Shashank Joshi über den Wandel der Kriegsführung
Shashank Joshi ist Verteidigungsredakteur bei The Economist, wo er über ein breites Spektrum an Themen rund um nationale Sicherheit, Verteidigung und Geheimdienste schreibt.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und Shashank Joshi darüber, wie Technologie die Kriegsführung verändert, über die neuesten Entwicklungen in der Ukraine und über die Zukunft Gazas.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Hinweis: Dieses Gespräch wurde am 6. Juni aufgenommen.
Yascha Mounk: Du beschäftigst dich bei The Economist mit vielen Aspekten der internationalen Politik und des Militärs. Ich kenne mich ehrlich gesagt nicht besonders gut mit militärischen Dingen aus, aber ich war wirklich beeindruckt von diesen jüngsten ukrainischen Angriffen auf Russland, bei denen sie extrem günstige Drohnentechnologie eingesetzt haben, um wahnsinnig teure und hochentwickelte militärische Ausrüstung zu zerstören – unter anderem Flugzeuge, die für den Abwurf von Atombomben vorgesehen sind.
Kannst du mir erklären, welche Bedeutung diese Angriffe im Kontext des Russland-Ukraine-Kriegs haben – und vielleicht noch wichtiger: Was sagen sie über den größeren Wandel der Kriegsführung durch neue Technologien wie Drohnen aus?
Shashank Joshi: Das war schon ein unglaublicher Vorfall, oder? Yascha, hast du zufällig mal die BBC-Serie Rogue Heroes gesehen, die in den letzten Jahren im Fernsehen lief? Sie basiert auf einem Buch von Ben Macintyre über die Geschichte des SAS – des Special Air Service – also dem britischen Gegenstück zu euren JSOC-Einheiten oder den Navy SEALs. Im Zweiten Weltkrieg war das eine Truppe, die hinter den feindlichen Linien operierte, um im Verborgenen – und tödlich – deutsche Flugzeuge auf Flugplätzen in Nordafrika oder anderswo in die Luft zu jagen oder zu beschießen. Klassische militärische Überfälle. So etwas gibt es, seit es militärische Geschichte gibt. Und sie waren extrem erfolgreich. Vielleicht ein Dutzend SAS-Leute, zusammen mit der Freien Französischen Armee, konnten Dutzende deutscher Flugzeuge zerstören – mit völlig überproportionaler Wirkung. Und das hier ist im Grunde genau diese Art von Überfall – nur eben in der modernen Version. Aber der entscheidende Punkt ist: Man muss dafür heute keine Leute mehr über Grenzen schicken – kein Absprung tausend Kilometer hinter den Linien, kein Verstecken unter LKWs. Man kann einfach Drohnen schicken. Und zwar ferngesteuerte.
In diesem Fall haben sie sich offenbar in das russische Mobilfunknetz eingeklinkt. Die Drohnen sind ganz nah an das Flugfeld herangeflogen – wirklich nah – und haben strategische Bomber zerstört, die zehn- oder hundertmal so viel kosten wie die eingesetzten Waffen. Das ist im Grunde altmodische Sabotage – nur mit modernen Mitteln. Es ist keine Revolution der Kriegsführung, aber ein großartiges Beispiel dafür, wie neue Technologie heute viel breiter verfügbar ist – auch für Staaten, die früher gar keine Langstreckenraketen hatten, um solche Flugfelder zu erreichen. Und das ist kein Einzelfall. Wenn man sich die Huthis im Jemen anschaut: Die haben es geschafft, die US Navy quasi lahmzulegen. Sie haben ein Dutzend US-Drohnen abgeschossen, Raketen auf Handelsschiffe abgefeuert – und auf US-Flugzeugträger. Sie haben F-35 Tarnkappenjets zum Ausweichen gezwungen.
Ich glaube, was wir daraus lernen, ist: Bestimmte Arten von präziser, sehr fortgeschrittener Militärtechnologie sind dabei, sich zu demokratisieren. Sie sind viel leichter zugänglich für eine Vielzahl von Staaten. Und das gilt genauso für die USA und Europa wie für alle anderen. Beim nächsten Konflikt könnte es genauso gut ein amerikanischer oder europäischer Luftwaffenstützpunkt sein.
