Mark Lynas über Atomkriege
Mark Lynas ist Autor, Aktivist und Sprecher. Er arbeitet als wissenschaftlicher Berater beim Climate Vulnerable Forum und als Policy Lead bei WePlanet, einem pro-wissenschaftlichen Umweltnetzwerk, das in über 20 Ländern aktiv ist. Sein aktuelles Buch heißt Six Minutes to Winter: Nuclear War and How to Avoid It.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und Mark Lynas darüber, wie wahrscheinlich ein Atomkrieg ist, wie ein nuklearer Winter aussehen würde – und wie man ihn verhindern kann.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Du hast ja immer besonders heitere Themen für uns – vom Klimawandel bis zum Atomkrieg. Der Atomkrieg ist so eine dieser Sachen, vor denen man irgendwann als Kind lernt, Angst zu haben. Es ist ganz offensichtlich diese seltsame, bedrohliche Gefahr, die über der Menschheit schwebt. Und trotzdem spielt sie in Diskussionen meist nur eine Nebenrolle. Seit der Kubakrise stand sie nicht mehr wirklich im Mittelpunkt der Nachrichten. Wo würdest du das Risiko eines Atomkriegs im Vergleich zu anderen großen existenziellen Bedrohungen für die Menschheit einordnen?
Mark Lynas: Wow, da steckt eine Menge drin. Ich stimme dir zu – über Atomkrieg nachzudenken, oder sich davor zu fürchten, fühlt sich irgendwie retro an. Ich bin mit der Angst vor einem Atomkrieg aufgewachsen – wir waren eigentlich immer bereit, jeden Moment zu sterben –, bis dann die Berliner Mauer fiel und plötzlich war der Kalte Krieg vorbei. Auf einmal schien die Gefahr eines nuklearen Armageddon völlig verschwunden. Wir waren plötzlich mit Russland befreundet, und die Leute hörten auf, sich Sorgen zu machen. Ich glaube, viele waren sehr froh, dass sie dieses Risiko von der Liste existenzieller Sorgen streichen konnten.
Und dann kam natürlich der Klimawandel. Ich habe mit meinen Texten selbst ein Stück weit zu diesem Gefühl einer existenziellen Krise beigetragen. In meinem Buch Six Degrees habe ich den Klimawandel sehr klar als katastrophales Risiko beschrieben – nicht nur für die Menschheit, sondern für die gesamte Biosphäre des Planeten. Das wurde dann zur vorrangigen Sorge dieser Generation – besonders der jüngeren. Es gab Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung. Diese Generation ist mit dem Klimawandel als ihrem existenziellen Risiko aufgewachsen.
Natürlich gibt es noch andere Risiken. Es gibt ja sogar Bücher, die versuchen zu vergleichen, welches existenzielle Risiko größer ist – ob es nun KI ist, Pandemien, Asteroideneinschläge oder was auch immer. Wir können die ja gerne mal einordnen, wenn du willst. Ich hatte neulich einen Artikel im Wall Street Journal, zusammen mit Ted Nordhaus vom Breakthrough Institute, in dem wir – so sanft wie möglich – darauf hingewiesen haben, dass der Klimawandel ein anderes Kaliber von existenziellem Risiko ist als der Atomkrieg. Die Auswirkungen des Klimawandels zeigen sich über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg – da geht es um das Abschmelzen großer Eisschilde, um mehrere Meter Meeresspiegelanstieg und so weiter. Der Atomkrieg hingegen, das wissen wir alle, kann die Biosphäre im Grunde in einer halben Stunde zerstören. Es dauert nicht lange, bis Interkontinentalraketen in der Luft sind und die wichtigsten Städte der Nordhalbkugel vernichtet werden.
Mounk: Was ich daran interessant finde – und es ist ein grausames Thema, aber ich glaube, es ist wichtig, es intellektuell sauber zu betrachten – ist, dass die Verteilung möglicher Folgen hier intuitiv ziemlich unterschiedlich zu sein scheint. Der Klimawandel ist ein sehr ernstes Risiko für die Menschheit. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er zu einer enormen Zahl an Todesfällen führt, dass das Leben vieler Menschen massiv beeinträchtigt wird. All das sind sehr gute Gründe, um sich Sorgen zu machen und den Kampf dagegen zur Priorität zu machen. Aber es fällt mir schwer, mir ein Szenario vorzustellen, in dem der Klimawandel die Menschheit wirklich auslöscht – oder auch nur unsere technologische Zivilisation im Großen und Ganzen zerstört. Es ist leicht, sich vorzustellen, dass Hunderte Millionen Menschen sterben – was natürlich katastrophal ist –, aber schwerer, wie das zu einem Ende unserer jetzigen Zivilisationsstufe führt oder dazu, dass wir unser heutiges technisches Niveau nicht mehr aufrechterhalten können.
Beim Atomkrieg ist das Risiko vielleicht geringer im Sinne von: Die Wahrscheinlichkeit, dass der schlimmste Fall eintritt, ist geringer. Du magst das anders sehen. Aber ich finde es einfacher, sich eine Welt vorzustellen, in der wir das 21. Jahrhundert irgendwie ohne einen Atomkrieg überstehen – und in der es also einfach keine unmittelbaren negativen Folgen gibt, obwohl wir diese Waffen haben. Aber wenn es zum Ernstfall kommt, ist es viel einfacher, sich ein Szenario vorzustellen, in dem der Großteil der Menschheit stirbt und wir im Grunde wieder in der Steinzeit landen.
Vielleicht können wir da ein bisschen tiefer einsteigen. Wie würde es denn konkret aussehen, wenn es in naher Zukunft zu einem globalen Atomkrieg käme? Nehmen wir an, es kommt zu einer nuklearen Auseinandersetzung zwischen den USA und China, die irgendwie auch andere Atommächte mit hineinzieht – ein echtes Worst-Case-Szenario. Wäre das das Ende der Menschheit? Das Ende unserer technologischen Zivilisation? Was würde das für den Planeten und für uns Menschen bedeuten?
Lynas: Ich beschäftige mich schon lange mit Massenaussterben. Ich habe viel darüber in meinem Buch geschrieben – über die „Big Five“ der geologischen Massenaussterben, die seit dem Kambrium, also in den letzten 500 Millionen Jahren, stattgefunden haben. Der Klimawandel hat eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 100 %, weil er ja schon längst da ist. Ein Atomkrieg hingegen könnte auch nie passieren. Das ist also eine ganz andere Art von Risiko. Beim Klimawandel fehlen sozusagen die richtigen „Tötungsmechanismen“ – um mal in der Sprache der Massenaussterben zu bleiben. Man kann sich an langsam einsetzende Veränderungen viel besser anpassen, und genau solche Effekte sind beim Klimawandel ja am wahrscheinlichsten.
Beim Atomkrieg hingegen sind die Tötungsmechanismen ganz offensichtlich. Es geht nicht nur um die Explosionen, die Druckwellen und das Feuer. Es geht vor allem um den nuklearen Winter. Das ist eigentlich der zentrale Mechanismus – derjenige, der mit ziemlicher Sicherheit die Zivilisation zerstören, vielleicht sogar die Menschheit als Spezies auslöschen und ganz sicher den Großteil des Lebens in der Biosphäre vernichten könnte.
Mounk: Ich habe das Gefühl, „nuklearer Winter“ ist so ein Begriff, den wahrscheinlich jeder schon mal gehört hat – aber viele wissen gar nicht genau, was damit eigentlich gemeint ist. Weder wie genau er entsteht, noch was das konkret bedeutet. Also: Wenn zwei Supermächte eine größere Zahl von Atomwaffen einsetzen – warum führt das dann zu einem nuklearen Winter? Wie genau sieht der aus? Erzähl uns ein paar von den grausamen Details.
