Pratap Mehta über die Globale Legitimitätskrise
Pratap Bhanu Mehta ist Senior Fellow am Centre for Policy Research in Neu-Delhi und Laurence Rockefeller Visiting Professor for Distinguished Teaching an der Princeton University.
In diesem Gespräch sprechen Yascha Mounk und Pratap Mehta über Nationalismus, radikale Formen von Selbstidentität und darüber, wie wahrscheinlich ein Krieg zwischen Indien und Pakistan ist.
Hinweis: Der erste Teil dieses Gesprächs wurde am 30. April 2025 aufgenommen, die Fortsetzung am 12. Mai 2025.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: In den letzten Tagen hat sich der lange schwelende Konflikt zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir erneut massiv zugespitzt. Während wir das hier aufnehmen, gilt zwar ein Waffenstillstand – wir hoffen sehr, dass er hält, aber sicher ist das nicht. Beide Länder sind Nuklearmächte, und genau deshalb ist die Eskalation so beunruhigend. Kannst du uns ein bisschen Hintergrund geben? Worum geht es in Kaschmir eigentlich? Und warum flammt dieser Konflikt, der über Jahrzehnte hinweg mal heißer, mal kälter war, gerade jetzt so gefährlich wieder auf?
Pratap Mehta: Das ist ein absolut beispielloser Moment in den Beziehungen zwischen Indien und Pakistan – und man kann die Ernsthaftigkeit der Lage kaum überschätzen. Aber ich finde, man muss mit einem ganz zentralen Punkt anfangen: In diesem Konflikt geht es eigentlich nicht um Kaschmir. Kaschmir ist der Vorwand, und ich erkläre gleich, warum. Es geht in Wahrheit eher um die Identität Pakistans als Staat. Kaschmir ist gewissermaßen „das muslimische Indien“, das einzige mehrheitlich muslimische Bundesland. Pakistan hat es 1948 nicht nur beansprucht, sondern direkt nach der Staatsgründung auch militärisch eingegriffen. Indien und Pakistan haben seitdem mehrere Kriege um Kaschmir geführt. Aber was ist diesmal anders? Man muss das Ganze größer denken. Für die pakistanische Identität spielen drei Dinge eine zentrale Rolle.
Erstens: die institutionelle Rolle der Armee. Man muss verstehen, dass die Armee in Pakistan wirklich das zentrale Machtzentrum ist. Und sie wird immer wieder dafür sorgen, dass sie innenpolitisch legitim bleibt. Dass die Krise genau zu einem Zeitpunkt eskaliert ist, als die Armee in Pakistan besonders schwach dastand, ist kein Zufall. In gewisser Weise ist es also auch eine Art politökonomischer Reflex der Armee, das Thema Kaschmir wieder nach vorn zu holen.
Zweitens: Was Pakistan zusammenhält, ist eine Art Anti-Indien-Ideologie. Im Land selbst gibt es große Probleme – zum Beispiel die extrem gefährliche und gewaltsame Rebellion im Westen, in Belutschistan, mit enormen Verlusten für die pakistanische Armee. Für das pakistanische Projekt war die Erzählung gegen Indien immer der zentrale Kitt. Es ist schon bemerkenswert, dass Pakistan selbst 70, 75 Jahre nach der Unabhängigkeit seine Provinzen – Punjab, Sindh und Belutschistan – nicht zu einer stabilen nationalen Identität zusammenfügen konnte. In genau diesem größeren Zusammenhang bekommt die Kaschmirfrage dann eine neue Funktion. Indien und Pakistan hatten die Kaschmirfrage nach dem Krieg von 1971 mehrfach beruhigt. Es gab das Shimla-Abkommen, in dem beide Seiten sich auf eine Kontrolllinie geeinigt haben.
Nach dem Krieg von 1971 hat sich Pakistan entschieden, dass es die Kaschmirfrage nicht mehr über juristische Mittel bei den Vereinten Nationen, diplomatische Kanäle oder gar einen klassischen Krieg austragen würde. Stattdessen setzten sie auf sogenannte subkonventionelle Mittel – also Terrorismus. Das fiel zeitlich mit einer deutlich radikaleren islamischen Ausrichtung der pakistanischen Armee zusammen. Gleichzeitig positionierte sich Pakistan als Frontstaat im Krieg in Afghanistan gegen Russland. Die USA unterstützten damals dieses islamistische Dschihad-Netzwerk, weil sie glaubten, dass es im Kampf gegen die Sowjetunion nützlich sein würde. Aber dieses Netzwerk entwickelte irgendwann ein Eigenleben – und wurde zentral für die Strategie der pakistanischen Armee. Deshalb glaube ich nicht, dass es hier wirklich um Kaschmir geht. Es geht um die Identität Pakistans – und um die politische Ökonomie des Landes.
Mounk: Lass uns ein bisschen darüber sprechen, was sich in Indien verändert hat. Denn genauso wie Pakistan mit seiner Identität kämpft, tut Indien das in gewisser Weise auch. Narendra Modi versucht, aus einem Land, das immer mehrheitlich hinduistisch war, ein Land zu machen, in dem Hindusein Teil der nationalen Selbstbeschreibung wird. Eine Konsequenz davon war auch die angekündigte Statusänderung für Kaschmir. Wie siehst du diesen Konflikt? Und allgemeiner: Wie siehst du die Zukunft der Muslime in Indien? Es gibt, soweit ich weiß, über 200 Millionen Muslime im Land. Und eine der großen Fragen ist doch, ob diese Gruppe – wenn Indien sich tatsächlich zu einer hinduistischen Nation entwickelt – dem indischen Staatsverständnis treu bleibt oder sich zunehmend ausgeschlossen fühlt und irgendwann den Bezug zum Staat verliert.
Mehta: Die pakistanische Strategie in Bezug auf Kaschmir basierte lange auf der völlig falschen Annahme, man könne die indischen Muslime gegen den Staat aufwiegeln und dadurch eine innere Spaltung Indiens provozieren. Was in dieser Krise – wenig überraschend für alle, die die Geschichte Indiens kennen – besonders auffällt: Bei genau diesem Thema stehen die indischen Muslime komplett auf der Seite des Staates. Selbst die härtesten muslimischen Kritiker dieser Regierung, etwa Asaduddin Owaisi – der einflussreichste muslimische Politiker –, sagen das ganz klar. Niemand hat ihm je vorgeworfen, dass er sich diplomatisch ausdrückt. Und auch er sagt: Das, was Pakistan da macht, schadet den indischen Muslimen. Erstens, weil es ganz konkret ihre Sicherheit gefährdet. Und zweitens, weil sie sich trotz allem bewusst für Indien entschieden haben – und das in der aktuellen politischen Lage ganz klar. Selbst in einem hindu-nationalistisch regierten Indien glauben sie, dass sie ihre Interessen besser verteidigen können als in Pakistan. Das ist auch einer der Gründe, warum Al-Qaida, der IS und ähnliche radikale Bewegungen in Indien nie wirklich Fuß gefasst haben. Es gab einen demokratischen Schutzmechanismus.
Aber klar, du hast völlig recht: Wenn dieser demokratische Schutz wegfällt, dann ist alles offen. So weit ist es in Indien aber noch nicht. Und ein kleiner Lichtblick in dieser Krise – den ich hoffe, dass die Regierung nutzt – ist, dass sie das Land paradoxerweise eher geeint hat, entgegen dem, was Pakistan erwartet hatte. Ich glaube, man muss Indiens Strategie im Umgang mit Pakistan nach 1971 und nach dem schockierenden Terroranschlag von 2008 in Mumbai verstehen – dem sogenannten 26/11, bei dem Zivilisten zwei Tage lang im Taj Hotel ermordet wurden. Bis jetzt bestand die Reaktion Indiens auf Pakistans Terrorismus immer aus strategischer Geduld und Zurückhaltung. Beide Länder haben schließlich Atomwaffen. Ja, Terrorismus erfordert eine Antwort, und Indien hatte jedes Recht zu reagieren. Aber man war sich auch bewusst, dass eine überzogene Reaktion neue Risiken birgt. Diese Doktrin hat sich unter Modi geändert. Die Regierung Modi ist der Ansicht, dass strategische Geduld und Zurückhaltung Pakistan nur ermutigt – und dass man das Terrorproblem nur in den Griff bekommt, wenn man ihnen spürbare Kosten auferlegt.
Mounk: Nur um das etwas einzuordnen: Einer der Gründe, warum es so schwierig ist, hier die richtige Reaktion zu finden, ist, dass Pakistan auf der einen Seite eine Atommacht ist – und man also unbedingt eine offene Eskalation vermeiden will. Auf der anderen Seite aber gibt es sehr starke Hinweise – und ziemlich klare Belege –, dass diese Terrorgruppen vom pakistanischen Staat unterstützt werden. Das sind keine Gruppen, die völlig unabhängig von der Regierung agieren.
Mehta: Die Belege dafür sind ehrlich gesagt überwältigend – und sie sind öffentlich sichtbar. Das ist kein geheimes Wissen. Man muss sich nur anschauen, welche Figuren vom pakistanischen Staat gefeiert werden. Das ist international längst anerkannt. Pakistan stand wegen all dem auch schon oft unter finanziellen Sanktionen – nach 26/11 und auch nach früheren Anschlägen. Ehrlich gesagt ist Indien damit gegen eine Wand gelaufen. Und ich glaube, das hat strukturelle Gründe: Terrorismus ist zu einem zentralen Instrument des pakistanischen Staates geworden. Ich glaube, das bestreitet inzwischen niemand mehr. Nicht einmal der pakistanische Staat selbst streitet es noch klar ab. Die einzige offene Frage ist also: Wie reagiert Indien? Und wie gesagt: Die Modi-Regierung hat die Ansicht vertreten, dass strategische Zurückhaltung Pakistan nur noch ermutigt – und dass man ihnen Kosten auferlegen muss. Man muss aber auch sagen: Die Regierung hatte durchaus im Blick, dass so ein hartes Vorgehen innenpolitisch nützlich sein könnte. Modi hat über die Jahre die Erwartung geschürt: Wenn es einen Terroranschlag gibt, wird es eine militärische Antwort geben. Nach einem Vorfall in Balakot vor fast drei Jahren gab es zum Beispiel Luftschläge gegen Terrorcamps. Das ist ein großer Bruch mit der bisherigen Linie: Terrorismus gilt nun als kriegerischer Akt. Es wird also nicht mehr unterschieden zwischen „subkonventioneller“ Kriegsführung und einem klassischen Krieg. Was diesmal im Vergleich zu früher überrascht, ist das Ausmaß der indischen Reaktion. Man hat bewusst zivile Ziele vermieden. Soweit man sagen kann, gab es bei der Vielzahl an Zielen nicht viele zivile Opfer. In Wahrheit hat sich Indien also ziemlich zurückgehalten. Aber die Liste der Ziele war lang: Luftwaffenstützpunkte in Lahore, Rawalpindi, Sialkot, Karachi und mehreren anderen Städten. Und es gibt unbestätigte Berichte – unter anderem spekulativ in der New York Times –, dass Indien womöglich sogar Pakistans Atomanlagen ins Visier genommen hat. Pakistan hat als Reaktion massiv Drohnen eingesetzt. Es gab auch Raketenangriffe – von denen fast alle, bis auf einen, offenbar abgefangen wurden. Was diesen Moment also besonders macht, ist nicht nur die neue Doktrin, sondern auch die Bereitschaft Indiens, Raketen großflächig einzusetzen. Ich glaube ehrlich gesagt, das hat alle überrascht.