Mounk: Ja, das war auch einer der ersten Punkte, die Leute auf Social Media angesprochen haben – dass es wahrscheinlich eine ganze Menge extrem teurer und wichtiger Militärausrüstung gibt, die in den USA und anderen großen Nationen einfach im Freien auf Luftwaffenstützpunkten herumsteht. Die gehen davon aus, dass sie die Lufthoheit über dem eigenen Gebiet haben, also machen sie sich keine großen Sorgen darüber, dass andere Staaten mit Kampfjets bis zu diesen Basen vordringen könnten. Aber wenn man es schafft, ein paar Drohnen in die Nähe dieser Basen zu schmuggeln, dann könnten diese Flugzeuge plötzlich sehr ernsthaft gefährdet sein.
Denkst du, das amerikanische Militär – oder auch das chinesische – schaut sich an, was da in Russland passiert ist, und überlegt jetzt fieberhaft, wie sie ihre militärische Infrastruktur besser positionieren und lagern? Haben die wirklich Sorge, dass ihnen in den nächsten Tagen oder Wochen so etwas Ähnliches passieren könnte?
Joshi: Sollten sie auf jeden Fall – und einige tun das auch. Wenn man in den Pazifik schaut, nach Asien – also auf die Planspiele, in denen das US-Militär und ihre Partner mögliche Konflikte durchspielen, etwa eine chinesische Invasion Taiwans – dann sieht man: 90 % der amerikanischen Flugzeugverluste passieren am Boden. Durch chinesische Raketen oder Angriffe auf Flugfelder. Das ist ein riesiges Problem. Wenn man zurückgeht ins Jahr 2012, hatte Taiwan 306 sogenannte Hardened Aircraft Shelters – das sind massiv geschützte Hangars, die extrem widerstandsfähig gegen Luftangriffe sind. Damals hatte China 297 davon, also weniger. In der Zwischenzeit hat China 380 neue gebaut. Die USA dagegen haben nur 15 solcher geschützten Hangars im Umkreis von 1.000 Kilometern um Taiwan – also in Reichweite vieler chinesischer Raketen. Was wir da sehen, Yascha, ist ein Problem, das viele längst erkannt haben – und bei dem die Amerikaner, ehrlich gesagt, immer noch erstaunlich selbstzufrieden sind.
Es ist ja nicht so, dass wir so etwas noch nie erlebt hätten oder es sich um ein völlig neues Phänomen handelt. Im Kalten Krieg war uns das vollkommen bewusst. Wenn du damals mit europäischen Militärs gesprochen hast, die Luftwaffenstützpunkte betrieben, hätten sie dir gesagt: Wir sind absolut davon ausgegangen, dass russische Spezialeinheiten – die Spetsnaz – versuchen würden, unsere Piloten im Schlaf zu töten und unsere Flugzeuge zu zerstören, bevor sie überhaupt abheben. Das ist deutlich einfacher, als sie in der Luft abzuschießen. Also haben wir die Flugfelder geschützt. Wir haben die Flugzeuge über viele Basen verteilt. Aber in den letzten 30 Jahren – aus den Gründen, die du genannt hast – sind wir nachlässig geworden. Wir haben Flugfelder geschlossen, um Geld zu sparen. Wir haben Flugzeuge an immer weniger Orten konzentriert. Und wir haben nicht mehr in den Schutz der verbliebenen Hangars investiert. Also ja, wir sehen das Problem. Aber lösen wir es? Nicht in dem Tempo, das nötig wäre.
Mounk: Du hast vorhin gesagt, dass diese neuen Technologien die Kriegsführung demokratisieren. Und grundsätzlich bin ich ein Fan von Demokratie und finde, dass es oft gut ist, wenn Dinge demokratischer werden. Aber ich frage mich, ob das im Fall der Kriegsführung nicht eine ziemlich schlechte Entwicklung sein könnte – ob es nicht sicherer für die Welt wäre, wenn ein paar große Militärmächte den Großteil der Schlagkraft kontrollieren, statt dass diese Macht so breit gestreut wird. Wenn die Fähigkeit, Angriffe zu starten – nicht nur gegen militärische Ziele, sondern auch gegen zivile – plötzlich viel mehr Akteuren zur Verfügung steht, könnte das sehr destabilisierend wirken. Wie verändert das die Fähigkeit kleiner Staaten, Krieg zu führen? Und was bedeutet das für nicht-staatliche Akteure wie Terrorgruppen – könnten die damit plötzlich erheblich mehr Schaden anrichten?