Lynas: Ein Krieg zwischen Indien und Pakistan mit ein paar hundert Atombomben würde noch keinen globalen nuklearen Winter auslösen. Es würde die Temperaturen etwas abkühlen – ähnlich wie nach einem großen Vulkanausbruch. Aber ein großflächiger Raketenangriff zwischen Supermächten würde sehr wohl einen nuklearen Winter auslösen – vorausgesetzt, man setzt die großen Städte der Nordhalbkugel in Brand. Und der Mechanismus ist mittlerweile sehr gut verstanden. Man sieht ihn bei Waldbränden oder in manchen Feuerstürmen in Städten. Hamburg zum Beispiel hat keinen nuklearen Winter ausgelöst, aber dort entstand ein sogenannter Pyrocumulonimbus – riesige Gewitterwolken, durch die Rußpartikel in die Stratosphäre geschleudert werden.
Die Stratosphäre liegt oberhalb der Troposphäre, also der Schicht, in der das Wettergeschehen stattfindet. Wenn genügend Ruß in die Stratosphäre gelangt, kann er dort nicht durch Regen entfernt werden. Und weil dieser Ruß schwarz ist, wird er von der Sonne erhitzt und steigt immer weiter nach oben. Im Effekt entsteht ein Schleier, der sich um die Erde legt und das Sonnenlicht daran hindert, mit voller Intensität auf die Erdoberfläche zu treffen.
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Im schlimmsten Szenario – beschrieben in einer Studie, die ich in meinem Buch zitiere und die 2022 in Nature Food veröffentlicht wurde – geht es um etwa 150 Teragramm Ruß. Das reicht aus, um die Erdoberfläche praktisch vollständig zu verdunkeln. Die Temperaturen würden weltweit unter den Gefrierpunkt sinken – und in den mittleren Breiten würden sie auch nicht mehr darüber steigen. In einem Ort wie Iowa bleibt es, glaube ich, rund 750 Tage lang durchgehend unter null Grad. Das bedeutet: keine Ernten mehr. Und selbst mit eingelagerten Nahrungsmitteln gäbe es keine realistische Chance, dass nennenswerte Teile der Menschheit überleben. Das würde zwangsläufig in eine nukleare Hungersnot führen.
Mounk: Führ uns mal durch die einzelnen Phasen. Nehmen wir an, China und die USA führen einen Atomkrieg, bei dem es zu einem umfassenden Austausch von Atomwaffen kommt. Wie viele Menschen würden durch die direkten Explosionen sterben? Und wie viele Menschen weltweit könnten den anschließenden nuklearen Winter überleben?
Lynas: Die Mehrheit der Menschen würde den eigentlichen Krieg überleben. Wenn man von einem Austausch von jeweils etwa 1.500 Atomwaffen ausgeht – also insgesamt 3.000 –, mit einer Sprengkraft von einer Megatonne pro Bombe, rein hypothetisch, dann würden vermutlich zwischen 300 Millionen und 750 Millionen Menschen direkt getötet. Das heißt: Der Großteil der Weltbevölkerung lebt danach noch.
Aber wenn man sich dann die Studie in Nature Food anschaut, muss man sich fragen: Wie viele Menschen könnten die folgende Nahrungsmittelkrise überleben? Es gibt in der Studie eine Tabelle mit den Bevölkerungszahlen pro Land. In den USA würden demnach 99 % der Menschen sterben. In manchen Ländern sogar 100 %. In fast allen Ländern der Welt würde die Mehrheit der Bevölkerung nicht überleben. Ich habe die Zahlen für eine Weltbevölkerung von acht Milliarden noch mal durchgerechnet – demnach würden laut dieser Modellrechnung knapp sieben Milliarden Menschen an der nuklearen Hungersnot sterben. Grundlage dafür ist die Schätzung, wie viel Nahrung übrig bleiben könnte, und eine Art „Rettungsboot-Ethik“ bei der Verteilung – also: Der Anteil der Menschen, der genug Kalorien bekommt, überlebt, alle anderen nicht.
Mounk: Könnte man sich darauf vorbereiten? Wenn die USA so enorme Summen für nationale Sicherheit ausgeben – wenn im Pentagon jemand das Risiko eines Atomkriegs und eines nuklearen Winters wirklich ernst nehmen würde – wäre es dann theoretisch möglich, genügend haltbare Lebensmittel einzulagern, um die amerikanische Bevölkerung durch so einen nuklearen Winter zu bringen? Wäre das nicht eine der Maßnahmen, die die Menschheit in dieser Größenordnung einfach umsetzen sollte? Wir können ja ohne Weiteres Nahrungsmittel produzieren, die nährstoffreich sind und eine Haltbarkeit von über zwei Jahren haben. Die Lagerung wäre im Prinzip gar kein Problem – es wäre ja so kalt, man könnte die Sachen einfach draußen lagern. Man könnte zum Beispiel zwei Jahre lang Dosen-Thunfisch essen, was auch immer.
Das Problem ist natürlich: Wir haben das bislang nicht getan. Aber rein theoretisch – wäre es möglich, sich so auf einen nuklearen Winter vorzubereiten und dadurch die Überlebenszahlen deutlich zu erhöhen?
Lynas: Das ist eine interessante Frage. Es ist ein bisschen wie Terraforming. Stell dir vor, du findest dich plötzlich auf einem unbewohnbaren Planeten wieder und musst acht Milliarden Menschen ernähren – oder, wenn du auf ein einzelnes Land schaust, vielleicht ein paar hundert Millionen. Wie macht man das über drei Jahre hinweg? Ich würde sagen, es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass man genügend Nahrungsmittel einlagern könnte. Aber man müsste in der Lage sein, Lebensmittel ohne Photosynthese zu erzeugen. Man müsste also andere Wege finden, um frische Nahrung synthetisch herzustellen, und gleichzeitig die Zutaten dafür lagern können. Das gilt übrigens für jede Form von Katastrophe, die das Sonnenlicht blockiert – ein Supervulkan oder ein riesiger Asteroid hätten denselben Effekt. Deshalb lohnt es sich durchaus, darüber nachzudenken: Was wären die Überlebensmechanismen, wenn man die Spezies erhalten will? Elon Musks Plan, zum Mars zu fliegen, ist da wahrscheinlich die unzuverlässigste Option. Die Erde wird unter jedem halbwegs realistischen Szenario immer noch besser sein als der Mars.
Mounk: Vermutlich geht’s weniger darum, wie man während des nuklearen Winters Nahrung anbaut – sondern eher darum, die Nahrungsmittel vorher zu produzieren und so zu lagern, dass es genug Vorräte gibt, um durch diese Zeit zu kommen.
Lynas: Man müsste nur verhindern, dass Leute, die nicht zum Überleben eingeplant wurden, sich Zugang dazu verschaffen oder sie mit Gewalt an sich reißen.
Mounk: Außer natürlich, man hat genug Lebensmittel – genug, dass jeder weiß, er kommt irgendwie durch. In deinem Buch beschreibst du sehr eindrücklich, wie es wegen der extremen Hungersnot zu marodierenden Banden und massiver Gewalt kommt, weil Menschen verzweifelt nach Essen suchen.
Aber wenn wir in den nächsten zehn Jahren einfach sagen würden: Wir steigern die US-Agrarproduktion um einen bestimmten Prozentsatz, um riesige Vorräte für drei Jahre anzulegen – dann verhindern wir nicht nur das Verhungern, sondern auch die Bedingungen, die überhaupt erst zu diesen Banden führen: diese verzweifelten Gruppen, die mit Gewalt und Waffen nach Nahrung suchen.
Lynas: Ja, man müsste also zwingend in der Lage sein, politische Zentralgewalt aufrechtzuerhalten und zu schützen. Du brauchst ein System, das die Nahrungsmittel verteilt. Wenn nichts mehr unabhängig auf Farmen produziert wird, braucht man irgendeine Form der zentralisierten Verteilung – und dieses System muss verteidigt werden können. Es muss so funktionieren, dass soziale Stabilität erhalten bleibt. Wie man das in einer eiskalten Welt ohne Tageslicht über Monate hinweg bewerkstelligt – das ist eine gewaltige Herausforderung.
Auch die Niederschlagsmengen kehren nicht auf das Vorkriegsniveau zurück. Es regnet oder schneit deutlich weniger, und das bleibt für mindestens ein Jahrzehnt so. Wir sprechen hier also von einem sehr, sehr langen Zeitraum. Ich glaube, im Moment ist es unvorstellbar, eine Menge an Nahrungsmitteln zu lagern, die ausreicht, um die heutige Weltbevölkerung zu versorgen.
