Bro-Stil, der die Partei modernisiert hatte – ist gestern zurückgetreten. Er sagte, die Partei sei es nicht mehr wert, dass er seine Zeit und sein Geld investiere. Auslöser war offenbar ein Streit darüber, ob Reform UK ein Burka-Verbot fordern solle. Es ist also spannend zu sehen, wie sich diese inneren Konflikte bei Reform fast in Echtzeit abspielen – genau wie in den USA. (Anmerkung: Zia Yusuf nahm seine Entscheidung zwei Tage später zurück.)
Mounk: Du hast das Thema Einwanderung jetzt mehrfach angesprochen. Was genau bereitet der Öffentlichkeit denn Sorgen? Wenn du in Fokusgruppen mit Wählern sprichst – was sagt da der typische Durchschnittswähler? Natürlich gibt es Menschen, die jegliche Form von Einwanderung begrüßen und möglichst wenige Begrenzungen wollen. Und es gibt andere, die – wie du vorhin erwähnt hast – Großbritannien als multiethnische Gesellschaft grundsätzlich ablehnen. Aber das scheint mir nicht der Schwerpunkt der öffentlichen Meinung zu sein. Wie spricht also der durchschnittliche, unentschlossene Wähler – jemand, der vielleicht noch nie Reform gewählt hat, jetzt aber darüber nachdenkt – über Einwanderung? Was glaubt er, hat sich verändert? Und was macht ihm konkret Sorgen?
Tryl: Ich denke, man kann ziemlich klar sagen: Der Durchschnittswähler – und das gilt tatsächlich auch für viele Wähler von Labour, den Liberal Democrats und anderen Parteien links der Mitte – ist der Meinung, dass das Einwanderungsniveau im Vereinigten Königreich derzeit zu hoch ist. Wie gesagt: Unter Boris Johnson lag die Nettozuwanderung bei fast einer Million, inzwischen ist sie auf etwa eine halbe Million gesunken. Aber auch das empfinden viele noch als zu viel. Was die Leute häufig ansprechen, ist eine Mischung aus Druck auf öffentliche Dienstleistungen – insbesondere bei Hausarztterminen und beim Wohnen – und einer mangelnden Integrationspolitik. Großbritannien hat lange keine echte Integrationsstrategie gehabt – bis hin zu so grundlegenden Dingen wie verpflichtendem Englischunterricht. Das ist ein Teil der Sorge.
Interessanterweise geht es den meisten aber weniger um legale Migration. Wenn über Einwanderung gesprochen wird, geht es oft um die Überquerung des Ärmelkanals – also um illegale Migration: Menschen, die in kleinen Booten aus Frankreich kommen und Asyl beantragen. Wenn man fragt, worauf die Regierung sich stärker konzentrieren soll – legale oder illegale Migration –, sagen 74 %: illegale Migration. Dafür gibt es viele Gründe. Einer davon ist das Gefühl, dass Großbritannien seine Grenzen nicht unter Kontrolle hat – ein Thema, das ja auch in den USA stark diskutiert wird. Der Ärmelkanal spielt dabei eine symbolisch wichtige Rolle. Es ist das, was wir im Zweiten Weltkrieg verteidigt haben – für viele ist das die natürliche Grenze des Landes. Dazu kommt ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. In Großbritannien stehen wir gerne in der Schlange – und das wird als Vordrängeln empfunden. Es geht nicht darum, Asyl grundsätzlich abzulehnen. Wenn es um Ukrainer, Menschen aus Hongkong oder afghanische Ortskräfte geht, ist die Unterstützung sehr hoch. Aber die Art, wie Menschen kommen, wirkt auf viele falsch.
Verschärft wurde das Ganze durch eine aus meiner Sicht katastrophale Entscheidung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: nämlich Asylbewerber in Hotels unterzubringen, solange ihre Verfahren laufen. Oft waren das altehrwürdige Hotels in ärmeren Regionen – weil es dort günstiger war. Und in den Fokusgruppen höre ich dann Sätze wie: „Da war ich jedes Jahr auf einer Hochzeit – jetzt kann ich da nicht mehr hin.“ Meist sind es junge Männer in Innenstädten – das hat viel Unmut ausgelöst.