Joshi: Das ist eine großartige Frage. Stell dir vor, du würdest mit einem jungen US-Offizier sprechen, der 2005 im Irak stationiert war und sich mit dem Problem von IEDs herumschlagen musste – also selbstgebauten Sprengfallen, die im Boden vergraben wurden. Du erinnerst dich: Das war ein riesiges Problem und hat viele US- und alliierte Soldaten das Leben gekostet. Und jetzt stell dir vor, du hättest diesem Offizier damals gesagt: Übrigens, bald werden diese IEDs fliegen. Sie werden dich mit Objekterkennung aufspüren können – mit Chips, die 50 Dollar kosten – und sie werden an Drohnen montiert sein, gebaut aus günstigen chinesischen Bauteilen. Und du wirst sie nicht alle mit elektronischer Kriegsführung stören können, weil manche von ihnen über Glasfaserkabel gesteuert werden, die sich während des Flugs abrollen – was sie komplett immun gegen deine Gegenmaßnahmen macht. Der Offizier hätte wahrscheinlich gesagt: Was redest du da bitte? Das klingt wie Science-Fiction. Und doch – genau das ist heute Realität. Das ist das Schlachtfeld, in dem wir leben.
Du hast also völlig recht. Es kommt eben darauf an, von wo aus man draufschaut. Aus westlicher Perspektive ist es natürlich problematisch, dass andere Länder jetzt Zugriff auf Präzisionswaffen, Überwachungstechnik und Drohnen haben, die früher nur der CIA oder irgendwelchen milliardenschweren Behörden zur Verfügung standen. Aber wenn du ein mittelgroßer Staat bist – wie Pakistan – dann ist das natürlich fantastisch.
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Wenn man das auf einen aktuellen Konflikt bezieht, kann man sich Indien und Pakistan anschauen. Zwischen den beiden gab es gerade wieder heftige Auseinandersetzungen. Vielleicht sprechen wir später noch im Detail darüber. Aber früher hatten sie im Grunde nur zwei Optionen: Entweder sie beschießen sich mit Artillerie – das war ziemlich normal und galt nicht als große Eskalation – oder sie greifen mit Bomben und Raketen aus Flugzeugen an – was eine massive Eskalation bedeutet hätte. Was sich jetzt verändert hat: Beide Länder haben Zugriff auf sogenannte „Kamikaze-Drohnen“ – also einseitig angreifende Drohnen, die lange in der Luft bleiben können – oder ganz einfache Kampfdrohnen. Die wurden im letzten Gefecht intensiv eingesetzt. Und sie verwischen die Eskalationsgrenzen, weil sie sich genau in diesem Zwischenbereich bewegen: zwischen relativ harmloser Artillerie und sehr ernsten Raketenangriffen. Sie eröffnen Staaten wie Pakistan neue Optionen, die sich große Mengen an Hightech-Waffen sonst schlicht nicht leisten könnten. Was für nicht-staatliche Akteure gilt, gilt also genauso für mittelgroße Staaten.
Was ich sonst noch ergänzen würde, Yascha: Wenn man das Ganze aus Sicht eines NATO-Staats betrachtet – insbesondere in Osteuropa, also Estland, Litauen, Lettland oder Finnland – dann ist man natürlich begeistert, dass es der Ukraine gelingt, den russischen Vormarsch mithilfe von Dauerüberwachung und Drohnentechnologie auszubremsen und einzudämmen. Weil es die Kräfteverhältnisse ein Stück weit ausgleicht. Aus NATO-Sicht – oder generell aus Sicht kleiner Länder – ist das also durchaus eine gute Nachricht. Vielleicht sogar für die Taiwanesen, die sich Gedanken darüber machen, wie sie eine Landung an ihren Stränden zurückschlagen könnten.
Mounk: Und wie steht es um die Zivilbevölkerung? Wenn man auf den Zweiten Weltkrieg zurückblickt: Die Luftfahrttechnologie hatte sich in den 50 Jahren davor massiv weiterentwickelt, was dann zu Luftkampagnen führte, die es so im Ersten Weltkrieg noch nicht gegeben hatte. Und natürlich waren zivile Ziele im Zweiten Weltkrieg in einem viel größeren Ausmaß betroffen als zuvor. Man denke nur an die Bombardierung Londons mit V1- und V2-Raketen, an die Feuerbombardierung Tokios – das hat Millionen von Opfern gefordert.
Man kann wohl davon ausgehen, dass heute jede Kriegspartei – oder alle – über viel größere Möglichkeiten verfügen, zivile Bevölkerungen massiv zu treffen, auch in Ländern, die sich bislang relativ sicher gefühlt haben. Müssen wir uns also auf deutlich höhere Opferzahlen in zukünftigen Konflikten einstellen?