Mounk: Jetzt betreten wir ein bisschen spekulatives Terrain – aber wie schätzt du die Zukunft dieses Konflikts ein, kurzfristig und langfristig? Wird dieser gerade verkündete Waffenstillstand halten oder kehren wir bald zu den Spannungen zurück? Und was denkst du über die Perspektive, diesen Konflikt in den kommenden Jahrzehnten irgendwie zu managen?
Mehta: Ich sehe zwei Dinge. Kurzfristig – also in den nächsten sechs Monaten – glaube ich, dass der Waffenstillstand wahrscheinlich hält. Zum Teil deshalb, weil Pakistan gerade einen IWF-Kredit braucht. Und ich denke, eine der Bedingungen der USA für diesen Kredit war, dass Pakistan dem Waffenstillstand zustimmt. Aber es gibt zwei strukturelle Gründe, weshalb ich langfristig eher pessimistisch bin. Erstens, wie gesagt: Diese ganze Infrastruktur ist zentral für die militärische Strategie Pakistans gegenüber Indien. Und das ist ein riesiges Netzwerk. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Staat so etwas einfach aufgibt. Zweitens: Eine paradoxe Folge des indischen Vorgehens ist, dass Indien jetzt im Grunde gesagt hat – jeder Terroranschlag wird eine Antwort provozieren. Wenn man sich das als Anreizstruktur anschaut: Wer einen Konflikt auf dem Subkontinent auslösen will, dem reicht schon ein kleiner Anschlag – mit vergleichsweise geringem Risiko. Ich glaube, es wird Gruppen geben, die das austesten wollen. Ein weiterer Punkt, der in diesem Konflikt eine neue Rolle gespielt hat, ist China. 80 Prozent der Waffen Pakistans stammen aus China. Und eines der auffälligsten Merkmale in dieser Krise war, dass viele Großmächte sie als Testfeld für ihre Waffensysteme gesehen haben: Wie hat sich der Rafale-Jet geschlagen? Wie das chinesische JCE-Kampfflugzeug? Es ist wirklich bemerkenswert, wie sehr dieser Konflikt auch zum Schaulaufen konkurrierender Technologien wurde. Da China Pakistan inzwischen als verlässlichen Allwetter-Partner aufgebaut hat, könnte man durchaus sagen: Wenn China Indien schwächen will, ist das eine ziemlich kostengünstige Option. Es will vielleicht nicht, dass der Konflikt völlig außer Kontrolle gerät – aber im Gegensatz zu dem, was viele erwartet hatten, nutzt China diesen Konflikt nicht, um sich Indien anzunähern. Im Gegenteil: Eine der großen Sorgen Indiens ist, dass China ganz klar gemacht hat, dass es solche subkonventionellen Terror-Optionen zumindest nicht aktiv verhindern wird – wenn es sie nicht sogar stillschweigend unterstützt.
Mounk: Danke dir – dass du uns so geholfen hast, diesen komplexen Konflikt besser zu verstehen. Und danke für das ganze Gespräch.
Mounk: Du argumentierst, dass es eine weltweite Legitimitätskrise gibt, die nicht nur liberale Demokratien und das liberale Projekt betrifft, sondern auch die Alternativen dazu – und das auf ziemlich interessante Weise. Fangen wir mal vorne an: Warum steckt das liberale Projekt im Jahr 2025 in so einer tiefen Legitimitätskrise?
Mehta: Vieles davon haben deine anderen Gäste ja schon abgedeckt, aber ich will ein paar Punkte ergänzen, um das Gespräch weiterzubringen. Das liberale demokratische Projekt – oder eigentlich jedes politische System – steht letztlich immer auf drei institutionellen Säulen: der Wirtschaft, dem Staat und dem geopolitischen Kontext.
Eine sinnvolle Art, über die Krise der liberalen Demokratie nachzudenken, wäre also nicht mit Fragen wie: Ist das eine Krise liberaler Ideen? Ist es eine Krise des Liberalismus? Sondern man sollte bei diesen drei Säulen ansetzen und fragen: Gibt es an diesem historischen Punkt etwas, das alle politischen Systeme an diesen drei Bereichen nur schwer in den Griff bekommen? Die Wirtschaft ist dabei der offensichtlichste Teil. Politische Legitimität hängt zum Teil davon ab, ob man einen funktionierenden Gesellschaftsvertrag rund um die Wirtschaft hinbekommt. Solche Verträge funktionieren besonders gut, wenn sie die Wirtschaft nicht als Nullsummenspiel darstellen und wenn sie tragfähige Klassenkompromisse ermöglichen. Historisch war das im 19. Jahrhundert der Deal zwischen Bürgertum und Adel. Nach dem Zweiten Weltkrieg – für eine kurze Zeit – war es ein Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit. Interessanterweise war das vielleicht die einzige Phase in der globalen Geschichte, in der Lohnwachstum und Produktivitätswachstum einigermaßen im Gleichschritt liefen. Dann driftete das auseinander – zunächst kurz zugunsten der Arbeit –, und später kam die Gegenreaktion. Was wirklich erstaunlich ist: Ob in China oder in den USA – weltweit hat das Lohnwachstum mit der Produktivität einfach nicht mehr Schritt gehalten.
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Viele Menschen haben heute das Gefühl, dass an diesem Gesellschaftsvertrag irgendwas nicht mehr stimmt. Die wirtschaftliche Realität bringt neue Klassenverhältnisse mit sich – etwa zwischen Hochschulabsolventen und der klassischen Arbeiterschicht – und das sorgt für Spannungen, sowohl in sozialen als auch in Statusfragen. Und die Frage ist: Gibt es in unserem heutigen Wirtschaftsmodell etwas, das diese Spannungen nicht wie früher auflösen kann, sondern sie eher zu einem Nullsummenspiel macht? Ehrlich gesagt: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Man sieht, wie sowohl die Linke als auch die Rechte damit ringen. Die Mitte hatte lange eine eher machiavellistische Haltung: Man sollte die Wirtschaft nicht zu fatalistisch sehen. An jedem wirtschaftlichen Wendepunkt gibt es etwas, das man irgendwie managen muss. Man löst ein Problem, dann taucht das nächste auf. Die Hoffnung ist, dass der Staat diese Balance so steuert, dass zumindest ein kollektives Vertrauen in die Zukunft entsteht. Es geht also nicht einfach um Konjunkturzyklen, sondern um aktives, gutes Politikmanagement. Bemerkenswert ist, dass alle – Links, Rechts und Mitte – im Moment nach dieser Mischung suchen. Es gibt absurde Widersprüche: Die Linke feiert auf einmal die Anleihemärkte als Retter der Demokratie, und Rechte wie Scott Bessent sagen, sie stehen für die kleinen Läden an der Hauptstraße – gegen die Wall Street. Einerseits ist das lustig, andererseits zeigt es, wie komplex die Steuerung moderner Volkswirtschaften geworden ist. Auch China steckt in einem eigenen wirtschaftlichen Dilemma. Die chinesische Wirtschaft kämpft gerade sehr. Es gibt einen Widerspruch zwischen dem investitionsgetriebenen Wachstumsmodell, das großen Erfolg gebracht hat, und der Unfähigkeit, in einen umfassenden Sozialstaat umzuschalten. Man könnte sagen: Die Krise betrifft weniger die liberale Demokratie an sich – sie ist zu einem großen Teil eine Krise der sozialen Vorstellungskraft, wie man wirtschaftliche Fragen heute überhaupt noch politisch lösen kann.
Mounk: Ich will auch noch auf die anderen Institutionen kommen, in denen diese Krise verankert ist. Aber wenn wir schon beim Thema Wirtschaft sind: Warum wird diese Krise wirtschaftlicher Legitimität eigentlich in so unterschiedlichen Ländern so stark spürbar? Man sieht sie sowohl in Ländern mit jahrzehntelanger wirtschaftlicher Stagnation – wie Italien oder großen Teilen Europas – als auch in Ländern, die in den letzten 30 Jahren ziemlich robust gewachsen sind, wie die USA. Sie betrifft sowohl entwickelte Volkswirtschaften wie Westeuropa und Nordamerika, als auch Länder wie Indien oder China, die immer noch aufholen und das Leben ihrer Bürger massiv verändern. Selbst innerhalb eines Landes: In Indien ist das BIP pro Kopf weiterhin relativ niedrig. In China ist es zuletzt stark gestiegen, aber gleichzeitig hat man dort ein massives Problem mit Jugendarbeitslosigkeit. Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft also extrem unterschiedlich – und trotzdem schafft es niemand, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu formulieren, der zu diesen jeweiligen Realitäten passt. Warum?
Mehta: Das ist eine sehr gute Frage. Vorab vielleicht ein allgemeiner Punkt zur Wirtschaft: Eine der großen politischen Herausforderungen unserer Zeit ist die Frage, wie wir eigentlich den Zustand der Wirtschaft darstellen. Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist, dass es eine ziemliche Lücke gibt zwischen der technischen Beschreibung der Wirtschaft – also den klassischen Kennzahlen – und dem, wie sich das Ganze für verschiedene Bevölkerungsgruppen tatsächlich anfühlt. Bei der letzten Wahl zum Beispiel sah das BIP ganz ordentlich aus. Die Inflation war nicht dramatisch. Auch die Arbeitslosenzahlen waren im historischen Vergleich in vielen Demokratien gar nicht so schlecht – jedenfalls besser als in den 1970ern. Aber diese statistisch „gute“ Lage passt nicht zu dem Gefühl, das viele Menschen haben. Es gibt eine Diskrepanz zwischen den sozialen und wissenschaftlichen Aggregaten, mit denen wir Wirtschaft darstellen, und dem gelebten Alltag in einzelnen Bevölkerungsgruppen. Die politische Klasse hat zunehmend Schwierigkeiten, daraus eine konsistente Erzählung zu machen. Und das führt uns direkt zu einem weiteren Widerspruch. Nehmen wir zum Beispiel die Kritik am Neoliberalismus im Westen. Viele dieser Kritikpunkte sind absolut berechtigt – etwa, was neoliberale Politik mit den Kapazitäten des Staates gemacht hat oder wie sie den gemeinsamen wirtschaftlichen Diskurs ausgehöhlt hat, besonders in hochentwickelten Ländern. Und trotzdem kommt man nicht daran vorbei: Die Zeit von 1989 bis 2009 – also die Hochzeit des Neoliberalismus – war eine der erstaunlichsten Phasen der Weltgeschichte, was den Rückgang globaler Armut angeht. Es war auch eine Phase, in der viele Staaten im globalen Süden – darunter Indien und China – enorme staatliche Kapazitäten aufgebaut haben. Wenn man heute die neoliberale Kritik im Westen liest, hat man manchmal das Gefühl, als gäbe es dafür überhaupt keinen globalen Kontext.