Mounk: Gehen wir mal davon aus, dass dieser Plan, den ich gerade ausgedacht habe, nicht funktioniert. Es kommt also zu dieser riesigen Hungersnot. Vermutlich sterben während dieser Zeit auch viele Menschen an den Spätfolgen der Strahlung. Das Gesundheitssystem würde vermutlich zusammenbrechen. Wie würde das Krankheits- und Seuchengeschehen während eines nuklearen Winters aussehen?
Lynas: Direkt nach den Bombenabwürfen gibt es keine Triage mehr. Ich glaube nicht, dass irgendein denkbares Gesundheitssystem mit diesem Ausmaß an Tod und Zerstörung umgehen könnte. Jeder, der verletzt ist, wird sterben – vor allem, wenn er an akuter Strahlenkrankheit leidet. Die meisten wären innerhalb von ein bis zwei Monaten tot. Danach wird Strahlung zu einem eher nebensächlichen Problem. Es könnte über die nächsten Jahrzehnte einen leichten Anstieg bei Krebserkrankungen geben – ein paar Prozentpunkte vielleicht –, aber ehrlich gesagt: Das wäre dann dein geringstes Problem. Solange man die Menschen in den ersten Monaten in den härtesten Zonen in Schutzbunkern unterbringen und dort mit Vorräten am Leben halten kann, ist Strahlung kein zentrales Thema mehr.
Ich kann kaum glauben, dass ich gerade erkläre, wie man einen Atomkrieg überlebt – der ganze Punkt ist ja, dass es gar nicht erst so weit kommt –, aber du hast gefragt. Und ja, ich denke, das zentrale Thema ist wirklich die Versorgung mit Nahrung.
Mounk: Wenn wir keine deutlich weitergehenden Vorkehrungen treffen als das, was es heute gibt – wenn das Ganze morgen passieren würde – und, wie du sagst, bis zu eine Milliarde Menschen durch den Atomkrieg direkt sterben und danach bis zu 99 % der Menschheit – in manchen Regionen vielleicht sogar mehr – verhungern: Wo bleibt da die Menschheit? Wenn dieser Atomkrieg 2025 passiert – wie sieht die Welt dann 2035 aus? Und was ist mit 2055 oder 2075? Sind wir dann praktisch zurück in der Steinzeit? Oder überleben genug Menschen mit genügend Wissen, dass zumindest Teile der Technologie der letzten tausend Jahre erhalten bleiben – und sich die Menschheit irgendwann wieder aufrappelt?
Wäre das tatsächlich ein buchstäbliches Aussterbeereignis – also ein völliges Verschwinden der Menschheit? Oder ist es eher ein Szenario, in dem zwar die Mehrheit stirbt und es zu einer massiven Verwüstung kommt, aber diejenigen, die irgendwie die Hürde überwinden, mit der Zeit wieder etwas aufbauen, das unserer heutigen Zivilisation ähnelt?
Lynas: Ich glaube, es ist Letzteres. Niemand rechnet wirklich damit, dass ein Atomkrieg die Menschheit komplett auslöscht. Aber die Menschen, die überleben, würden in einer völlig zerstörten Biosphäre leben – ohne all das, was wir heute als Zivilisation kennen: kein Strom, kein Internet, kein Welthandel. Die meisten großen Länder wären ausgelöscht.
Ich beziehe mich immer wieder auf diese Nature Food-Studie, weil sie tatsächlich die Todeszahlen nach Ländern aufgeschlüsselt hat. Es gab einige Länder, die mit 0 % Toten aus dem Szenario hervorgingen – ich glaube, Argentinien und Australien gehörten dazu. Also Länder mit sehr großen Landflächen, die aktuell erhebliche landwirtschaftliche Überschüsse für den Export produzieren – was sie dann natürlich nicht mehr tun würden – und die gleichzeitig relativ kleine Bevölkerungen haben. Es ist also nicht so, dass in diesem Szenario alle sterben. Aber ich glaube, die postapokalyptische Gesellschaft, die sich daraus ergeben würde, ist kaum vorstellbar. Wir haben historisch kaum Vergleichswerte – nicht einmal aus Hungersnöten. In meinem Buch spreche ich über Kannibalismus, weil der bei Hungersnöten tatsächlich recht häufig vorkommt – sogar bei Schiffsunglücken oder Flugzeugabstürzen. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass Menschen einander essen würden – das könnte in Jahr zwei, drei oder vier sogar die Hauptnahrungsquelle sein.
Was beim Wiederaufbau passiert – keine Ahnung. Menschen haben sich nach Katastrophen ja durchaus erfolgreich wieder aufgerappelt. Wenn man an den Zweiten Weltkrieg denkt: Schau dir an, wie schnell sich Japan und Deutschland davon erholt haben. Ihre Städte waren praktisch nur noch Trümmerfelder. Ich denke also, die unwahrscheinlichste Möglichkeit ist das komplette Aussterben der Menschheit. Aber das wird natürlich wahrscheinlicher, je weniger Menschen übrig sind und je stärker die Biosphäre zerstört ist.
Mounk: Ich habe da mal eine persönliche Frage: Würdest du lieber überleben – oder lieber sterben?
Lynas: Wenn du The Road von Cormac McCarthy gelesen hast – das ist genau das Dilemma. Was bleibt eigentlich noch, wofür es sich zu leben lohnt? Da gibt es diese Vater-Sohn-Beziehung, eine Art Liebesgeschichte, und der Vater versucht ganz offensichtlich, nur wegen des Sohnes am Leben zu bleiben – aber was ist das eigentlich für eine Welt, in der der Sohn dann leben soll? Das hatte ich beim Schreiben meines Buches immer im Hinterkopf. Unsere Eltern sagten damals: „Ich will lieber unter der ersten Bombe sein.“ Nachdem ich dieses Buch geschrieben habe, verstehe ich das. Und ich glaube, sie hatten wahrscheinlich recht.
Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Der nächstliegende Vergleich ist vielleicht der Holocaust – der Überlebenskampf an einem Ort wie Auschwitz, wo jede Moral verschwunden ist. Das Beste, worauf du hoffen kannst, ist irgendeine entartete Existenz, in der du verzweifelt Essensreste vom Boden kratzt und gegen andere Menschen kämpfst – gegen Großmütter, gegen Kinder –, um irgendwas abzubekommen. Will ich in so einer Welt überleben? Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich nicht.
Mounk: Okay, jetzt haben wir das richtig Gruselige mal an den Anfang des Gesprächs gestellt – um die Leute aufzuklären und wirklich durchzudenken, wie das aussehen könnte.
Jetzt stellt sich natürlich die Frage: So weit wollen wir es ja gerade nicht kommen lassen. Also: Wie verhindern wir das Ganze? Lass uns mal ein paar Schritte zurückgehen. Erzähl uns von der Geschichte der Entwicklung von Atomwaffen – und warum es bisher überhaupt gelungen ist, eine nukleare Auseinandersetzung zu vermeiden. Es gibt ja diese berühmte Weltuntergangsuhr, die immer fünf Minuten vor Mitternacht steht. Seit Jahrzehnten steht sie auf fünf vor zwölf, und trotzdem ist der Weltuntergang noch nicht gekommen. Warum eigentlich? Warum ist es bislang nicht passiert?
Lynas: Die Atombombe wurde bekanntlich im Rahmen des Manhattan-Projekts entwickelt, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie jeder seit Oppenheimer oder aus dem Schulunterricht weiß, wurden zwei Atombomben eingesetzt – auf Hiroshima und Nagasaki, am 6. und 9. August 1945. Die Amerikaner hatten noch weitere Bomben geplant. Sie wollten sie auf Kyoto und andere japanische Städte abwerfen, die von den vorherigen Flächenbombardements verschont geblieben waren. Diese Kampagnen hatten bereits Hunderttausende Menschen getötet – darunter auch der berüchtigte Luftangriff auf Tokio am 9. März 1945. Der forderte übrigens mehr Tote als Hiroshima – es war der tödlichste einzelne Luftangriff überhaupt.