Die Regierung hat inzwischen versprochen, diese Praxis zu beenden. Aber ich glaube, genau deshalb ist das Thema so brisant geworden. Tatsächlich war in dieser Woche in unserem Themenmonitor zum ersten Mal Einwanderung bzw. Kanalüberquerung das Thema Nummer eins. Es ist also definitiv ein zentrales Anliegen. Aber wie du gesagt hast: Die meisten Menschen in Großbritannien sagen nicht „Zieht die Zugbrücke hoch“. Nur sehr wenige wollen eine Mauer im Ärmelkanal. Es geht vielmehr darum, dass die Zahlen zu hoch sind, dass wir uns auf qualifizierte Migration konzentrieren sollten, und dass unsere Asyl- und Flüchtlingspolitik tatsächlich denen helfen muss, die wirklich Schutz brauchen. Wer kommt, soll sich integrieren, sich an Gesetze halten – und wer das nicht tut, soll nicht bleiben dürfen. Ich glaube, das ist ziemlich genau die Position der breiten Mitte in Medien und Öffentlichkeit.
Mounk: Wie sähe denn deiner Einschätzung nach die Einwanderungspolitik von Reform aus, wenn sie an die Macht kämen? Einerseits gehört zur Wählerschaft der Partei ja ein Teil, der mit einem multiethnischen Großbritannien nicht klarkommt. Nigel Farage hat sich zwar klar davon abgegrenzt – etwa, indem er Leute aus der Partei ausgeschlossen hat, die solche Positionen öffentlich vertreten haben. Wie du erwähnt hast: Zia Yusuf, der bis vor Kurzem noch Parteivorsitzender war, ist selbst syrischer Herkunft, ich glaube muslimisch. Es gibt also offenkundig auch nicht-weiße und nicht-christliche Politiker in der Reform-Partei. Was ist also Farages Versprechen zur Einwanderung? Könnte er es halten? Und was würde er konkret tun, wenn er eine Mehrheit bekäme?
Tryl: Du hast genau den Balanceakt beschrieben, vor dem Reform steht. Viele ihrer ideologischeren Unterstützer – besonders online – würden sich eine Massenabschiebungspolitik wünschen, wie sie von einigen Ex-Mitgliedern propagiert wurde, von denen sich Farage inzwischen distanziert hat. Er selbst setzt stärker auf zwei Punkte: Zum einen die Abschaffung der Hotelunterbringung. Und zum anderen das Konzept der Netto-Null-Migration – also dass nur so viele Menschen ins Land kommen dürfen, wie es auch verlassen. Das ist die zentrale Erzählung. Außerdem fordert Reform, dass Großbritannien aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte austritt. Großbritannien ist zwar aus der EU ausgetreten, aber weiterhin Mitglied des Gerichtshofs, der die Europäische Menschenrechtskonvention überwacht. Diese Institution wurde mehrfach dafür verantwortlich gemacht, dass Großbritannien bestimmte Personen nicht abschieben konnte – etwa Kriminelle oder Menschen ohne Aufenthaltsrecht. Das ist aktuell Teil des Reform-Programms.
Interessanterweise scheinen die Konservativen sich in dieselbe Richtung zu bewegen. Es ist also ein sehr harter Kurs – härter als alles, was Großbritannien in den letzten Jahren migrationspolitisch erlebt hat. Gleichzeitig ist es nicht das, was sich Reforms radikalere Unterstützer wünschen würden. Farages Herausforderung, wenn er als Premierminister ernst genommen werden will, besteht darin, diesen Glaubwürdigkeitstest zu bestehen. Er muss zeigen: Ich stehe zu meinen Prinzipien – anders als andere Politiker –, aber ich werde nichts tun, was die Wirtschaft ruiniert oder das Land gefährdet. Wenn man die Leute zu konkreten Einwanderungsformen befragt, sagen sie oft: Wir wollen nicht weniger Pflegekräfte. Wir wollen nicht weniger Studierende. Wir wollen nicht weniger qualifizierte Arbeitskräfte. Und genau das ist der Balanceakt, den Farage meistern muss. Wenn wir die Wählergruppe befragen, die du eben angesprochen hast – also Menschen, die Reform nicht wählen, aber darüber nachdenken –, kommen immer wieder drei zentrale Bedenken:
Erstens: die Glaubwürdigkeit. Zweitens: Farages Verhältnis zu Donald Trump – der in Großbritannien sehr unbeliebt ist. Und drittens: Vorwürfe – teils auch belegte Fälle – von Rassismus unter Reform-Kandidaten und Parteimitgliedern. Farage muss klar machen, dass Reform eine seriöse Partei ist. Einige Schritte hat er bereits unternommen. So hat er etwa Tommy Robinson – einen englischen Nationalisten mit mehreren Vorstrafen – ausdrücklich ausgeschlossen. Robinson ist bei Reform nicht willkommen. Das führte zu einem öffentlichen Streit mit Elon Musk, der Robinsons Anliegen teilweise unterstützt. Farage zieht hier also klare Grenzen.