Mounk: Was mich rückblickend besonders überrascht hat – wenn ich auf die politischen Veränderungen in meinem eigenen Leben schaue – ist, wie sich die Kritik an der WTO verändert hat. Als ich Student war, war die WTO extrem umstritten. Ich habe kurz nach den berühmten Protesten in Seattle angefangen zu studieren. Damals lautete das Argument: Die WTO werde die reichen Länder noch reicher machen und Länder wie China in ewiger Armut festhalten. Heute klingt die Kritik ganz anders. Jetzt heißt es: Der WTO-Beitritt Chinas habe Jobs bei Stahlarbeitern in Michigan vernichtet – also bei Leuten, die nach globalen Maßstäben ziemlich wohlhabend sind – und habe den Reichtum und die Industrie nach China verlagert, das damals ja eigentlich noch als Opfer der Globalisierung dargestellt wurde.
Mehta: Genau. Es ist heute eher der globale Süden, der das liberale internationale System aufrechterhält – weil er enorm davon profitiert hat. Aber ich glaube, was da eigentlich zum Vorschein kommt – und das steckt auch schon in deiner Frage – ist ein fundamentaler Widerspruch: Wenn der Maßstab für politische Legitimität der Nationalstaat ist, und diese Legitimität davon abhängt, wie Macht, Güter und Ressourcen im Inneren verteilt sind, dann steht dieses System zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis zur Idee globaler Umverteilung.
Vizepräsident JD Vance war da eigentlich ziemlich offen: Das Problem, sagt er, ist nicht, dass China sich nicht liberalisiert hat – das Problem ist, dass China reich wird. Das ist sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch eine echte Herausforderung. Gleichzeitig macht das aber auch deutlich, dass es einen grundlegenden Widerspruch gibt zwischen den Interessen der Arbeiter im globalen Süden und denen im globalen Norden. In einem Land wie Indien, das eigentlich ein stark anti-imperiales Selbstverständnis hat, ist es schon bemerkenswert, dass die Linke im globalen Norden bei diesem Thema mit mehr Misstrauen betrachtet wird als die Rechte. Wenn politische Legitimität ausschließlich im Inland verankert ist, stellt sich schnell die Frage: Wer sind im eigenen Land eigentlich die Gewinner – und wer die Verlierer? Und die politische Frage ist dann: Was genau in den politischen Mechanismen liberaler Demokratien verhindert eigentlich, dass diese Staaten entweder die Verlierer der Globalisierung entschädigen – oder sie wenigstens darauf vorbereiten?
Da gibt es zwei Sichtweisen. Die eine sagt: Globalisierung ist das Problem. Sie setzt Staaten so stark unter Druck, dass sie keine richtige Handlungsmacht mehr haben, um eigene Sozialpolitik zu machen und die Balance zu halten. Diese Sicht geht sogar noch weiter: In der Politikwissenschaft gibt es die These, dass die Identitätspolitik auch deshalb so stark geworden ist, weil es im ökonomischen Bereich weniger Spielraum für echte politische Auseinandersetzung gibt. Wenn du trotzdem politische Mehrheiten aufbauen willst, musst du auf andere Felder ausweichen – und wenn das Identität ist, wird es automatisch viel weniger verhandelbar. Das ist eine Theorie: Globalisierung als harte äußere Grenze.
Die andere Theorie ist keine Globalisierungs-, sondern eher eine Inlands-Erklärungs-Story. Sie sagt: Diese angeblichen Zwänge durch Globalisierung wurden von den Eliten auch genutzt, um notwendige Reformen im Inland zu vermeiden. Ein klares Beispiel ist das Bildungssystem in den USA. Bildungsungleichheit ist dort seit Langem ein riesiges Thema – unter anderem, weil Bildung über lokale Steuern finanziert wird. Das führt zu extremen Unterschieden und untergräbt eigentlich genau das, was Bildung leisten soll: Chancengleichheit. Da stellt sich schon die Frage: Hat die Globalisierung wirklich verhindert, dass man ein besseres Bildungssystem aufbaut? Ähnlich ist es beim Gesundheitswesen oder dem Wohnungsmarkt – zwei der größten Quellen für politische Frustration in Ländern wie Großbritannien oder den USA. Auch hier ist nicht klar, ob Globalisierung wirklich die Bremse war – oder ob der Verweis auf Globalisierung eher dazu dient, sich vor innenpolitischen Entscheidungen zu drücken.
Manche würden das als Klientelpolitik oder Vetternwirtschaft bezeichnen, andere – etwas wohlwollender – als falsches Verständnis davon, wie der Staat bestimmte Bereiche regulieren sollte. Nimm etwa die Reform des US-Gesundheitswesens: Die hat mit Globalisierung im Grunde gar nichts zu tun. Was wir politisch gerade erleben, ist ein Wettstreit zwischen zwei Erzählungen: Die eine schiebt der Globalisierung die Schuld für alles zu, die andere sieht die Ursachen für Ungleichheit und Dysfunktion in nationalen politischen Entscheidungen. Und irgendwie benutzen beide Seiten das jeweils andere Argument, um sich nicht mit der Ebene zu beschäftigen, auf der man tatsächlich etwas verändern könnte.
Mounk: Ich glaube, bei Themen wie Gesundheit und Wohnen handelt es sich vielleicht auch einfach um Probleme, die in einer bestimmten Phase der wirtschaftlichen Entwicklung zwangsläufig auftauchen – völlig unabhängig von der Globalisierung. Das sind Probleme wohlhabender Gesellschaften, gerade weil sie wohlhabend sind. Weil Menschen länger leben, steigen die Gesundheitskosten. Weil wir ein reiches Land sind, ist Arbeit teurer als Ressourcen. Gesundheitskosten steigen also, weil das ein arbeitsintensiver Bereich ist – genauso wie Bildung, Kinderbetreuung und andere Dienstleistungen. Man kann durchaus sagen, dass wir es nicht geschafft haben, damit vernünftig umzugehen. Das US-Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht ziemlich kaputt. Aber das Grundproblem ist schlicht: Amerika ist heute viel reicher als vor 50 Jahren. Das Gleiche gilt für Großbritannien und andere Länder.
Und beim Wohnen ist es ähnlich. Ein Grund, warum Wohnen teuer ist: Viele Leute konkurrieren um gute Wohnungen, weil sie mehr Geld haben. Der andere Grund ist: Je wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto schwerer fällt ihr das Bauen. Weil Gruppen, die ihre Immobilienwerte schützen wollen, politisch mehr Einfluss haben – und versuchen, durch Bauvorschriften und andere Regeln zu verhindern, dass neue Menschen in ihre Viertel ziehen. Der Handel mit China ist ganz sicher nicht der Grund, warum es in Kalifornien oder Neuengland schwer ist, neue Wohnungen zu bauen.
Mehta: Klar – und um da noch einen Punkt draufzusetzen, der eigentlich ganz offensichtlich ist: Alle Umfragen zeigen, dass es in entwickelten Demokratien große Sorgen rund ums Thema Migration gibt. Diese Sorgen existieren auf mehreren Ebenen. Wenn man das differenziert diskutieren würde, müsste man das alles auseinandernehmen. Aber auf einer ganz grundsätzlichen Ebene gilt: Jeder Staat hat das Recht zu regeln, wer dazugehört. Das kann man schwer bestreiten. Ob man das nun gut findet oder nicht – der Nationalstaat, mit seiner klaren Grenze, ist nach wie vor die Grundlage politischer Legitimität in der Welt. Das ist nun mal die politische Form, die wir haben. Und ja, es gibt Sorgen wegen illegaler Einwanderung.
Dann gibt es aber auch ein zweites, komplexeres Thema: die kulturelle Integration von Migranten. Und hier kommen wir an einen echten Grundkonflikt. Kann eine globalisierte Welt überhaupt bestehen, wenn unsere Vorstellung vom Nationalstaat auf einer festen, geschlossenen Mitgliedschaft beruht – und wir nicht bereit sind, die nationale Identität offener und inklusiver zu denken? Manche Sorgen rund um Migration sind berechtigt. Und ich glaube, wir Liberalen – Leute wie du und ich – gehen oft zu lässig mit den Verteilungseffekten von Migration um. Wer trägt die Kosten? Gerade in Ländern, in denen sich viele Bürger ohnehin schon übersehen oder abgehängt fühlen, kann die Ankunft neuer Migranten das Gefühl verstärken, übergangen zu werden. Das schafft dann ein echtes politisches Problem – und ein wirtschaftliches noch dazu.
Im Kern steckt hier ein tieferer Widerspruch: Unsere politische Legitimität beruht auf abgegrenzten, historisch gewachsenen Identitäten – aber unser Wirtschaftssystem funktioniert immer stärker über Mobilität: von Gütern, Kapital und Menschen. Irgendwann musste diese Asymmetrie zu Spannungen führen. Vor zehn Jahren gab es ein starkes Argument: Der beste Weg, globale Armut zu bekämpfen, sei, mehr Migration von geringqualifizierten Arbeitskräften zuzulassen. Das Argument ist im Kern immer noch stichhaltig – aber seine Grenzen werden deutlich, sobald man versucht, es im starren Rahmen heutiger Nationalstaaten umzusetzen.
Mounk: Sehr spannend. Wir haben jetzt viel über die Wirtschaft gesprochen. Was ist mit den anderen Bereichen, in denen Liberalismus und liberale Demokratie eingebettet sind? Warum tragen sie zur aktuellen Legitimitätskrise bei?