Mounk: Das lag daran, dass ein Großteil von Tokios Innenstadt aus Holzhäusern bestand. In gewisser Weise war das gar nicht so unähnlich zum Szenario eines nuklearen Winters – es waren nicht nur die Bomben selbst, die so viele Menschen getötet haben, sondern vor allem die riesigen Feuerstürme, die sie ausgelöst haben.
Lynas: Genau. Die Amerikaner hatten ihre Brandbomben gezielt so konzipiert, dass sie Feuerstürme auslösen – das war der ganze Zweck. Sie wurden auf bereits brennende Ziele abgeworfen. Es waren Napalm-Bomben, die maximalen Schaden an der japanischen Bauweise anrichten sollten. Es gab ein systematisches Programm: Stadt für Stadt, Nacht für Nacht, sollte ausgelöscht werden. Man glaubte, das würde den Krieg entscheiden – wobei man diskutieren kann, ob das tatsächlich zur Kapitulation Japans geführt hat oder nicht doch eher der gleichzeitige Einmarsch der Sowjets.
Die Geschichte der Atomwaffen nach 1945 ist unglaublich spannend. Die Sowjets kamen sehr schnell an die Bombe – vor allem durch Spionage im Manhattan-Projekt, allen voran durch Klaus Fuchs. Der war Brite und übermittelte geheime Informationen an die Sowjets. Und so begann in den 1950ern das Wettrüsten – mit dem Ziel, die nuklearen Kapazitäten so schnell wie möglich auszubauen.
Dann kam 1962 die Kubakrise – da wurde der Welt klar, wie nah sie tatsächlich an einem nuklearen Armageddon war. Am sogenannten „Schwarzen Samstag“, dem 27. Oktober, wurde ein sowjetisches U-Boot von den Amerikanern zum Auftauchen gezwungen. Die Amerikaner wussten nicht, dass es einen nuklear bewaffneten Torpedo an Bord hatte. Sie warfen Wasserbomben ab, das Boot wurde angegriffen, musste schließlich auftauchen. Der Kapitän wollte gerade abtauchen und den Torpedo auf die US-Flotte abfeuern – was den Atomkrieg über Kuba ausgelöst hätte. Doch ein Signaloffizier blieb beim Abtauchen auf dem Turm hängen – die Luken konnten nicht geschlossen werden, der Tauchvorgang wurde verzögert. In dieser Zeit bemerkte ein anderer Offizier an Bord – einer mit höherem Rang als der Kapitän –, dass die US-Schiffe Signale mit Entschuldigungen sendeten. Er verhinderte den Abschussbefehl. Es war so knapp. Sekunden – wirklich nur Sekunden. Zu dem Zeitpunkt waren sowohl Chruschtschow als auch Kennedy bereits verzweifelt darum bemüht, zu deeskalieren. Aber die Lage vor Ort hatte bereits eine gefährliche Eigendynamik entwickelt. Die Sowjets hatten ihre Raketen viel früher startklar gemacht, als die Amerikaner dachten. Wenn die USA tatsächlich eine Invasion gestartet hätten – wie viele Generäle es forderten –, hätte es fast sicher einen Atomkrieg gegeben. Es gab während dieser Krise mehrere solcher Momente.
Und seitdem gab es viele weitere Vorfälle – Bomben, die versehentlich aus Flugzeugen fielen, Explosionen wie bei der Titan-II-Rakete in Arkansas 1980, oder Fehlinformationen über angeblich eintreffende Angriffe. Das ist letztlich das Gefährlichste: nicht nur der gezielte Einsatz von Atomwaffen – sondern ein versehentlicher Atomkrieg.
Mounk: Wie groß ist aus deiner Sicht die Gefahr durch nukleare Proliferation? Die USA waren ja das erste Land mit der Atombombe. Die Sowjetunion zog schnell nach, und irgendwann – wenn ich mich richtig erinnere, in den 1960er-Jahren – hatte dann auch China die Bombe.
Lynas: Das Vereinigte Königreich hatte sie sogar noch früher – schon in den 1950ern.
Mounk: Ich glaube, es gibt heute durchaus Zweifel daran, ob das Vereinigte Königreich überhaupt noch in der Lage wäre, ohne amerikanische Hilfe eine Atombombe einzusetzen – was ziemlich bemerkenswert ist.
Lynas: Das stimmt. Und genau diese Frage stellt sich jetzt wieder in der Trump-Ära. Für Großbritannien ist das eine ernsthafte strategische Frage – für Frankreich hingegen nicht.
Mounk: Inzwischen haben auch Indien und Pakistan Atomwaffen. Israel hat das nie offiziell zugegeben, aber offenbar besitzen sie welche. Nordkorea verfügt über nukleare Kapazitäten. Der Iran versucht ebenfalls, eine Atombombe zu entwickeln – und scheint ziemlich nah dran zu sein. Wie sehr steigt das Risiko eines Atomkriegs durch diese zunehmende Verbreitung?
Lynas: Das ist eine wirklich interessante Frage, und ich gehe in meinem Buch sogar mathematisch darauf ein. Die veröffentlichte Schätzung liegt bei etwa 1 % pro Jahr für einen unbeabsichtigten Atomkrieg – das ist die geschätzte jährliche Wahrscheinlichkeit. Natürlich funktioniert Wahrscheinlichkeit technisch gesehen nicht kumulativ im einfachen Sinne. Es ist nicht so, dass man bei 1 % pro Jahr nach 100 Jahren automatisch bei 100 % landet. Aber wenn du einen Würfel oft genug wirfst, steigt die Chance, dass ein bestimmtes Ereignis eintritt – also ist es in dem Sinne doch kumulativ. Über einen Zeitraum von 100 Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit für einen unbeabsichtigten Atomkrieg wahrscheinlich bei rund zwei Dritteln. Und die Wahrscheinlichkeit für einen absichtlich ausgelösten Krieg liegt sogar noch höher. Das ist also ein ernstzunehmendes Risiko über längere Zeiträume hinweg. Die Chance liegt über 50 %, würde ich sagen. Und das ist das Beängstigende: An einem einzelnen Tag ist ein Atomkrieg sehr unwahrscheinlich. Auch in einem bestimmten Jahr ist er eher unwahrscheinlich. Aber über die Zeit akkumuliert sich das Risiko auf ein sehr gefährliches Niveau.
Mounk: Wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass sich ein Atomkrieg eindämmen ließe? Die USA haben ja in Hiroshima und Nagasaki zwei Atomwaffen eingesetzt – und seitdem nie wieder. Gibt es ein Szenario, in dem zum Beispiel ein Krieg zwischen Indien und Pakistan eskaliert, beide Seiten jeweils eine Atombombe einsetzen – und es dann trotzdem gelingt, die Eskalation zu stoppen?
Oder ist die existenzielle Bedrohung in dem Moment so groß – wenn man weiß, dass der Gegner eine Atomwaffe eingesetzt hat –, dass man sofort alle eigenen Waffen starten muss, um seine Angriffsfähigkeit zu sichern? Mit anderen Worten: Ist ein Atomkrieg, wenn er einmal beginnt, nicht automatisch ein vollständiger Gegenschlag?
Lynas: Für die USA ist das im Grunde so. Die Vereinigten Staaten verfolgen die Doktrin des „Launch on Warning“. Ich habe das Buch Six Minutes to Winter genannt, weil der US-Präsident theoretisch nur sechs Minuten Zeit hat, um zu entscheiden, ob er auf eingehende Raketen reagieren soll – basierend auf ein paar Radarblips. Das ist natürlich eine absurde Zeitspanne, um über das Überleben der Zivilisation zu entscheiden. Aber die Theorie ist nach wie vor: Man muss die eigenen Interkontinentalraketen aus den Silos bekommen, bevor die gegnerischen Raketen einschlagen. Das erhöht natürlich massiv das Risiko eines unbeabsichtigten Atomkriegs – weil man sich blind auf die Technik verlassen muss. Und es gab bereits mehrere Fälle, in denen diese „Blips“ auf dem Radar gar keine echten Angriffe waren – sowohl in den USA als auch in Russland. Aber das zeigt eben: Beide Seiten – Russland hat wohl eine ähnliche, aber weniger transparente Doktrin – gehen davon aus, dass man bei einem erkannten Angriff sofort mit einem vollständigen Gegenschlag reagieren muss. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass es bei zwei oder drei Raketen bleibt und dann alles wieder runtergekocht wird.