Mounk: Ich glaube, Elon Musk hat zwischenzeitlich sogar gefordert, dass Tommy Robinson Vorsitzender der Reform-Partei werden soll – oder so etwas in der Art.
Tryl: Hat er tatsächlich. Aber man kann mit Fug und Recht sagen: Nigel Farage ist im Vereinigten Königreich deutlich beliebter als Elon Musk. Und genau das ist die Linie, auf der Farage versucht, sich zu bewegen. Es gibt aber auch andere Themen – etwa die Ukraine oder die Wirtschaftspolitik –, bei denen Reform eher gegen den Strom der öffentlichen Meinung steht. Da sieht man gerade, wie Farage versucht, ein paar dieser Altlasten vom Reform-Image abzukratzen.
Mounk: Ich würde nicht sagen, dass ich ein Hass-Liebe-Verhältnis zu Großbritannien habe – vielleicht eher ein Liebe-Hass-Verhältnis. Es ist ein Land, das mich in vielerlei Hinsicht geprägt hat. Ich habe in England studiert. Als ich zum ersten Mal hierherkam, hatte ich das Gefühl: Das ist das dynamischste Land Europas – das Land, das eine Brücke zur Welt außerhalb Europas ist. London war damals die einzige echte Weltstadt Europas. England war ein kulturelles Zentrum von globalem Rang. Es hatte nach wie vor erheblichen politischen Einfluss – in Europa vielleicht nur vergleichbar mit Frankreich: ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, ein Land mit einer bedeutenden Armee. Es war damals völlig klar: Wenn man jung und ambitioniert war und irgendwo in Europa leben wollte, dann war England die richtige Adresse.
Heute fühlt sich das nicht mehr so an – und ich sage das, während ich 2025 gerade aus England aufzeichne. Vielleicht spielt die Brexit-Debatte und die Entscheidung, die EU zu verlassen, eine gewisse Rolle. Aber ich glaube, das ist nur ein kleiner Teil davon. Großbritanniens BIP pro Kopf könnte am Ende des Jahrzehnts sogar von Polen überholt werden. Ich weiß nicht, ob das wirklich so kommt, aber manche Ökonomen halten es für möglich. Das BIP pro Kopf ist jedenfalls jetzt schon niedriger als in jedem einzelnen US-Bundesstaat – selbst in West Virginia. Und man hat das Gefühl, dass die Teile Großbritanniens, die noch eine gewisse Rolle spielen – etwa in der KI-Forschung, als globaler Bankenstandort, in der Film- und Fernsehproduktion – nur noch ein sehr kleiner Ausschnitt dessen sind, was das Land heute ausmacht. Was besonders auffällt, sind die riesigen Landstriche, die erschreckend arm sind: mit maroden Wohnverhältnissen, heruntergekommenen Innenstädten und Vororten – oft deutlich deprimierender als eine durchschnittliche Kleinstadt in Deutschland oder sogar in Italien oder vielleicht inzwischen sogar in Polen oder Tschechien. Ich frage mich wirklich: Warum fühlt sich Großbritannien momentan so festgefahren an? Was ist dein Erklärungsversuch dafür, warum sich dieses Land heute so anders anfühlt als vor einem Vierteljahrhundert?
Tryl: Du hast es, finde ich, wieder genau auf den Punkt gebracht. Ich sage oft – halb im Galgenhumor –, dass man meine Standard-Präsentation zur öffentlichen Meinung im Moment untertiteln könnte mit: Warum ist Großbritannien so unglücklich? Es gibt dieses wirklich tiefe Gefühl – und ich übertreibe da nicht, man hört das im ganzen Land, in ärmeren Gegenden genauso wie in wohlhabenderen –, dass etwas ganz grundsätzlich nicht stimmt. Dass wir, ungefähr seit 2008, den Kompass verloren haben – und bis heute nicht wiedergefunden. Das sieht man in den ökonomischen Zahlen, beim stagnierenden Wachstum. Aber es ist auch ein kulturelles Gefühl. Die Menschen sagen heute viel häufiger, dass die besten Zeiten Großbritanniens vorbei seien. Dass sie sich immer weniger mit der Gesellschaft um sich herum verbunden fühlen. Dass der Gesellschaftsvertrag in Großbritannien nicht mehr funktioniert.