Mehta: Zwei Dinge. Erstens die Wirtschaft. Zweitens – nennen wir es mal das „Nationalstaaten-Komplex“ – da haben wir ja schon ein paar Aspekte gestreift. Innerhalb dieses Feldes gibt es zwei fundamentale Probleme, an denen sich der Liberalismus historisch schwergetan hat – und aus denen oft auch seine autoritärsten Seiten hervorgegangen sind. Das erste ist die Frage der Zugehörigkeit. Liberale Demokratien haben sich immer schwer damit getan, klar zu definieren, wer als vollwertiges Mitglied der politischen Gemeinschaft gilt. Man könnte zum Beispiel sagen, dass die USA bis in die 1960er-Jahre gar keine echte Demokratie waren – einfach, weil dieses Problem nie wirklich gelöst wurde. Es gibt dafür keine theoretisch einfache Antwort. Die meisten Gesellschaften haben sich irgendwie pragmatisch und stückweise an Lösungen herangetastet. Das zweite Problem hängt eng damit zusammen: Moderne Nationalstaaten brauchen eine gemeinsame Geschichte – ein kollektives Narrativ, das erklärt, warum sie ein „Schicksalsverband“ sind. Nationalismus ist in diesem Sinn die stärkste und umfassendste Form von Identitätspolitik. Er verankert kollektive Identität in Geschichte, Mythos und Erinnerung. Und genau an dieser Stelle zeigt der Liberalismus oft seine autoritären Züge – weil Nationalismus jede andere moralische oder politische Überlegung überlagern kann. Im Namen der Nation lassen sich individuelle Rechte einschränken, abweichende Meinungen als unpatriotisch abtun und historische Forschung durch Dogmen ersetzen. Deshalb geht es beim autoritären Nationalismus oft um den Kampf um Wissen und kollektives Gedächtnis – egal ob beim „1619 Project“ oder der „1776 Commission“. Es geht nicht nur um historische Fakten, sondern darum, welche Identität man formen will. Wenn diese nationale Identität als kollektiv und grundlegend verstanden wird, dann setzt das automatisch Grenzen für kritisches Denken. Du kannst Identitätspolitik haben – oder du kannst Vernunft haben. Aber beides voll gleichzeitig geht nicht. Und genau an diesem Punkt stehen liberale Gesellschaften gerade: Sie sollen sich entscheiden. Der dritte Konflikt baut auf dieser Identitätsfrage auf und trifft ins Herz der Moderne. Wie du ja auch mit Francis Fukuyama besprochen hast: Eines der romantischsten Versprechen des Liberalismus ist die Freiheit zur Selbstdefinition – die Idee, dass niemand mir meine Identität aufzwingen kann, dass ich selbst entscheiden darf, wer ich bin. Das ist ein zutiefst befreiender Impuls – eine Absage an alles Essenzialistische oder Vererbte. Aber er prallt auf einen anderen modernen Impuls: die Idee objektiver Identität – dass es gewisse stabile, faktische Aspekte gibt, die definieren, wer wir sind. Diese Spannung sieht man heute ganz deutlich in den Debatten über Geschlecht und Sexualität. Auf der einen Seite steht die radikale Vorstellung von Identität als etwas komplett Selbstgewähltem. Auf der anderen Seite die Überzeugung, dass bestimmte Merkmale biologisch oder gesellschaftlich festgelegt sind. Wenn man beide Positionen in ihrer besten Form ernst nimmt – und nicht als politische Karikaturen –, dann steckt da ein echter philosophischer Widerspruch drin. Radikale Selbstdefinition kann verunsichern, weil sie tief verankerte Normen und Institutionen infrage stellt. Es ist kein Zufall, dass gerade Fragen rund um Geschlecht und Sexualität – obwohl wirtschaftlich oft irrelevant – heute Schauplatz der heftigsten psychologischen und politischen Kämpfe um Identität sind. Was wir gerade erleben, ist ein Moment, in dem der utopischste Impuls des Liberalismus – die Freiheit selbst – für manche zu viel wird. Und einige fangen an zu sagen: Wir wollen vielleicht gar nicht so viel Freiheit, wenn das bedeutet, dass wir alle kollektiven Sicherheiten und Identitäten aufgeben müssen.
Mounk: Das ist wirklich interessant – und ich glaube, da fügt sich einiges zusammen. Ich erinnere mich an die 1990er-Jahre, als die großen Internet-Enthusiasten behauptet haben: Diese neue Technologie wird es viel einfacher machen, mit Menschen in Kontakt zu treten, die geografisch weit weg sind – mit denen man bisher kaum kommunizieren konnte. Die Hoffnung war: Das wird eine Ära der Toleranz und des Austauschs einleiten, in der sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Identitäten näherkommen. Rückblickend ist eines der größten Aha-Erlebnisse der letzten 30 Jahre aber wohl, dass genau das Gegenteil eingetreten ist. Wenn du mit jedem Menschen auf der Welt kommunizieren kannst – wenn du auf Social Media ständig auf Selbstbeschreibungen und Identitätsansprüche aus aller Welt triffst – dann willst du eigentlich nur noch eines: dich mit Leuten umgeben, die dir möglichst ähnlich sind. Und das liegt vielleicht an den sozialen Verwerfungen der Globalisierung – vielleicht aber auch einfach an den neuen Kommunikationsformen selbst, an sozialen Medien und Co.
Das ist der Hintergrund der heutigen Debatte über Liberalismus und Selbstbestimmung. Ein Teil davon ist inspiriert von der Kritik der Frankfurter Schule an der Aufklärung – der Idee, dass der Liberalismus vielleicht an seinen eigenen Voraussetzungen scheitert. Das ist mittlerweile fast schon eine konservative Kritik, die manche äußern. In Gesellschaften, in denen es früher sehr starke soziale Normen gab – klare Erwartungen, wie man leben soll, wie man sich zu verhalten hat, starke Geschlechternormen und andere Regeln – war der emanzipatorische Impuls des Liberalismus extrem spürbar. Man musste wirklich befreit werden von diesen starren Vorgaben. Heute haben viele Menschen das Gefühl, dass diese alten Normen längst zurückgedrängt sind – dass sie kaum noch eine Rolle spielen. Und plötzlich wirkt der Ruf nach weiterer Befreiung gar nicht mehr wie ein Fortschritt, sondern eher wie eine Übertreibung. Leute, die weiter auf Befreiung pochen, verkennen dann vielleicht, was das eigentliche Problem unserer Zeit ist. Sie fördern nicht mehr Freiheit – sondern bloß Beliebigkeit, um es mal in einer alten Unterscheidung auszudrücken: Sie verwechseln Freiheit mit Zügellosigkeit.
Ein zweiter Ansatz, um diesen Moment zu verstehen, wäre zu sagen: Was hier passiert ist, ist eigentlich ein Missverständnis darüber, was Liberalismus überhaupt ist. Vielleicht auch, weil Liberale selbst das Bild geprägt haben, haben wir zu sehr betont, wie sehr Liberalismus auf Individualismus setzt, auf Selbstverwirklichung um jeden Preis. Demnach ist eine Spielart des Liberalismus, die Autonomie über alles stellt, einfach zu dominant geworden. Die Gegenbewegung wäre: zurück zu einem Liberalismus, der versteht, dass die Grundfreiheiten, die diese Tradition verteidigt, gerade deshalb wichtig sind, weil sie anerkennt, wie zentral soziale Verbundenheit für uns ist. Warum ist Religionsfreiheit so grundlegend im Liberalismus? Warum ist Versammlungsfreiheit so zentral? Weil wir wissen, dass Menschen Teil religiöser Gemeinschaften sind, die ihnen viel bedeuten – und dass sie das Bedürfnis haben, sich mit Menschen zu versammeln, die ihnen etwas geben. Liberalismus war also nie einfach nur eine individualistische Ideologie, auch wenn diese Seite manchmal überbetont wurde. Was meinst du: Geht es in der Krise des Liberalismus darum, die Gewichtung innerhalb des liberalen Denkens neu zu setzen – und auf heutige Herausforderungen mit liberalen Mitteln zu antworten? Oder ist der Konflikt tiefer – etwa, dass der befreiende Impuls des Liberalismus immer von sozialen Normen und Traditionen mitgetragen wurde, die jetzt aber einfach nicht mehr tragen?
Mehta: Ich sehe das ein bisschen anders. Alles, was du sagst, sind valide Punkte. Aber was mir Sorgen macht – und das weißt du –, ist, dass diese Debatte über den Liberalismus schon seit dem 19. Jahrhundert geführt wird. Auch in den letzten 30 Jahren gab es immer wieder die gleichen Kritikpunkte und die gleichen Antworten: dass der Liberalismus natürlich eine Idee von Gemeinschaft hat; dass er durchaus ein Bild vom Guten kennt. Man könnte das alles philosophisch durchdeklinieren. Aber ich glaube, das, was jetzt gerade passiert, ist doch etwas anderes. Und du hast es eigentlich gut beschrieben. Du hast völlig recht: Der Liberalismus hat uns von bestimmten sozialen Zwängen befreit. Aber die Voraussetzung dafür war, dass diese äußeren Zwänge durch eine Form von innerer Selbstdisziplin ersetzt würden. Liberalismus ist im Kern ein Akt des tiefen Vertrauens in andere Menschen. Einer der Gründe, warum mich illiberales Verhalten so traurig macht – etwa Zensur oder Eingriffe in die Autonomie –, ist, dass dabei auch dieses Grundvertrauen zerstört wird. Dieses Vertrauen ging davon aus: Wir wollen keine äußeren Zwangsstrukturen, aber wir brauchen Individuen, die sich selbst so formen, dass sie verantwortlich handeln können. Das ist typisch für den Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Wenn Leute sagen, er sei „moderat“ gewesen, meinen sie nicht, dass seine Ideen lau waren. Sie meinen, dass er die Notwendigkeit eines bestimmten Menschentyps erkannt hat – jemand, der innere Zurückhaltung übt. Wenn wir sagen: „Respektiere andere“, dann ist das nicht nur ein theoretischer Satz. Das bedeutet auch, dass du lernst, dich im Umgang mit anderen selbst zu zügeln.
Ich glaube, worüber wir jetzt nachdenken müssen, ist nicht einfach eine Kritik an den Ideen, sondern die Frage, ob die institutionellen Formen, in denen wir heute leben, es schwerer machen, diese moralische Psychologie aufrechtzuerhalten. Man kann das auch ganz altmodisch formulieren: Menschen wurden schon immer vom Wunsch nach Anerkennung, nach Ruhm getrieben. Wenn du ein Informationssystem schaffst, das vom Profit regiert wird, wird es vermutlich genau diese dunkleren Seiten verstärken. Das ist kein Argument gegen den Liberalismus. Es ist die tiefere Frage: Woher kommt eigentlich das Urteilsvermögen und die Selbstbeherrschung, auf die der Liberalismus immer gesetzt hat? Ich kenne keinen liberalen Denker, der das nicht für zentral hielt. Gerade weil die alten äußeren Zwänge weg sind, braucht man diese innere Mäßigung umso mehr. Und die Frage ist: Woher soll sie heute kommen? Und macht unsere heutige Informationsstruktur es nicht sogar schwerer, sie zu entwickeln?