Ein anderer Blickwinkel sind Planspiele. Es gibt viele davon – und sie eskalieren fast immer. Wenn du zwei Millionen Menschen verloren hast und deine Hauptstadt zerstört ist, dann schlägst du eben mit mehreren Hundert Raketen zurück. So oder so läuft es meist auf einen umfassenden Schlagabtausch hinaus.
Mounk: Und was ist mit der Unterscheidung zwischen einem regionalen und einem globalen Atomkrieg? Wenn die USA beteiligt sind – vor allem in einem Konflikt mit Russland oder China – wird daraus wohl sehr schnell ein globaler Krieg.
Aber was wäre, wenn es sich nur um Indien und Pakistan handelt – oder andere regionale Atommächte? Gibt es ein realistisches Szenario, in dem sich der Konflikt auf diese Region beschränkt? Und wie sähe die Wirkung dann aus?
Lynas: Ich habe mir die aktuellen Atomarsenale von Indien und Pakistan kürzlich angesehen. Die neuesten indischen Zahlen wurden gerade im Bulletin of the Atomic Scientists veröffentlicht. Beide Länder haben vermutlich jeweils ein paar Hundert Sprengköpfe. Das Szenario wäre also: Beide vernichten sich gegenseitig, zerstören ihre großen Städte – Hunderte Millionen Menschen sterben. Dabei würde wahrscheinlich so viel Ruß in die Atmosphäre gelangen, dass es global um ein oder zwei Grad kälter wird – für etwa ein Jahr. Das wäre wie der Vulkanausbruch von Pinatubo 1991 – nur dreifach stärker. Das würde die weltweite Nahrungsmittelproduktion beeinträchtigen. Und natürlich wäre das politisch und gesellschaftlich ein gewaltiger Schock – aber für den Rest der Welt wäre es überlebbar.
Ein regionaler Atomkrieg ist also überlebbar – zumindest für den Großteil der Weltbevölkerung. Für die beteiligten Staaten natürlich nicht. Das ist etwas völlig anderes als ein globaler Atomkrieg, der nicht überlebbar wäre – bei dem eben nicht nur die Krieg führenden Länder ausgelöscht würden, sondern fast alle anderen auch.
Mounk: Okay – und was machen wir jetzt damit? Außer darüber nachzudenken, uns selbst zu gruseln oder unseren Kindern Horrorgeschichten zu erzählen, wenn wir ein bisschen sadistisch veranlagt sind – was wären aus deiner Sicht die drei wichtigsten Prioritäten, um so ein schreckliches Szenario zu verhindern?
Lynas: Das klingt vielleicht banal, aber wir müssen anfangen, darüber zu reden. Im Moment hat man fast das Gefühl, man müsse sich dafür schämen. Als ich erzählt habe, dass ich ein Buch über Atomkrieg schreibe, haben die Leute gelacht und gesagt: „Klingt ja superdepressiv“ oder „Mensch Mark, kannst du nicht mal über was Fröhlicheres schreiben?“ – weil mein letztes Buch ja auch schon über den Klimawandel war. Aber genau das ist ein Punkt: Wir müssen das Tabu brechen und mehr darüber sprechen.
Zweitens brauchen wir politischen Druck von unten – von der Basis. Genau wie beim Klimawandel: Da gab es in den letzten 15, 20 Jahren eine Bewegung, die das Thema ganz oben auf die Agenda gebracht hat. Heute haben alle großen Volkswirtschaften Netto-Null-Ziele, es gibt jedes Jahr COP-Konferenzen, riesige mediale Aufmerksamkeit. Beim Atomrisiko passiert dagegen fast nichts. Es gibt zwar jährliche Treffen zum Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons – TPNW –, der 2021 in Kraft trat. Dieser Vertrag wurde von über 90 Ländern unterzeichnet und von mehr als 70 ratifiziert. Aber die meisten Menschen wissen gar nicht, dass es ihn gibt. Wenn ich in Vorträgen frage, wer davon schon mal gehört hat, geht kaum eine Hand hoch. Und dabei ist das wichtig – denn es gibt auf UN-Ebene ein juristisches Instrument zur vollständigen Abschaffung von Atomwaffen. Der TPNW bietet sogar Mechanismen, um Druck auf die Atommächte – es sind nur neun – auszuüben, damit sie endlich wieder ernsthaft über Abrüstung verhandeln. Aber stattdessen passiert gerade das Gegenteil: Die Rüstungskontrollverträge aus der Zeit des Kalten Krieges lösen sich einer nach dem anderen auf.
Mounk: Wie realistisch ist es denn überhaupt, dass es jemals zu einer vollständigen Abrüstung kommt – ohne dass wir vorher einmal durch das ganze Chaos durch müssen? Wie wahrscheinlich ist es, dass Atommächte ihre Waffen freiwillig abgeben?
Da gibt es ja zwei Sorgen: Zum einen, selbst eine Supermacht mit starker konventioneller Verteidigung wird ihren geopolitischen Rivalen nie ganz vertrauen – wird nie sicher sein, ob die sich an dasselbe Abkommen halten. Nehmen wir die USA: Sie sind physisch kaum durch China bedroht. Also könnten sie sagen: „Okay, wir schaffen unsere Atomwaffen ab, und wenn nötig, verteidigen wir uns konventionell.“ Aber das Gegenargument wäre: Wenn China seine Waffen behält – oder Russland – dann würden sie uns einfach dominieren. Wenn wir unsere Waffen abgeben und die anderen behalten sie – sei es durch Betrug, durch Vertragsbruch oder Täuschung – dann stehen wir auf einmal wahnsinnig schwach da. Das ist ein sehr starkes Argument gegen Abrüstung.
Und für kleinere Mächte gilt vermutlich eine ähnliche Logik. Der Grund, warum Länder wie Nordkorea oder der Iran so viel in Atomwaffen investieren, ist ja gerade, dass sie diese Waffen als ultimativen Schutz vor einem Angriff sehen. Sobald du Atomwaffen hast, ist das deine letzte Verteidigungslinie gegen eine konventionelle Invasion. Und ironischerweise ist genau dieses Risiko der Auslöschung ein Grund dafür, warum wir in den letzten Jahrzehnten weniger Kriegstote hatten – trotz grausamer Konflikte in der Ukraine oder im Nahen Osten – als in früheren Jahrhunderten. Eben weil sich die großen Mächte nicht gegenseitig angreifen – aus Angst vor nuklearer Eskalation.
Lynas: Ich finde, genau dieser Punkt ist diskutabel. Ich glaube, Russland fühlte sich 2022 gerade wegen seiner Atomwaffen ermutigt, eine vollständige Invasion der Ukraine zu starten – eben weil es wusste, dass die Ukraine keine Atomwaffen mehr hatte. Die Existenz von Atomwaffen hat diesen Krieg also nicht verhindert – im Gegenteil, sie könnte ihn sogar wahrscheinlicher gemacht haben. Wir müssen einen Weg finden, wie Menschen weiterhin Kriege führen können – denn Kriege werden nicht verschwinden – ohne dabei die Biosphäre zu zerstören. Selbst wenn jedes Land nur noch zehn oder fünfzehn Sprengköpfe hätte, wäre das schon ein Fortschritt.
Aber dann stellt sich die Frage: Bekommt jedes Land zehn oder fünfzehn? Oder bleibt es bei den bisherigen neun? Und wenn dann ein Land auf 20 oder 50 oder 100 hochgeht, ist man wieder mitten im Wettrüsten. Deshalb glaube ich, das Entscheidende ist: Wir müssen jede Form von Unilateralismus über Bord werfen. Das war der Fehler der Friedensbewegung in den 70ern und 80ern – das einseitige Abrüstungsverlangen war damals schon nicht überzeugend. Um es mit Trump-Sprache zu sagen: Die einzige „Karte“, die du hast, ist das Angebot, deine Atomwaffen abzurüsten – wenn dein Gegner im Gegenzug dasselbe tut, in einem vollständig überprüfbaren, schrittweisen Prozess.