Bei einer Nachwahl, die Reform gewonnen hat, habe ich am nächsten Tag mit Wählern gesprochen, die von Labour zu Reform gewechselt sind. Eine Frau hat es perfekt zusammengefasst. Sie sagte: Ich bin jetzt Ende fünfzig. Ich dachte, ich gehe bald in Rente – stattdessen arbeite ich immer noch in Schichten. Am Ende des Monats bleibt mir nichts übrig für die schönen Dinge. Ich lebe nicht – ich überlebe. So was hört man im ganzen Land. Es gibt dieses Gefühl, dass der Optimismus weg ist. Wenn ich in einer Umfrage frage: Beschreiben Sie Großbritannien mit einem Wort – dann ist das häufigste, mit Abstand, „kaputt“. Und das betrifft alles: den Kampf um einen Arzttermin, den unzuverlässigen öffentlichen Nahverkehr, die steigende Kriminalität – vor allem in Städten. Die Leute gehen in Supermärkte, und alles ist in Plastikboxen oder Gittern eingeschlossen. Das ist ein Spiegel dessen, wo wir stehen.
Und dann, wie du gesagt hast, gibt es noch das sogenannte „goldene Dreieck“ – Oxford, Cambridge, London – wo es in mancher Hinsicht gut läuft. Aber außerhalb davon? Große Probleme. Völlig verödete Einkaufsstraßen. Ein Gefühl von Identitätsverlust. Wenn man mit Menschen spricht, hat man nicht das Gefühl, dass sie glauben, diese Vernachlässigung sei ein Zufall. Es wirkt wie eine politische Entscheidung. Vielleicht – trotz aller Erfolge, über die wir vorhin bei der Blair-Regierung gesprochen haben – war ein großer Fehler zu glauben, man könne Großbritannien durch den Finanzsektor in London antreiben, und der Rest des Landes könne einfach von diesen Einnahmen miternährt werden. Dieses ökonomische Modell hat für viele Menschen offensichtlich nicht funktioniert. Es gab Stimmen – Boris Johnson zum Beispiel oder Angela Rayner, die heutige Vizepremierministerin –, die gefordert haben, die Wirtschaft neu auszubalancieren. Ja, wir müssen unsere Wettbewerbsvorteile stärken – das Elite-Hochschulsystem, die City of London –, aber wir müssen mehr tun. Die Regionen außerhalb Londons brauchen Investitionen.
Mounk: Als ich zum ersten Mal in Frankreich lebte, hatte ich stark das Gefühl, dass der Mythos oder das goldene Selbstbild des Landes – als la grande nation, als unglaublich einflussreiches Land mit einem erfolgreichen Gesellschaftsmodell, das auch weltweit Macht projizieren konnte – das Land in seiner Entwicklung zurückhielt. Das war einer der Gründe, warum viele sich weigerten, Englisch zu lernen – weil sie fanden, dass Ausländer doch gefälligst Französisch sprechen sollten, das sei schließlich die wahre Sprache der Diplomatie. Es war ein Teil dessen, was Investitionen in eine unternehmerische Kultur und Startups gebremst hat. Und es war einer der Gründe, warum es so schwer war, ein ziemlich verkrustetes Bildungssystem zu reformieren.
Bemerkenswert finde ich, dass sich vieles davon inzwischen verändert hat. Ich glaube, Frankreich hat sich ein Stück weit mit seiner Rolle als mittelgroßes Land abgefunden – ein Land, das immer noch echten Einfluss hat, über eine starke Armee verfügt, aber eben nicht mehr in der gleichen Liga spielt wie die USA oder China, oder auch Indien, wenn es um globale Machtfragen geht. Und ich glaube, dadurch hat sich vieles verbessert.
Ich frage mich, ob Großbritannien nicht auf eine seltsame Weise gerade in einem Moment der Nostalgie gefangen ist. Es ist nicht ganz dasselbe wie Frankreichs Nostalgie – kein echtes Verlangen nach dem Empire, keine Illusion, man könne anderen Ländern noch sagen, was sie zu tun haben. Ich glaube, das ist weitgehend vorbei. Aber es fehlt die Fähigkeit, die Grundelemente des sozialen und politischen Modells neu zu denken. Das Thema Wohnen ist für mich ein besonders auffälliges Beispiel. Selbst in London – wenn man dorthin geht, wo die meisten Menschen wirklich leben, in Zone 3, 4, 5, 6 der U-Bahnkarte – dann sieht man, zumindest meiner Erfahrung nach, endlose Reihen trister Reihen- oder Doppelhaushälften. Natürlich ist das ein Stück weit Geschmackssache. Oft sehr alt gebaut. Kaum ästhetischer Reiz. Sehr uniform – kaum Individualität. Sie sehen alle gleich aus – und gleich wie ähnliche Häuser in völlig anderen Stadtteilen. Was mich auch immer wieder überrascht: Ich friere in diesem Land ständig. In jedem Gebäude zieht es, alles ist klamm. Man trifft sich mit einigen der einflussreichsten Menschen des Landes – und wenn gerade Winter ist, steht mitten im Büro ein Heizstrahler. Sowas habe ich in den USA noch nie erlebt.