Ein kleines Beispiel: Die Trennung von Öffentlich und Privat war für den Liberalismus extrem wichtig. Nicht nur, weil der private Raum vor äußeren Eingriffen geschützt war. Sondern auch, weil man dort individuell sein konnte – und weil man dort Fehler machen durfte, ohne dass sie gleich riesige Konsequenzen hatten. Man konnte einem Freund mal etwas Unbedachtes sagen – und wurde vielleicht kritisiert –, aber das war kein Makel, der einen dauerhaft definierte. Heute, sobald etwas auf Social Media gesagt wird, wird es Teil der öffentlichen Identität – ob man will oder nicht. Und genau deshalb stellt sich die eigentliche Frage: Woher kommt heute die Urteilskraft und Selbstkontrolle, die der Liberalismus braucht, um zu funktionieren? Und ich glaube nicht, dass die Antwort darin liegt, zu alten äußeren Zwängen zurückzukehren. Das Schiff ist abgefahren – und das vielleicht aus gutem Grund.
Der zweite Punkt zum Liberalismus – und der ist vielleicht kontroverser – ist: Selbst die liberalsten Gesellschaften haben den Liberalismus nicht nur gelegentlich verraten. Sie hatten auch immer Tabus. Es gab bestimmte Themen, über die man auch in liberalen Gesellschaften nicht öffentlich gesprochen hat. In gewisser Weise leben wir heute in einer Phase der extremen Meinungsfreiheit. Sogar Zensur erzeugt oft mehr Aufmerksamkeit für eine Aussage, als sie unterdrückt. Sie wird oft genutzt, um kollektive Macht zu mobilisieren, nicht um zum Schweigen zu bringen. Aber was passiert heute in den Debatten über Zensur? Natürlich können wir über den First Amendment reden und darüber, dass Meinungsfreiheit ein absolutes Recht ist. Aber selbst in den liberalsten Gesellschaften gab es in der Vergangenheit Themen, über die man besser nicht sprach: über Rasse, über bestimmte Länder, über Kritik an der Nation. Der Unterschied heute ist: Es lässt sich kaum noch ein Sonderfall schaffen – ein oder zwei geschützte Tabus – ohne dass sofort andere Gruppen das Gleiche fordern.
Schau dir die aktuellen Debatten an. In multikulturellen Gesellschaften haben inzwischen alle Gruppen das Gefühl, sie seien Zielscheibe: Hindus sprechen von Hinduphobie, Muslime von Islamophobie, Juden von Antisemitismus. Der politische Wettbewerb dreht sich heute auch darum, genug Macht zu mobilisieren, damit die eigene Ausnahme anerkannt wird. Der Liberalismus konnte mit ein paar Tabus umgehen, solange es ein oder zwei dominante Gruppen gab. Aber jetzt ist es leicht, ihn der Heuchelei zu bezichtigen. Jeder kennt jemanden, der angeblich an die Meinungsfreiheit glaubt – aber dann doch bestimmte Inhalte nicht duldet. Und ich spreche hier nicht von klar verbotenen Inhalten wie Kinderpornografie, sondern von kritischen Äußerungen über bestimmte Gruppen. In gewisser Weise würde ich sagen: Gerade in einer multikulturellen Gesellschaft müsste der Liberalismus seine Prinzipien noch mehr ernst nehmen. Aber genau das fällt ihm immer schwerer – weil die Gewichtung von Gruppenidentitäten den Raum für diese Prinzipien einengt. Wenn jemand meine Gruppe angreift, bin ich beleidigt – und fordere eine Ausnahme. Aber wenn alle Ausnahmen wollen, funktioniert das System nicht mehr. Das Problem ist nicht der Liberalismus als philosophische Idee. Das Problem ist die Demokratisierung von Tabus.
Mounk: Das ist wirklich spannend – gerade in der Debatte um Meinungsfreiheit. In den letzten Jahren gab es ja so etwas wie asymmetrische Tabus. Und daraus entstand dann bei vielen Gruppen das Gefühl: Moment mal – wenn man X oder Y über diese oder jene Gruppe nicht sagen darf, warum sollte ich es dann hinnehmen, dass solche Dinge über meine Community gesagt werden? Und dann gibt es zwei Reaktionen: Entweder man kämpft dafür, dass die eigene Gruppe dieselben Ausnahmen und Schutzräume bekommt. Oder man geht in die andere Richtung und fordert robustere Standards für Meinungsfreiheit – auch bei Themen, die vielen weh tun werden. Ich finde, man kann gut nachvollziehen, warum es für jeden politischen Akteur – ob links oder rechts – so verlockend ist, von diesen Prinzipien abzuweichen. Was du vorher gesagt hast, fand ich ebenfalls sehr bemerkenswert: dass der Liberalismus auf der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit beruht – und dass gerade Technologie diese Trennung im Grunde unmöglich gemacht hat. Ich merke das besonders im Gespräch mit meinen Studierenden. Eine der prägenden Erfahrungen an der Uni für mich waren diese endlosen, wilden Debatten nachts um zwei im Studentenwohnheim. Es war nicht einfach nur Gequatsche – wir haben wirklich versucht, herauszufinden, was wir über die Welt denken. Und klar haben wir dabei bestimmt auch Blödsinn gesagt – sogar Dinge, die heute als anstößig gelten würden. Aber niemand kam auf die Idee, dass das am nächsten Tag in der Zeitung stehen könnte. Weil: Niemand interessierte sich für uns – und Social Media gab es noch nicht. Die Studierenden, mit denen ich heute spreche, sagen mir: Sie überlegen sich dreimal, was sie in der Mensa zu einem Freund sagen – oder im Seminar –, weil sie Angst haben, dass jemand daraus einen TikTok macht, sie öffentlich bloßstellt und sie aus ihrer sozialen Welt ausgrenzt. Und das ist natürlich verbunden mit dem Thema Meinungsfreiheit: Es geht hier nicht darum, für eine provokante politische Position zu kämpfen, sondern einfach darum, den eigenen Kopf zu entwickeln – geschützt vor dem digitalen Mob der eigenen Kollegen.
Mir ist klar, dass wir jetzt viel über Liberalismus gesprochen haben – aber was mir an deiner aktuellen Arbeit besonders auffällt, ist: So tief die Legitimitätskrise des Liberalismus auch ist, wir sehen parallel ähnliche Krisen bei ganz anderen ideologischen Modellen auf der Welt. Deshalb erstmal die Grundfrage: Was sind denn heute eigentlich die wichtigsten Alternativen zum Liberalismus oder zur liberalen Demokratie? Wie sollte man ihr Verhältnis zum Liberalismus verstehen?
Mehta: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Landschaft der Alternativen zu denken. Klassisch war das der Gegensatz Kapitalismus versus Kommunismus – also wirtschaftlich gedacht, mit politischen Ableitungen. In anderen Phasen war es Demokratie gegen Autoritarismus. Was ich spannend finde – und das ist jetzt eher ein heuristischer Zugang – ist, wie sich im 20. und 21. Jahrhundert verschiedene Legitimationsmodelle entwickelt haben. Also politische Denkrichtungen, mit denen Gesellschaften ihre eigene Ordnung begründet haben.
Ein klares Beispiel ist das Parteistaat-Modell, besonders in China. Das hat seinen Ursprung zwar im Marxismus – und wurde zuerst in Russland entwickelt – aber in China wurde daraus eine sehr eigenständige Form. Der chinesische Parteistaat hat eine ausformulierte politische Theorie: Was bedeutet es, eine Avantgarde-Partei zu sein? Wie vermittelt die Partei zwischen Gegenwart und Zukunft? Was ist ihre Form von Repräsentation? Und chinesische politische Denker beschäftigen sich seit Jahren mit der Frage, wie man die Partei repräsentativer machen könnte. Es gibt auch eine eigene Theorie politischer Handlung – zugegeben, mit zum Teil katastrophalen Folgen für Menschenleben –, aber es ist ein stabiles politisches Modell. Viele Debatten in China heute finden noch immer innerhalb dieses Rahmens statt.
Ein zweites Modell entstand in Ländern wie Iran und Pakistan – mit vielen internen Varianten. Es beruht auf dem tiefen Verständnis, dass politische Legitimität in der Moderne zwar vom Volk kommen muss – gleichzeitig aber auch unter der Souveränität Gottes stehen soll. Syed Abul A’la Maududi, einer der einflussreichsten islamischen politischen Denker des 20. Jahrhunderts, prägte dafür den Begriff „Theodemokratie“. Wenn man China als Parteidemokratie versteht, dann ist das hier eine Art Gottesdemokratie. Das war keine rein theoretische Idee – daraus sind reale Bewegungen und Verfassungsmodelle entstanden. In Pakistan und – noch stärker – im Iran wurde diese Vision institutionell verankert. So wie es Amerikanern schwerfällt, über Politik jenseits von 1776 nachzudenken, sind auch diese Länder tief in ihren jeweiligen Verfassungsrahmen verankert – mit allen Licht- und Schattenseiten.
Afrika ist ein komplexeres Bild – einfach wegen seiner enormen Vielfalt. Aber das politische Projekt vieler afrikanischer Staaten Mitte des 20. Jahrhunderts war stark davon geprägt, wie man verhindern kann, dass die „Farblinie“ – also die koloniale Rassentrennung – zum dominanten Ordnungsprinzip wird. Nicht nur global, sondern auch innerhalb der neuen Staaten. Wenn man allein diese drei Projekte nimmt – Lateinamerika ist nochmal ein Sonderfall, da stärker eingebunden in europäische und US-amerikanische Denktraditionen –, dann erkennt man, dass jedes dieser Modelle aus ganz grundlegenden Fragen entstanden ist. Und sie haben zwei Dinge gemeinsam: Erstens, sie bestimmen bis heute den Rahmen, innerhalb dessen die politische Auseinandersetzung im jeweiligen Land stattfindet. Zweitens, sie haben konkrete Regierungsformen hervorgebracht – im Guten wie im Schlechten.
Wir stehen gerade an einem interessanten Punkt. In mancher Hinsicht scheinen diese alternativen politischen Projekte – vielleicht sogar mehr als die liberale Demokratie – an einem Punkt innerer Erschöpfung angekommen zu sein. Sie stoßen auf konzeptionelle und strukturelle Probleme, die sich nicht lösen lassen, ohne zentrale Elemente ihrer ursprünglichen Vision aufzugeben. Der Parteistaat zum Beispiel kann kein revolutionäres Projekt mehr sein – man kann nicht zur Kulturrevolution zurück. Dieses Modell wurde erprobt und hat sich nicht bewährt. Wie also kann sich der Parteistaat neu erfinden, um als repräsentativ zu gelten? Auch der moderne islamische Konstitutionalismus ist weiterhin ungelöst. Der grundlegende Widerspruch zwischen religiöser Autorität und demokratischer Legitimität ist in der Praxis nie überzeugend überbrückt worden. Und es ist kein Zufall, dass viele dieser Gründungsregime heute repressiver auftreten als in den 20 bis 30 Jahren nach dem Kalten Krieg. Man sieht das sehr deutlich beim Wandel von Deng Xiaopings China zu Xi Jinpings China. Diese Systeme stützen sich zunehmend auf Nationalismus als Legitimationsideologie, verschärfen die Freund-Feind-Logik und nutzen Anti-Korruptionskampagnen zur Rechtfertigung autoritärer Machtkonsolidierung. All das sind Zeichen innerer Krisen innerhalb dieser Legitimationsmodelle. Das heißt nicht, dass diese Systeme morgen verschwinden oder plötzlich kollabieren. Eine der zentralen Lektionen der Geschichte ist, wie hartnäckig und pfadabhängig politische Systeme sein können. Theda Skocpol hatte recht: Revolutionen passieren nicht, solange Staaten nicht von oben zusammenbrechen. Und Staaten können sehr lange an ihren institutionellen Formen festhalten. Aber das Gefühl einer inneren Krise wird, so glaube ich, zunehmend spürbar.