Und dann muss man auch die Kontrolle über spaltbares Material und den zivilen Brennstoffkreislauf behalten – wegen der Proliferationsrisiken. Die Mechanismen dafür existieren. Genau dafür ist die IAEA da, und sie macht das in vielen Regionen sehr erfolgreich. So wissen wir ja auch, dass der Iran an einer Bombe arbeitet – weil sie Uran auf viel höhere Werte anreichern, als man für zivile Reaktoren braucht.
Mal sehen, wie die Welt darauf reagiert. Die Israelis sind eher bereit, den Iran militärisch anzugreifen, um zu verhindern, dass er zur Atommacht wird. Und der Iran wird mit großer Wahrscheinlichkeit weitermachen – weil Atomwaffen dort, wie auch in Nordkorea, als ultimative Garantie für das Überleben des Regimes gelten. Irgendwann muss sich da etwas verändern – beide Seiten können diese Positionen nicht ewig aufrechterhalten.
Aber gleichzeitig müssen wir auch das langfristige Ziel im Blick behalten – das, was ich „global zero“ nenne. Nur so kann menschliche Zivilisation auf lange Sicht überleben. Und mit „langfristig“ meine ich: Jahrzehnte und Jahrhunderte.
Mounk: Wichtig ist, dass du dich nicht für einseitige Abrüstung aussprichst – denn die wirkt ja offensichtlich unrealistisch. Wenn du ernsthafte geopolitische Rivalen hast, die über Atomwaffen verfügen, und dann sagst: Wir rüsten jetzt einseitig ab, dann schwächst du deine Position so stark, dass kaum ein Regierungschef das mitmachen würde – und kaum eine demokratische Bevölkerung würde das unterstützen.
Aber wenn man sagt: Wir versuchen, ein globales Abkommen zu erreichen, in dem alle gleichzeitig abrüsten – dann ist das zwar immer noch ein Rückschritt gegenüber dem Status quo, aber zumindest denkbar. Wie stehen die Chancen für so ein Abkommen? Ich habe das Gefühl, es passiert gerade beides gleichzeitig – zumindest wenn ich das mit vor 10 oder 20 Jahren vergleiche:
Einerseits leben wir in einer konfliktträchtigeren Welt – mit selbstbezogeneren, lauteren Führungspersonen, die sich weniger für globale Güter interessieren, wie etwa Sicherheit vor Atomwaffen, als die Generationen vor ihnen. Vor 20 oder 30 Jahren konnte man sich solche Abkommen leichter vorstellen als heute.
Andererseits – und das ist irgendwie paradox – erscheint mir das Risiko eines Atomkriegs heute höher als damals. Klar, das Risiko war immer da. Und du hast sehr eindrucksvoll erklärt, wie knapp es z. B. in der Kubakrise war. Aber ich bin in den 90ern aufgewachsen, habe meine politische Sozialisierung als Teenager und Student in den 2000ern durchlaufen – und hatte da ein ziemlich großes Vertrauen in die Rationalität der Welt. Ich dachte: Die politischen Führer handeln letztlich vernünftig. Sie wollen die Welt nicht zerstören. Es gibt Mechanismen, um die schlimmsten Szenarien zu verhindern. Wenn man sich etwa vor einer globalen Pandemie fürchtete, dachte man: Es gibt Gesundheitsbehörden, die vorbereitet sind, um das zu stoppen. Und das hat ja auch oft funktioniert. Es war leicht, anzunehmen: Ja, das sind reale Risiken, aber wir haben Systeme, die sie eindämmen. Es wird schon gut gehen.
Aber durch die Pandemie, durch das erratische Verhalten mancher Staatschefs – und durch die Größenordnung der aktuellen Kriege wie in der Ukraine – ist mein Vertrauen in diese Annahme gesunken. Es ist immer verführerisch zu glauben: „Wenn etwas Schlimmes bisher nicht passiert ist, dann kann es vielleicht gar nicht passieren.“ Aber das ist intellektuell falsch. Ich glaube, die Voraussetzungen für eine wirklich katastrophale Entwicklung sind heute höher als früher – auf zwei Ebenen: Die Fähigkeit zur koordinierten Abrüstung hat abgenommen, und die Wahrscheinlichkeit eines Ernstfalls ist gestiegen. Das ist doch eigentlich ein ziemlich deprimierendes Fazit, oder? Die Chance auf „global zero“ ist kleiner als früher – und unser Gefühl für das Risiko ist ernster, weil sich herausstellt, dass die Systeme, auf die wir vertraut haben, gar nicht so rational sind. Kann man da überhaupt noch hoffnungsvoll bleiben?
Lynas: Natürlich ist es schwer, sich etwas vorzustellen, für das es weder eine politische Basis noch öffentliche Nachfrage gibt. Aber genau deshalb verwende ich immer wieder das Beispiel Klimawandel. Ich mache das ja schon lange – ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als sich niemand dafür interessiert hat. Elektroautos galten als rollende Witzfiguren. Solarpanels kosteten 10.000 Dollar pro Quadratzoll. Die Vorstellung, dass eine moderne Industriegesellschaft ohne fossile Brennstoffe funktionieren könnte, war völlig undenkbar. Wir steuerten auf eine Welt mit fünf oder sechs Grad Erwärmung zu – also auf eine Katastrophe. Aber in dieser Welt leben wir heute nicht mehr. Heute bewegen wir uns – ich würde sagen, unumkehrbar – in Richtung Energiewende. Das wird noch lange dauern, und wahrscheinlich landen wir bei +2 Grad. Allein das wird eine extrem schwierige Phase. Aber der Wandel ist passiert – aus technologischen und politischen Gründen. Und ich glaube: Technologie, Politik und Wirtschaft hängen alle zusammen – aber Politik kommt zuerst.
Wir brauchen eine echte politische Nachfrage – zumindest in Demokratien – nach einer Deeskalation des nuklearen Risikos. Diese Nachfrage existiert derzeit schlicht nicht. Aber sie ist notwendig. Und wir – wer auch immer „wir“ sind – müssen sie aufbauen.
Ich versuche, meinen Teil beizutragen, um das Bewusstsein zu schärfen und das Thema wieder auf die Agenda zu bringen. Ich hoffe einfach, dass genug Menschen begreifen, dass dieses Risiko immer noch existiert. Viele haben den nuklearen Winter als „widerlegt“ abgetan – aber das ist er nicht. Und ich glaube, genau deshalb fällt es uns so schwer, uns eine Welt ohne Atomwaffen vorzustellen: weil gerade niemand aktiv danach verlangt.
Mounk: Ich finde, du hast uns eine sehr eindringliche Warnung gegeben – und auch erklärt, was wir politisch tun müssten, um ihr zu begegnen.
Ich möchte aber gern noch auf ein anderes Thema eingehen, das du mehrfach angesprochen hast – und über das du viel geschrieben hast: den Klimawandel. Vielleicht können wir das Gespräch mit ein paar Gedanken dazu abschließen. Eines deiner bekanntesten Bücher heißt Six Degrees und beschäftigt sich mit der Frage, wie wir auf einem heißeren Planeten leben können. Ich fand es bemerkenswert, dass du vorhin gesagt hast: „Wir werden wohl in einer Zwei-Grad-Zukunft landen.“ Wie hat sich der Kampf gegen den Klimawandel in den letzten Jahrzehnten verändert? Warum scheint es – wenn ich zwischen den Zeilen richtig lese – so, als seien einige der Worst-Case-Szenarien, die bei Erscheinen deines Buches noch realistisch wirkten, inzwischen weniger wahrscheinlich? Warum können wir heute hoffentlich mit einer um zwei Grad wärmeren Erde rechnen – was, wie du betonst, immer noch eine riesige Herausforderung ist – statt mit einer um sechs Grad heißeren?
Lynas: Die Antwort darauf ist eigentlich ganz einfach. Die Emissionsszenarien, die nötig wären, um auf fünf oder sechs Grad Erwärmung zu kommen, sind heute schlicht nicht mehr plausibel. Man müsste dafür den weltweiten Kohleverbrauch um das Fünf- bis Zehnfache steigern. Aber es ist offensichtlich, dass Kohle ihren Höhepunkt erreicht hat. Niemand baut mehr Terawatt an neuer Kohlekapazität – und niemand plant es. Selbst China will Kohle langfristig zurückfahren, und der Kohleverbrauch dort hat vielleicht schon seinen Höhepunkt überschritten. Chinas CO₂-Emissionen könnten bereits gesunken sein – und das ist das wichtigste globale Signal für die Zukunft des Klimas.