Das beeinflusst natürlich die Lebensqualität. Aber es schränkt auch Chancen ein. Chancen in Großbritannien sind extrem konzentriert. Einige der ärmsten Regionen hier zählen zu den ärmsten in ganz Westeuropa. London – und ein paar wenige andere Städte – sind sehr wohlhabend. Aber um dort zu leben, muss man Summen für Miete oder Immobilien zahlen, die es so in weiten Teilen Kontinentaleuropas einfach nicht gibt. Deshalb frage ich mich, ob es für Großbritannien überhaupt einen Weg aus diesem Entwicklungsmodell gibt – oder aus den politischen und geostrategischen Nachwirkungen seiner Vergangenheit, die offenbar bis heute stark das Denken prägen.
Tryl: Ich stimme dir völlig zu – und beim Thema Wohnen ist das wirklich besonders deutlich. Es wird immer schwerer, überhaupt auf die Wohnungsleiter zu kommen, also Eigentum zu erwerben. Und wir haben im Gegensatz zu vielen Ländern in Kontinentaleuropa keine etablierte Mietkultur. Großbritannien verstand sich immer als „Besitzerdemokratie“.
Ich würde noch einen Punkt hinzufügen: Wie du gesagt hast, geht es nicht darum, dass die Menschen heute noch imperiale Ambitionen hätten. Aber – und das sage ich als jemand, der keine Entscheidungen trifft, sondern nur auf die öffentliche Meinung schaut – ich glaube, es fehlt an der Bereitschaft, der Bevölkerung die schwierigen Entscheidungen offen zuzumuten, die mit diesen Fragen verbunden sind. Wohnen ist da ein Beispiel. Wenn wir mehr Wohnraum wollen, müssen wir über das Bauen im „Green Belt“ reden – also in geschützten Grünzonen. Wenn wir mehr Wohnraum wollen, müssen wir die Verdichtung in genau den Vororten und Randlagen anstoßen, von denen du gesprochen hast. Aber niemand will diese Debatte wirklich führen.
Ein anderes Feld, in dem Großbritannien anderen Ländern sogar voraus ist, ist der Übergang zu sauberer Energie – also die Dekarbonisierung. Das bietet reale Chancen im Bereich grüner Arbeitsplätze. Die Bevölkerung unterstützt das Ziel der Klimaneutralität insgesamt stark – viel weniger polarisiert als in anderen Ländern. Aber auch hier: Die Politiker trauen sich nicht, das als positive Zukunftserzählung zu präsentieren. Stattdessen behandeln sie es wie eine lästige Pflicht – etwas, das man halt irgendwie machen muss.
Was sich durchzieht, ist eine Haltung, die ich gerne cakeism nenne: Die Idee, man könne seinen Kuchen behalten und ihn trotzdem essen. Also dass man alles haben kann, ohne schwierige Entscheidungen treffen zu müssen. Und damit sind wir wieder beim Thema Labour-Regierung: Sie machen erste Schritte – bei der Reform der Bauplanung, bei grüner Energie –, aber wenn es dann konkret wird? Wenn Widerstand vor Ort aufkommt – zum Beispiel weil man Strommasten durch Landschaften ziehen müsste –, ziehen sie es dann durch? Führen sie den Konflikt? Oder übernimmt Reform dann die Rolle der Partei, die wirklich bereit ist, unbequeme Entscheidungen zu treffen?
Ich glaube wirklich, wir stehen an einem Scheidepunkt – denn der bisherige Kurs ist nicht tragfähig. Nach einer Fokusgruppenrunde sagte mir nicht nur eine, sondern gleich zwei Personen: „Vielleicht sollte einfach der König das Ruder übernehmen.“ Sie meinten das halb im Scherz – aber es zeigt, wie tief das Vertrauen in die Demokratie als funktionierendes System gesunken ist. Wenn Regierungen nicht mehr liefern können, fangen die Menschen an, sich anderswo umzusehen.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.