Mounk: Das ist wirklich interessant – lass uns einige dieser Fälle genauer anschauen. Wenn man zum Beispiel an den postkolonialen Staatsaufbau in Afrika denkt, ist die innere Krise dort relativ leicht nachvollziehbar. Diese Länder haben es meist nicht geschafft, eine kohärente nationale Identität zu formen. Sie sind nach wie vor stark geprägt von Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppen. Sie haben wenig staatliche Kapazitäten aufgebaut und größtenteils keine wirtschaftliche Entwicklung angestoßen. Viele dieser Länder gehören weiterhin zu den ärmsten der Welt. Afrika ist leider immer noch der Kontinent mit den meisten innerstaatlichen Konflikten, Kriegen und Bürgerkriegen. Es ist also ziemlich offensichtlich, warum du sagst, dass dort eine Krise besteht.
Auch im Fall der Islamischen Republik Iran ist das relativ klar. Das wirkt mittlerweile fast wie manche kommunistischen Systeme in Osteuropa in den frühen 70er-Jahren. Das Regime könnte sich noch lange halten – oder morgen zusammenbrechen. Aber der eigentliche Glaube scheint verschwunden zu sein. Große Teile der Bevölkerung säkularisieren sich in beeindruckender Geschwindigkeit. Und selbst innerhalb des Regimes scheint Überzeugung oft durch materielles Eigeninteresse ersetzt worden zu sein – etwa durch die Vorteile, die man durch Mitgliedschaft in den Revolutionsgarden erlangt. Es scheint, als hielte heute eher Macht als Ideologie dieses System zusammen. Und wir werden sehen, wie lange das trägt.
Was ist mit China? Natürlich gibt es dort ernstzunehmende wirtschaftliche Herausforderungen – wie schon angesprochen: hohe Jugendarbeitslosigkeit, ein BIP pro Kopf, das weiterhin deutlich unter dem von Deutschland oder den USA liegt, und auch deutlich unter dem von Japan oder Südkorea. Aber China hat viele Probleme gelöst, an denen andere Gesellschaften gescheitert sind. Es hat ein sehr kohärentes nationales Selbstverständnis, gestützt auf eine große Han-Mehrheit, die das gesamte Territorium effektiv kontrollieren kann – etwas, woran viele historische Dynastien in China gescheitert sind, nicht nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der Republik, sondern auch in großen Phasen der Qing-Dynastie und davor. Und natürlich hatte China ein extrem schnelles Wirtschaftswachstum. All das reicht aus, um politische Entscheidungsträger in Washington D.C. sehr nervös zu machen – denn zum ersten Mal seit dem Fall der Sowjetunion, vielleicht sogar noch länger zurück, steht ihnen ein echter systemischer Rivale gegenüber. Man kann also durchaus skeptisch sein, aber auch gute Argumente für Optimismus finden. Warum sollten wir deiner Meinung nach dennoch davon ausgehen, dass dieses Modell an einem Punkt echter innerer Krise angekommen ist?
Mehta: Ich denke, man muss hier zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Zuerst sollte ich klarstellen – für deine Hörer ist das wahrscheinlich ohnehin offensichtlich – dass ich kein Experte für jede Einzelheit der chinesischen Politik bin. Aber worum es mir geht, ist Folgendes: Es gibt zwei Ebenen, die man betrachten muss. Auf der ersten Ebene steht außer Frage, dass das chinesische politische Experiment eines der erstaunlichsten der Menschheitsgeschichte ist. Was China in den letzten 30 bis 40 Jahren erreicht hat, ist in nahezu jeder Hinsicht beeindruckend. Betrachtet man etwa die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen – insbesondere gemessen an der Armutsreduktion –, war das enorm erfolgreich. China hat sich in vielerlei Hinsicht zu Recht einen Platz in der globalen Geopolitik erarbeitet, der vor einem halben Jahrhundert noch unvorstellbar gewesen wäre. Empirisch gesehen ist es ein äußerst erfolgreiches Modell.
Die spannendere Frage ist konzeptioneller Natur: Wie sieht eine Legitimitätskrise in diesem Kontext eigentlich aus? Zum Beispiel ist es durchaus denkbar, dass die Vereinigten Staaten wirtschaftlich stabil bleiben und auch ihre staatliche Form intakt bleibt – und trotzdem steckt der Liberalismus in einer tiefen Krise. Genau in diesem Sinne ziehe ich die Analogie. Zwei Dinge sind dabei zentral. Erstens: Wird sich die Machtbasis der Kommunistischen Partei Chinas künftig immer stärker auf Repression und Überwachung stützen? Wenn man 10 oder 15 Jahre zurückblickt – insbesondere in der Zeit nach Deng Xiaoping –, gab es in China eine Phase größerer Offenheit, auch intellektuell. Es herrschte mehr Selbstvertrauen, das eine breitere Verbreitung von Ideen ermöglichte. Aus heutiger Sicht scheint sich dieser Trend klar umgekehrt zu haben. Und das ist nicht nur in China so. Wenn man von demokratischem Rückschritt in liberalen Demokratien spricht, könnte man auch sagen, dass es eine Art Rückschritt in den liberaleren Elementen des chinesischen Parteistaatsmodells gegeben hat. Die Links-Rechts-Unterscheidung verlief in diesem Kontext innerhalb dieses Modells.
Wenn man also am Ausbau von Freiheit interessiert ist – nicht unbedingt im Sinne westlicher liberaler Demokratien, sondern als tiefes, grundsätzliches Vertrauen in individuelle Autonomie –, dann sieht es aktuell so aus, als würden wir uns von diesem Ideal entfernen. Der zweite Punkt betrifft die Grundlage der Legitimität der Partei. Historisch war da einmal das revolutionäre Erbe – und dieses hat tatsächlich geglaubt und mobilisiert. Das war nicht nur ein von oben verordnetes Kommandoprojekt – das hätte so gar nicht funktionieren können. Dazu kam eine instrumentelle Legitimität: Die Partei lieferte Ergebnisse, auch wenn das mit Überwachung und Repression einherging. Die Frage ist nun: Erodiert diese Form von Legitimität gerade? Könnte sie durch etwas anderes ersetzt werden? Man könnte zum Beispiel sagen, dass Donald Trumps Präsidentschaft für China ein Geschenk war, weil sie dem chinesischen Staat ermöglichte, sich nicht nur als Vorreiter für Chinas Zukunft zu präsentieren, sondern auch als Gegenmodell zum Westen. Mittlerweile gibt es weltweit ein überraschend großes Interesse an Chinas Erfolg – besonders unter denen, die vom amerikanischen Modell enttäuscht sind. Die Partei könnte sich also auf eine neue Form instrumenteller Legitimität stützen. Einer der interessanteren Aspekte chinesischer politischer Theorie ist die andauernde Beschäftigung mit der Repräsentativität der Partei. Chinesische Denker beschäftigen sich seit Langem mit dieser Frage. Ja, die Partei kann materielle Ergebnisse liefern – aber Legitimität bedeutet mehr. Es geht um den grundlegenden Anspruch, für das chinesische Volk zu sprechen. Selbst Mao, trotz der katastrophalen Folgen der Kulturrevolution und des Großen Sprungs nach vorn, war getrieben von der Idee, dass die Partei zu ihren revolutionären Wurzeln zurückkehren müsse – und eben nicht einfach zu einer abgehobenen Elite werden dürfe.
Es gibt auch eine faszinierende Debatte über „konfuzianische Demokratie“ in China. Auch wenn das in der Praxis nicht besonders konfuzianisch ist, stellt es doch relevante Fragen: Was würde die Partei wirklich repräsentativer machen? Denker wie Wang Hui haben das untersucht – und sie weisen zurecht darauf hin, dass es ähnliche Legitimitätskrisen auch im Westen gibt. Repräsentiert ein Zwei-Parteien-System wirklich das Volk – oder ist es bloß ein Mechanismus formaler Wahllegitimation? In China läuft eine vergleichbare Diskussion: Repräsentiert die aktuelle Parteiform das Volk wirklich noch? Besonders jetzt – mit der Betonung auf Führerprinzipien und der Aufweichung der Nachfolgeregeln unter Präsident Xi, die zuvor in Richtung Institutionalisierung und Offenheit gewiesen hatten. Die zunehmende Fokussierung auf persönliche Loyalität steht möglicherweise im grundlegenden Widerspruch zum eigenen Selbstverständnis der Partei als legitimes System. Und irgendwann könnte dieser Widerspruch unübersehbar werden.
Mounk: Das andere an China ist, dass es – ganz gleich, wie stark die innere Krise ist – keinen wirklichen Anspruch erhebt, ein Modell für andere Länder zu sein. Die Sowjetunion war ein universalistisches Regime, das davon überzeugt war, dass sie einen klaren Fahrplan dafür habe, wie andere Länder ihrem Beispiel folgen sollten. Ich denke, die chinesische politische Elite weiß ziemlich genau, dass ihr Modell historisch viel zu zufällig entstanden und kulturell zu spezifisch ist, um einfach exportiert zu werden. Es ist eine seltsame Mischung aus 3000 Jahren konfuzianischer Geschichte – mit einem System staatlicher Prüfungen, das einen in die obersten Reihen von Bürokratie, Gesellschaft und Wirtschaft katapultierte – und einer marxistisch-leninistischen Revolutionspartei, die sich über die Jahre in vielerlei Hinsicht zu einem eher klein-c-konservativen Gebilde entwickelt hat. Was ich besonders interessant fand in Gesprächen mit Leuten, die China gut kennen: Sie sehen Trump keineswegs so positiv, wie man vielleicht denken würde. Man könnte vermuten, sie schauen auf Trump und sagen, gut so, er demontiert die globale Führungsrolle der USA – aber tatsächlich macht ihnen das Ausmaß an Instabilität, das Trump für das globale System bedeutet, ziemlich große Sorgen. Ihre Tendenz ist, glaube ich, eher konservativ im kleinen Sinne.