Andererseits überschreiten wir gerade die 1,5 °C – das war das Pariser Ziel, beschlossen erst 2015. Wir sehen das jetzt nicht nur in Echtzeit, sondern fast schon im Rückspiegel. Der Blick richtet sich nun auf die 2 °C-Marke. Wenn man sich anschaut, was die derzeitigen globalen Pläne an Erwärmung bedeuten – also die Projektionen der Regierungen zum fossilen Energieverbrauch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts –, dann landen wir bei knapp unter 3 °C. Ich würde wetten, dass es irgendwo zwischen 2,4 und 2,7 °C wird. Das ist eine völlig andere Welt als die mit sechs Grad. Eine Welt, in der Menschen überleben – und sogar gedeihen – können, auch wenn es große Herausforderungen geben wird: für Ökosysteme und für besonders verletzliche Gesellschaften und Volkswirtschaften.
Mounk: Warum kam es zu diesem Wandel? War das politischer Wille? Technologischer Fortschritt? Eine Mischung? Warum haben sich manche der eindringlichen Warnungen – auch deine – über eine Sechs-Grad-Welt nicht bewahrheitet?
Lynas: Ich weiß nicht genau, was zuerst da war – aber ohne Technologie wäre es undenkbar gewesen. Ohne den technischen Wandel, der uns heute ultragünstige Solarenergie ermöglicht – die das Rückgrat einer CO₂-freien Wirtschaft bilden kann –, wäre das alles gar nicht möglich. Natürlich haben wir immer noch große Probleme. Ich sehe momentan nicht, wie der Flugverkehr dekarbonisiert werden soll. Auch bei Stahl und Ammoniak gibt es noch Herausforderungen. Die Landwirtschaft wird weiterhin ein erheblicher Emittent bleiben – vor allem durch Abholzung und Landnutzungsänderung.
Aber die meisten Technologien, die wir für die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft brauchen, existieren bereits – oder werden gerade so günstig, dass sie in die Massenanwendung kommen. Elektroautos zum Beispiel – ich glaube, da sind wir über den Kipppunkt hinaus. Was auch immer die Trump-Regierung versucht, sie manövriert sich damit nur ins Abseits dieser Transformation. China wird diesen Wandel vollständig dominieren – und tut es jetzt schon: bei kritischen Rohstoffen, bei Solarenergie, bei E-Autos, bei allem. Auch bei der Kernenergie. Ich denke, wir erleben gerade eine Renaissance der Kernkraft – sowohl bei kleinen Reaktoren als auch bei konventionellen Leichtwasserreaktoren –, die es möglich machen wird, rund um die Uhr saubere Energie zu liefern, ganz ohne die Probleme mit schwankender Verfügbarkeit, wie bei den Erneuerbaren. Also ja – das meiste verdanken wir der Technologie. Aber vielleicht ist diese Technologie überhaupt erst wegen der politischen Nachfrage entstanden. Ich weiß nicht, was da zuerst war.
Mounk: Lass uns kurz über Kernenergie sprechen. Du bist offensichtlich sehr besorgt über Atomkrieg. Gleichzeitig verstehe ich dich so, dass du den Ausbau ziviler Atomenergie – also Kernreaktoren usw. – im Kampf gegen den Klimawandel unterstützt. Für viele, die bei diesem Thema hin- und hergerissen sind, klingt das vielleicht widersprüchlich. Du bist derjenige, der davor warnt, dass Atomenergie die Menschheit vernichten kann – und gleichzeitig forderst du mehr Reaktoren. Warum ist das für dich kein Widerspruch? Warum ist Kernenergie in deinen Augen wichtig für den Kampf gegen den Klimawandel? Warum können wir uns nicht allein auf Erneuerbare wie Solar verlassen? Und warum gelten die Risiken, die wir beim Thema Atomkrieg besprechen, deiner Meinung nach nicht für zivile Atomkraft – selbst wenn mal etwas schiefläuft wie in Tschernobyl?
Lynas: Tschernobyl und Fukushima waren kleinere Industrieunfälle. Tschernobyl hat über die Jahre hinweg ein paar Hundert, vielleicht ein paar Tausend Menschen getötet. Fukushima hat niemanden getötet. Das hätte die Menschheit nicht von der Atomkraft abschrecken dürfen. Ich finde, Kernenergie ist eine vollständig nachhaltige Technologie. Wenn man einen geschlossenen Brennstoffkreislauf hat und auch das abgebrannte Material sowie das bisher nicht genutzte Uran-238 in schnellen Reaktoren nutzt, könnte man die USA mit dem heutigen Stromverbrauch für tausend Jahre versorgen. Ich habe das gerade erst durchgerechnet – für einen Bericht, an dem ich arbeite. Wenn man auch Thorium einbezieht, geht das Ganze in die Zehntausende von Jahren. In diesem Sinne ist Atomkraft genauso nachhaltig wie Wind oder Sonne – denn auch die Sonne geht ja nicht so schnell aus.
Natürlich kann Atomkraft enorme Energiemengen liefern – das sieht man ja leider auch an Bomben. Die Technologien sind eng miteinander verwandt. Aber ich glaube nicht, dass man eine Welt mit hohem Energiebedarf und 24/7-Versorgung allein mit Wind und Sonne betreiben kann. Die Batteriespeicherkapazitäten, die man bräuchte, um saisonale Schwankungen zu überbrücken, wären gigantisch. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es weltweit genug kritische Rohstoffe dafür gibt. Deshalb ist es sinnvoll, einen Teil der Grundlast und der Reservekapazitäten durch Atomkraft abzudecken. Das ist nicht überall nötig. In den sonnigsten Ländern vermutlich nicht. Aber für den Großteil der Welt ergibt es Sinn, Kernenergie zumindest als Option zu haben.
Mounk: Auffällig ist ja, dass – soweit ich weiß – der Großteil der CO₂-Emissionen inzwischen aus Entwicklungsländern kommt, oder aus dem Globalen Süden, wie man auch sagt. Die USA, Westeuropa und so weiter sind da nicht mehr die Hauptverursacher.
Wie sollte das das politische Denken der Bürgerinnen und Bürger in westlichen Demokratien verändern? Wie können Deutsche, Amerikaner, Briten anerkennen, dass sie historisch einen erheblichen Beitrag zum Klimawandel geleistet haben – und ihre Volkswirtschaften ihn auch heute noch weiter vorantreiben –, ohne dabei naiv zu sein, was ihren aktuellen Einfluss auf die globalen Emissionen betrifft, der mittlerweile eher eine Nebenrolle spielt?
Lynas: Es läuft einigermaßen gut. Europa ist auf Kurs, seine Emissionen bis 2030 um etwa 50 % gegenüber dem Niveau von 1990 zu senken. Auch in den USA und in anderen Industrieländern sind die Emissionen in den letzten zehn Jahren gesunken. Netto-Null bis 2050 wird wohl nicht ganz erreicht – das ist ja das globale Hauptziel – aber wir werden ziemlich nah rankommen.