Wenn man all diese Elemente zusammennimmt, bleibt völlig unklar, was es bedeuten würde, wenn politische Führer in Nigeria oder Simbabwe oder Indien sagen würden, wir wollen mehr wie China sein. Es gibt einfach keine Blaupause, die man umsetzen könnte. Selbst wenn das System funktioniert – oder eben nicht in eine innere Krise gerät –, ist es kaum vorstellbar, dass es außerhalb Ostasiens als Orientierung dienen kann. In der Zeit der Kulturrevolution war das ein bisschen anders. Damals war die Lage in China intern viel schlimmer als heute, aber es gab junge Menschen in Paris – wenn man etwa Jean-Luc Godards La Chinoise von 1968 anschaut –, die dachten, Mao zeige uns den Weg, was wir hier in Frankreich tun sollten. Das gibt es heute einfach nicht mehr in dieser Form. Und es gibt da noch ein großes Land, über das wir noch nicht gesprochen haben – was ironisch ist, weil du aus diesem Land kommst und es sehr gut kennst: Indien.
Ich würde sagen, vor 20 oder 30 Jahren hätte ich Indien in diesem Gespräch wahrscheinlich so eingeordnet: als Vorreiter, was den Aufbau von Demokratie – und in gewisser Weise auch liberaler Demokratie – in einem ärmeren Teil der Welt angeht. Also gewissermaßen als Speerspitze eines liberal-demokratischen Experiments. In vielerlei Hinsicht war es ja auch das Glanzstück dieses Experiments, denn als Indien Ende der 1940er Jahre unabhängig wurde, glaubten viele, dass dieses System dort gar nicht überleben könnte. Tatsächlich aber hat es sich als durch und durch demokratisch erwiesen und hat die Rechte religiöser Minderheiten viel stärker geachtet, als man das damals erwartet hätte. Heute ist allerdings etwas weniger klar, wie man Indien in dieses Gespräch einordnen sollte. Denn Narendra Modi versucht, das säkulare Selbstverständnis des Landes, wie es bei der Gründung bestand, in ein viel bewusster hinduistisches Selbstverständnis zu verwandeln – ein Land, das nicht nur kulturell und zahlenmäßig mehrheitlich hinduistisch ist, sondern Hinduismus auch in einem politischen Sinn versteht, also der Religion und womöglich auch der politischen Philosophie eine Art Vorrang einräumt. Wo steht Indien also? Sollte man Modi als jemanden sehen, der versucht, eine vierte Antwort auf die große Regierungsfrage zu formulieren? Entwickelt sich da gerade ein Modell, das zwar außerhalb der hinduistischen Welt kaum jemanden interessieren dürfte, aber dennoch ein echtes Gegenmodell zu anderen Regierungsformen darstellt? Oder ist das nur ein Beispiel für autoritären Populismus, wie wir ihn auch in den USA, in Westeuropa oder an anderen Orten sehen? Wird Indien irgendwann wieder zum liberalen Projekt zurückkehren? Wie ordnen wir Indien in diese Debatte ein?
Mehta: Das ist eine großartige Frage. Ein Weg, das Ganze vergleichend zu betrachten, ist, sich die zwei Stränge der Moderne anzuschauen, mit denen sich das indische Demokratieprojekt auseinandersetzen musste. Der erste Strang ist Indiens bemerkenswerte Geschichte als globales Demokratie-Experiment. Es ist ein außergewöhnlicher Fall institutioneller Improvisation – der Versuch, in einer extrem vielfältigen Gesellschaft demokratische Strukturen zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Indien hat eine liberale Verfassung angenommen, die erstaunlich zukunftsorientiert war. Im Kern sagte sie: Der politische Raum soll frei sein von der Last von Identität, Geschichte und Religion – nicht weil diese Dinge unwichtig wären, sondern weil Individuen sie auf ihre eigene Weise erkunden dürfen sollen. Das ist eine Vision von Moderne. Aber es gibt noch einen zweiten Strang, mit dem Indien größere Schwierigkeiten hatte, und der geht – wenn ich mich wiederholen darf – zurück auf die Frage des Nationalismus. In gewisser Weise hat Narendra Modi eine Debatte aufgegriffen, die auf dem Subkontinent seit 1857 geführt wird: Wie soll Macht zwischen Hindus und Muslimen geteilt werden? Die Teilung von 1947 war eine Antwort auf diese Frage – eine Art Kompromiss. Sie schlug vor: Die südasiatischen Muslime, die einen eigenen Staat wollten, bekommen Pakistan, einen modernisierten islamischen Staat, während Indien als säkulare Demokratie bestehen bleibt. Ich glaube, wir stehen jetzt an einem gefährlichen Punkt auf dem Subkontinent. Das Kernprojekt der BJP scheint darin zu bestehen, die Logik von 1947 zu vollenden – nicht den Kompromiss zu akzeptieren, der islamische Nachbarn und ein säkulares Indien, in dem übrigens mehr Muslime leben als in diesen Nachbarländern, zuließ. Das Modell, auf das sich die BJP stützt, ist nicht indigen – es stammt aus Europa, vor allem aus den 1920er und 30er Jahren, und basiert auf kulturellem Nationalismus. Einer ihrer intellektuellen Vordenker, Benoy Kumar Sarkar, war ein scharfer Beobachter des frühen Faschismus. Die Verbindung von Ethnie und Territorium steht im Zentrum der Vision der BJP. In dieser Hinsicht ist sie eine modernisierende Kraft – aber eine, die modernisiert, indem sie den Hinduismus selbst neu definiert. Dieses Projekt marginalisiert nicht nur Muslime, sondern formt auch den Hinduismus um. Es stellt den Hinduismus nicht mehr als ein vielfältiges Geflecht aus Sekten, Philosophien und spirituellen Traditionen dar, sondern als eine einheitliche ethnische Identität. Es ist der erste ernsthafte politische Versuch, den Hinduismus auf diese Weise zu vereinnahmen – das ist bislang niemandem gelungen. Und weil die Verbindung von Ethnie und Territorium fast zwangsläufig zu Gewalt führt, ist dieses Projekt für Südasien gefährlich. Das ist kein simpler Bruch mit dem liberalen Projekt. In Wahrheit gibt es aktuell keine brauchbare Alternative zur liberalen Demokratie in Indien. Selbst Modi sucht nach demokratischer Legitimität – er will, dass dieses Projekt populär ist. Aber die Diagnose dahinter lautet: Indien hat es versäumt, die Logik der Moderne zu vollenden, weil es nie ein richtiger Nationalstaat im ethnischen Sinn geworden ist. Modi spricht heute von Indien als einer „Zivilisationsnation“, aber was er wirklich meint, ist ein ethnischer Staat. Eine echte Zivilisationsnation, wie sie Jawaharlal Nehru vorschwebte, wäre ein Palimpsest – ein vielschichtiger Text mit Spuren all der Zivilisationen, die Indien geprägt haben. Die Generation von 1947 sah Indiens Identität als pluralistisch, geformt durch viele Kulturen. Ja, dieser Nationalismus stellt eine ernste Bedrohung für den Liberalismus dar. Aber es ist keine neuartige Bedrohung. Die Gründerväter Indiens versuchten, aus der europäischen Geschichte zu lernen – um nicht dieselben Fehler zu wiederholen, bei denen sich alles um das Verhältnis von Ethnie und Territorium drehte. Die BJP hingegen führt uns genau in dieses Projekt zurück.
Mounk: Das ist sehr interessant. Ich bin versucht, dich noch mehr zu Indien zu fragen, aber ich möchte den Geist ansprechen, der während dieses Gesprächs in meinem Kopf schwebte: unseren Freund und Kollegen Francis Fukuyama. Eine Möglichkeit, das, worüber wir gesprochen haben, zu betrachten, ist im Dialog mit seinem brillanten und oft missverstandenen Essay und Buch „Das Ende der Geschichte“. Ich frage mich, inwieweit wir uns in unserer Interpretation dessen, wo wir stehen, einig sind. Ich habe vor einigen Jahren einen Artikel geschrieben, in dem ich argumentierte, dass Fukuyama letztlich recht hatte, dass es im späten 20. und nun im 21. Jahrhundert keine lebendige ideologische Alternative zur liberalen Demokratie gibt. In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren Faschismus und Kommunismus echte Alternativen zur Demokratie, die die Loyalität von Millionen Menschen gewinnen konnten. Aber heute, wenn man sich umschaut, war meine Liste der Alternativen der liberalen Demokratie ziemlich ähnlich wie deine.
Aber ja, China ist, wie ich gerne scherze, ein Land, das in der Praxis ziemlich gut funktioniert, aber in der Theorie ein Chaos ist, was es sehr schwierig macht, dieses politische System außerhalb Chinas nachzuahmen. Es gibt eine globale Krise, in deinen Worten, der politischen Legitimation, weil diese Länder keinen allgemeinen Ton der Demokratie vorgeben. Nun, der eine Punkt, bei dem Frank vielleicht zu optimistisch war, war die Fähigkeit der liberalen Demokratie selbst, eine interne Legitimitätskrise zu vermeiden. Und so ist die Art und Weise, wie wir uns in einer auffallend anderen Situation befinden, als wir es vor 30 oder 40 Jahren vielleicht erwartet hätten, nicht, dass ein großer offensichtlicher Konkurrent des Liberalismus entstanden ist. Es ist, dass der Liberalismus selbst sich als viel intern geschwächter, gespaltener und umkämpfter erwiesen hat, als wir es damals erwartet hätten. Inwieweit denkst du, dass das das ist, was du gesagt hast, und inwieweit würdest du Meinungsverschiedenheiten mit dieser These hervorheben?
Mehta: Ich stimme dir da eigentlich zu. Ich glaube, Fukuyamas Werk wurde oft missverstanden. Philosophisch gesprochen müssen selbst die schärfsten Kritiker des Liberalismus gewisse Grundwerte akzeptieren – allen voran irgendeine Form von demokratischer Legitimation. Jede moderne Republik ist letztlich eine „Volksrepublik“. Man kann streiten, wie performativ dieser Begriff ist, aber er ist nicht bedeutungslos. Er zeigt: Keine Autorität kann Legitimität beanspruchen, ohne sich in irgendeiner Weise auf das Volk zu berufen. Und damit einher geht zumindest ein nominelles Bekenntnis zur politischen Gleichheit. Dafür gibt es letztlich keinen Ersatz. Selbst politische Projekte, die den Liberalismus in Frage stellen, übernehmen seine Sprache – insbesondere die der Legitimität und Repräsentation. Sie nutzen sie für ihre eigenen Zwecke, aber sie werfen sie nicht über Bord.