Momentan erleben wir allerdings einen Rückschlag: Populistische Parteien instrumentalisieren Anti-Klimapolitik und Anti-Netto-Null-Positionen als Teil ihrer generellen Anti-„Woke“-Rhetorik. Du kennst dich da politisch wahrscheinlich besser aus als ich. Aber ich glaube, wir müssen da drüber hinwegsehen. Ich glaube nicht, dass wir eine große Rückkehr zur fossilen Energie sehen werden – oder zur Technologie von gestern. Der Verbrennungsmotor wird das Schicksal des Pferdes teilen. Pferde sind nicht verschwunden – aber sie sind nicht mehr das Rückgrat des Verkehrs. In 20 oder 30 Jahren wird das mit dem Verbrennungsmotor genauso sein. Ich glaube, schon heute sind die meisten Neuwagenverkäufe in China – und auch anderswo – Elektroautos. Man will Teil dieser Welle sein – nicht in ihrem Kielwasser hängen. Genau das droht aber den USA, weil das Thema Klima dort so toxisch geworden ist. Vielleicht verändert sich alles, wenn China wirklich zur Erfolgsgeschichte wird – nicht nur als erste postindustrielle, sondern als erste vollständig elektrifizierte Volkswirtschaft. Aber ehrlich gesagt: Vielleicht ist es sogar einfacher, einfach chinesische E-Autos, Solarpanels und den Rest zu kaufen. Die Lieferketten werden mittlerweile fast vollständig von China dominiert – und die Kosten sind extrem niedrig. Das liegt nicht nur an billiger Arbeitskraft. Da kommen viele Faktoren zusammen – etwa sehr hohes Produktivitätswachstum. Die ökonomischen Grundlagen waren in China in vielerlei Hinsicht schlicht günstiger als in vielen früheren Industrienationen.
Mounk: Wir haben bisher vor allem über die guten Nachrichten gesprochen, was die CO₂-Emissionen betrifft. Die Emissionen sinken im Westen ziemlich schnell – und auch in anderen Teilen der Welt. Technologien, die kein CO₂ ausstoßen, setzen sich zunehmend durch. Aber was ist mit dem CO₂, das bereits in der Atmosphäre ist? Du hast gesagt, dass wir wahrscheinlich irgendwo zwischen 2 °C und 3 °C Erwärmung landen werden. Müssen wir also Technologien einsetzen, um CO₂ aus der Luft – oder aus den Ozeanen – zu entfernen, um mit dieser Erwärmung klarzukommen? Haben wir bei solchen Technologien nennenswerte Fortschritte gemacht? Oder glaubst du, dass wir das gar nicht in großem Maßstab brauchen, wenn wir die Emissionen stark genug senken?
Lynas: Naja, es wäre tatsächlich viel einfacher, Solar-Geoengineering zu machen – also Sulfate in die obere Stratosphäre auszubringen. Theoretisch könnte man damit jede gewünschte Temperatur erreichen. Wir könnten uns auf einer COP alle zusammentun und sagen: Okay, wir stoppen bei 2 °C, und erhöhen gezielt die Sulfatausstöße, um die Temperaturkurve zu deckeln – also den Overshoot abzuschneiden –, bis wir die Weltwirtschaft vollständig dekarbonisiert haben. Das wäre der einfachste Weg.
Es ist hingegen viel schwieriger, CO₂ aus der Atmosphäre in dem Maßstab zu binden, der nötig wäre, um wieder auf 350 ppm zu kommen – was vermutlich der sichere Wert wäre. Mir fällt kein Mechanismus ein, der das auf diesem Niveau schaffen könnte. Selbst wenn man es in die oberirdische Biosphäre einlagert: Es gibt einfach nicht genug Vegetation oder Landkohlenstoffpotenzial, um das zu leisten. Vielleicht kann man 10 oder 20 ppm herausziehen – aber der Rest? Ich glaube nicht, dass das allein mit natürlichen Prozessen machbar ist. Man muss sich klar machen: Das ist Kohlenstoff, der über Millionen von Jahren in unterirdischen fossilen Lagerstätten gespeichert war. Und wir haben ihn plötzlich in die Atmosphäre gepustet. Es wird extrem lange dauern, bis die oberirdische Biosphäre das wieder aufnehmen kann – besonders wenn man sich auf natürliche Prozesse verlässt.
Mounk: Wenn wir das nicht machen – wenn es also bei einer Erwärmung von 2 °C bis 3 °C bleibt – wie sieht das dann konkret für die Welt aus? Ist das ein Problem der dauerhaften Umweltzerstörung, oder eher eine Frage der Anpassung? Ist eine Welt mit 2 °C oder 3 °C mehr grundsätzlich lebensfeindlicher für Menschen, für die Landwirtschaft und so weiter?
Oder liegt das Problem eher darin, dass wir unsere Städte an Küsten gebaut haben, die dann überschwemmt werden – oder dass unsere Landwirtschaft in Regionen liegt, die für ein kühleres Klima optimiert waren – und dass die riesigen Kosten vor allem durch diese Verschiebung entstehen? Ist es also eine Frage der Anpassung, oder eher eine Frage der Schädigung?
Lynas: Es ist ein bisschen beides. Ich denke, die meiste Anpassung wird von Menschen kommen, und den größten Schaden werden die natürlichen Ökosysteme erleiden. Das sehen wir jetzt schon, zum Beispiel bei den Korallenriffen. Da sind etwa 50 % verloren gegangen – teils wegen klimabedingter Korallenbleiche, teils wegen anderer menschengemachter Einflüsse wie Krankheiten oder Verschmutzung. In einer Welt mit 2 °C Erwärmung werden Korallenriffe in freier Wildbahn kaum noch überleben. Es gibt auch andere potenzielle ökologische Kipppunkte – etwa im Amazonas. Es ist unklar, ob der Regenwald in einer 2 °C-wärmeren Welt überleben kann. Aber bei der derzeitigen Abholzungsrate rücken wir diesem Kipppunkt auf jeden Fall näher. Dann gibt es noch das Risiko größerer Veränderungen in Systemen wie der Nordatlantik-Zirkulation. Auch das ist besorgniserregend.
Was mich allerdings weniger beunruhigt, ist der Meeresspiegelanstieg – vor allem, weil das ein sehr langfristiger Prozess ist. In den Medien wird das oft nicht betont, aber eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass selbst bei 1,5 °C oder 2 °C ein Großteil der Eismassen langfristig verschwinden könnte. Aber wenn man sich die Zeitachsen anschaut: Da geht es um das Jahr 2500. Um mehrere Meter Meeresspiegelanstieg zu erreichen, sprechen wir über mehrere Jahrhunderte – nicht über 2100. Das ist eine extrem lange Perspektive. Es wäre, als hätten sich die Tudors vor 500 Jahren Sorgen über den heutigen Meeresspiegelanstieg gemacht. In dem Sinn ist das fast absurd. Meeresspiegelanstieg ist zudem anpassungsfähig – zumindest in diesen Zeiträumen. Wenn wir den Fuß vom Gas nehmen, können wir die Eisschilde immer noch stabilisieren – zumindest über die nächsten ein oder zwei Jahrhunderte.
Das andere große Thema ist natürlich die Lebensmittelproduktion. Wird man in einer Welt mit 2 °C Erwärmung noch ausreichend Nahrung produzieren können? Ich denke, ja. Es gibt Anpassungsmöglichkeiten bei den Feldfrüchten, die nicht nur das jetzige Produktionsniveau halten, sondern sogar die Erträge weiter steigern könnten. Dann ist da noch die Frage der Hitzetoleranz: Wird es so heiß, dass Menschen biologisch gesehen nicht mehr draußen überleben können? Ja, das wird mehr Regionen betreffen – vor allem in der Golfregion, in Südasien und anderen sehr heißen und feuchten Gebieten. Aber das ist ja heute schon so – etwa in Dubai. Dort ist es unerträglich heiß, man kann sich nicht lange draußen aufhalten – zumindest nicht gesund arbeiten. Aber in solchen Städten leben Menschen längst in künstlichen Umgebungen, die Unmengen an Energie verbrauchen. Wenn diese Energie dekarbonisiert ist, ist das auch eine Anpassungsstrategie.
Wir müssen anfangen, anders zu denken. Menschen sind eine unglaublich anpassungsfähige Spezies. Unsere Technologie entwickelt sich unter Druck sehr schnell weiter. Ich glaube, wir können uns an eine 2‑Grad-Welt anpassen und in ihr überleben. Ich sage das allerdings mit dem wichtigen Zusatz: Es gibt viele klimaanfällige Länder, mit denen ich arbeite, die keine Anpassungsmöglichkeiten haben – nicht wegen ihrer Geografie, sondern wegen ihrer sozioökonomischen Lage. Sie haben keinen Zugang zu Kapital. Ihre Bevölkerung lebt in Armut. Die Auswirkungen des Klimawandels hängen deshalb oft stärker mit Armut zusammen als mit geophysikalischen Bedrohungen wie Überschwemmungen oder Dürren.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.