Um meine Position klarzumachen: Ich denke, die größte Stärke des Liberalismus ist, dass er ein grundlegendes moralisches und politisches Bekenntnis zur Gleichheit mit einem ernstzunehmenden Maß an individueller Freiheit in Einklang bringen kann. Jede politische Philosophie, die beides leisten will, wird dem Liberalismus in irgendeiner Form ähneln. Wo ich vielleicht einen etwas anderen Akzent setzen würde, ist bei der demokratischen Dimension. Was ich meine: Gesellschaften müssen kollektiv handeln können. Eines der stärksten Versprechen der Demokratie – ihr romantischer Reiz – ist, dass sie kollektive Handlungsfähigkeit ermöglicht. Es geht nicht nur ums Wählen oder um Institutionen; es geht darum, dass Menschen gemeinsam handeln. Philosophisch gibt es große Überlappungen zwischen den konstitutiven Bedingungen von Liberalismus und Demokratie. Ich fand den Begriff „illiberale Demokratie“ immer etwas widersprüchlich. Vereinigungsfreiheit, Meinungsfreiheit – das sind Grundlagen beider Konzepte. Die Schnittmenge ist real.
Aber es gibt auch eine tiefere Erwartung der Bürger: Demokratie soll kollektives Handeln ermöglichen. Sie soll ein Vehikel sein, mit dem das Volk die Welt mitgestaltet. Und genau da setzen populistische Autoritäre wie Trump, Modi, Orbán an. Sie behaupten, dass genau die Institutionen und Werte, die laut Liberalen Handlungsfähigkeit schützen – Gewaltenteilung, Machtstreuung, Individualrechte – inzwischen zum Hindernis geworden sind. Daher hören wir so viel von einer „Krise der Demokratie“. Aus populistischer Sicht begann diese Krise vor 20 Jahren. Die liberale Demokratie, so das Argument, wurde zu verfahrenstechnisch, zu eingeschränkt. Sie erfüllt das Versprechen kollektiver Handlungsfähigkeit nicht mehr. Was nützt Demokratie, wenn sie nichts verändert? Und in gewisser Weise haben sie recht mit dieser Diagnose. Selbst der Nationalismus, wenn er als demokratische Kraft verstanden wird, spricht dieses Bedürfnis nach Handlungsmacht an. Durch die Identifikation mit der Nation spüren viele eine Erweiterung ihrer eigenen Handlungsmacht. Ich glaube, wir haben diese Sehnsucht unterschätzt. Wir dachten, wir hätten Institutionen gebaut, die kollektives Handeln ermöglichen und gleichzeitig liberale Werte bewahren. Diese Annahmen wirken heute etwas naiv.
Mounk: Das überzeugt mich sehr. Eine einfache Art, die Spannung zwischen Demokratie und Liberalismus zu beschreiben – unabhängig davon, ob wir glauben, dass die liberale Demokratie als Idee in sich stimmig ist oder nicht – ist zu sagen: Wenn das unsere zwei zentralen Werte sind, also dass die Präferenzen der Mehrheit sich in Politik und Gesetzen widerspiegeln sollen, und zugleich die grundlegenden liberalen Rechte des Einzelnen geschützt bleiben sollen, dann müssen wir es immer wieder schaffen, dass sich eine Mehrheit findet, die genau diese Freiheiten respektiert – auch dann, wenn das bedeutet, unpopuläre Dinge zuzulassen wie z. B. dass jemand einen anderen Gott anbetet als die Mehrheit. Was in den letzten Jahrzehnten passiert ist, scheint eine Erosion der Fähigkeit dieser moderaten Politiker und Bewegungen gewesen zu sein, Wähler von dieser Balance zu überzeugen. Ein Teil des Problems ist, dass viele Wähler sagen würden: Ihr habt doch zuerst mit dem Gesellschaftsvertrag gebrochen – weil ihr unsere Präferenzen nicht in Politik übersetzt habt. Da sind wir wieder bei dem Thema, das du vorhin als zentral genannt hast: Migration. Seit Jahrzehnten sagen viele Bürger – teils in den USA, noch klarer in Westeuropa –, dass sie weniger Migration und mehr Kontrolle über ihre Grenzen wollen. Und sie hatten das Gefühl, dass die politischen Eliten diesen Wunsch systematisch ignorieren. Das erklärt, warum viele jetzt bereit sind, Politiker zu wählen, die sagen: Wir setzen das endlich um – und das andere ist uns erstmal egal, weil dieser Vertrauensbruch so tief sitzt.
Mehta: Ich würde drei Dinge ergänzen – nennen wir sie die drei Elefanten im Raum. Erstens gibt es in der amerikanischen Demokratie ein wiederkehrendes Muster: große Vertrauenskrisen entstehen oft im Schatten von Kriegen. Der Vietnamkrieg hat in den frühen 70ern eine massive Legitimitätskrise ausgelöst. Ähnlich hat der Irakkrieg dem liberalen Establishment die Glaubwürdigkeit entzogen, sich als Vertreter wahrheitsbasierter Institutionen zu präsentieren. Und aktuell sorgt der Gaza-Krieg für einen extrem polarisierenden Moment – ganz unabhängig davon, wie man inhaltlich zu Israel oder Palästina steht. Viele haben das Gefühl, verraten worden zu sein. Solche Kriege spalten nicht nur – sie untergraben die moralische Autorität von Eliten und Institutionen. Und doch sprechen die US-Parteien selten offen über diese Dynamik. Zweitens – du hast es angedeutet – gibt es eine diffuse, aber tief sitzende Zukunftsangst. Es geht nicht nur um Migration oder ökonomische Unsicherheit – selbst Umweltpolitik ruft inzwischen Widerstände hervor. Sei es technologischer Wandel, ökologische Instabilität oder die Unsicherheit der globalen Ordnung: Wir leben in einer Zeit, in der niemand mehr so recht weiß, wohin es geht. Und das macht uns verletzlich – es erzeugt Sehnsucht nach Klarheit, nach Kontrolle. In diesem Klima werden populistische Erzählungen, die Ordnung und Kontrolle versprechen, enorm attraktiv. Es geht nicht nur um Technik, sondern um Existenz. Wenn es keinen gemeinsamen Zukunftsentwurf gibt, zerfallen wir in Kulturkämpfe und Identitätskonflikte. Selbst die liberale Demokratie, so wie sie Fukuyama einmal beschrieben hat, braucht einen utopischen Funken, um sich zu tragen.
Drittens – und vielleicht am offensichtlichsten – ist da das strukturelle Problem des Kapitalismus. Ich sehe keine echte Alternative zu Märkten – sie sind nach wie vor unschlagbar, wenn es um Produktion und Informationsverarbeitung geht. Aber die aktuelle regulative Ausprägung des Kapitalismus hat die Politik tief verzerrt. Der implizite liberale Deal war: Du darfst reich werden, solange du anderen nicht ihre politische Stimme nimmst. Der Liberalismus beruhte auf einer Trennung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Diese Trennung ist zusammengebrochen. In Modis Indien, in Trumps Amerika, erleben wir, wie dieser Gesellschaftsvertrag zerfällt. Und wir stehen wieder vor der alten, ungelösten Frage: Kann man diesen Grad an Vermögenskonzentration beibehalten, ohne das Vertrauen in die Demokratie komplett zu verlieren?
Mounk: Ja, das ist eine riesige offene Frage. Wie werden wir in 10, 20 oder 50 Jahren über diese globale Legitimitätskrise denken? Vielleicht ist die globale Krise der Legitimität der Normalzustand menschlicher Herrschaftsformen. Ich kenne die europäische Geschichte ziemlich gut, und in letzter Zeit habe ich viel chinesische Geschichte gelesen. Und wenn man ehrlich ist: Die meiste Zeit über hatten die meisten Staaten eine Legitimitätskrise – außer in seltenen Ausnahmen, wenn es gerade wirtschaftlich gut lief, man einen Krieg gewonnen hatte oder ein neuer König mit hohen Erwartungen an die Macht kam. Aber in der Regel – ob Deutschland im Jahr 1570 oder China 1890 – war man in einer Art Legitimitätskrise. Müssen wir das goldene Zeitalter der liberalen Demokratie nach dem Krieg – mit seinem wirtschaftlichen Deal zwischen Kapital und Arbeit – und dann die US-geprägte Ordnung nach dem Kalten Krieg als Ausnahme betrachten? Und kehren wir gerade zum historischen Normalzustand zurück? Oder gibt es Hoffnung, dass eine erneuerte Variante des Liberalismus – oder eine andere Regierungsform – diese Krise dauerhaft überwinden kann?
Mehta: Zwei Gedanken dazu. Erstens: Ich glaube, ein optimistischer Punkt am Menschsein ist unsere Reflexivität – also die Fähigkeit, aus der Wahrnehmung einer Krise heraus neue politische Wege zu entwickeln. Vielleicht brauchten wir diesen Schock. Und es ist sicher nicht zu spät. Ich sehe das nicht als automatische Abwärtsspirale. Und wie du weißt: Politik ist nie vorherbestimmt. Wir würden dieses Gespräch nicht führen, wenn wir nicht an Politik glauben würden. Ein Problem der Politikwissenschaft ist ja, dass sie kontingente Variablen nicht gut erfassen kann – also nehmen wir sie oft nicht ernst genug.
Was mir aber Sorgen macht, sind zwei Dinge. Klar, historisch gesehen war Legitimitätskrise oft der Normalzustand. Aber bis ins 18. Jahrhundert hinein gab es auch kaum Erwartungen an Fortschritt. Der Fußabdruck von Staaten – auf dem Planeten, aufeinander – war begrenzt. Heute erleben wir diese Krisen gleichzeitig mit anderen großen Herausforderungen. Ich glaube zum Beispiel, dass der Klimawandel ein echtes Thema ist. Er verschwindet immer mehr aus der öffentlichen Debatte, aber die Vorstellung, dass wir unseren Planeten unbewohnbar machen könnten, ist real. Außerdem gibt es diese technologische Revolution, deren Auswirkungen wir noch gar nicht verstehen. Und was dieses Moment so gefährlich macht, ist die Rückkehr zu geopolitischem Wettstreit. Das Schönste an der „Ende der Geschichte“-Erzählung war doch die Idee, dass die Welt kein Nullsummenspiel mehr sein muss. Aber wenn geopolitischer Wettbewerb wieder zum Kampf um Vorherrschaft wird – während gleichzeitig die innere Legitimität von Staaten bröckelt – dann wird es richtig gefährlich. Wenn wir alle überzeugt wären von globaler Interdependenz, wenn die nuklearen Normen halten würden – dann könnten wir diese Legitimitätskrisen vielleicht gelassener nehmen. Aber in Verbindung mit diesem neuen Wettlauf um globale Vormacht – das wird auf Dauer ziemlich riskant. Für diese Krisen brauchen wir eine Welt, die nicht als Nullsummenspiel gedacht ist. Sonst droht uns was viel Schlimmeres.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.