Joshi: Da bin ich nicht so überzeugt, Yascha – und ich erklär dir auch warum. Die Bombenangriffe, die du aus dem Zweiten Weltkrieg erwähnst, waren oft ganz bewusst darauf ausgelegt, die Zivilbevölkerung – vor allem Industriearbeiter – aus ihren Häusern zu treiben. Ich denke da etwa an die Angriffe auf Deutschland. Die sollten gezielt die Moral brechen. Die Feuerbombardierung Tokios, die V2-Kampagne – das waren gezielte Terroraktionen gegen Zivilisten. So etwas sieht man heute eher selten. Die modernen Raketen, die heute zum Einsatz kommen, sind in der Regel viel zu teuer und zu selten, als dass man sie einfach nur auf Zivilisten abfeuern würde. Wenn du ein militärischer Befehlshaber bist, willst du mit so einem Geschoss ein militärisches Ziel treffen.
Was natürlich nicht heißt, dass die Russen in der Ukraine keine Zivilisten angreifen. Das tun sie – punktuell. In Cherson zum Beispiel gibt es etwas, das die Ukrainer „Human Safari“ nennen: Russische Truppen üben dort den Drohneneinsatz, indem sie wahllos auf Zivilisten zielen. Das ist entsetzlich. Aber es bleibt ein begrenztes Phänomen. Es ist nicht vergleichbar mit der Feuerbombardierung Tokios. Es ist nicht Dresden. Es ist eine ganz andere Größenordnung.
Und wenn man über wirklich weitreichende Angriffe nachdenkt – also Waffen, mit denen man ganze Städte flächendeckend angreifen könnte – dann haben weder China noch die USA derzeit die Fähigkeit, das mit konventionellen Langstreckenbombern gegeneinander zu tun. Und, viel wichtiger: Ich glaube auch nicht, dass sie dazu bereit wären – wir leben schließlich im Atomzeitalter. Wenn du anfängst, Städte auszulöschen und massenhaft zivile Opfer in Kauf nimmst, begibst du dich auf das gefährliche Terrain nuklearer Eskalation.
Unterm Strich würde ich sagen: Auch wenn ich mir wegen der Auswirkungen von Häuserkämpfen auf Zivilisten – wie wir sie in Gaza mit einem erschütternden Ausmaß an Todesopfern gesehen haben – große Sorgen mache, sehe ich momentan nicht die Gefahr, dass wir zu flächenbombardierenden Luftkriegsstrategien wie im Zweiten Weltkrieg zurückkehren. Moderne Waffen setzen so stark wie möglich auf Präzision. Man will wirklich das Ziel treffen, das man angreift. Niemand möchte einen Millionen-Dollar-Raketenangriff auf ein Wohnhaus verschwenden – wenn man es vermeiden kann. Macht das Sinn?
Mounk: Ich glaube schon – aber ist es nicht genau an dieser Stelle, wo Drohnen die Gleichung verändern? Im Moment dominiert eine Technologie, bei der jede Rakete Millionen kostet – also will man auch ein Ziel treffen, das mindestens genauso viel wert ist. Aber wenn man plötzlich für 200 Dollar eine Drohne mit einem 100-Dollar-Sprengsatz losschicken kann, dann ist es völlig okay, auch ein 300-Dollar-Ziel zu treffen. Und wenn man diese Drohnen in großer Stückzahl produzieren kann, verändert sich das gesamte Kalkül, das du gerade beschrieben hast, ziemlich schnell. Plötzlich wird auch ein normales Wohnhaus mit fünf oder zehn Stockwerken zu einem Ziel, das – in dieser sehr kaltherzigen Logik von Kosten und Zerstörung – als „lohnend“ erscheint.
Joshi: Dazu würde ich zwei Dinge sagen. Erstens: Man darf nicht vergessen, dass solche Systeme in der Regel eine geringe Reichweite haben. Das liegt einfach in der Natur günstiger Technik – da bekommt man eben keine riesigen Batterien oder starke Triebwerke mit dazu. Wenn sie verbrauchbar und entbehrlich sein sollen, dann sind sie auch kurzreichweitig. Sie kommen nicht mal eben bis nach San Francisco, nur mal so als Beispiel.
Und zweitens: Was wir gerade in der Ukraine und in Russland sehen, ist eine Art Industrialisierung solcher Systeme. Ich habe neulich den stellvertretenden Verteidigungsminister der Ukraine sagen hören, dass das Land zehn Millionen Drohnen im Jahr produziert. Das mag übertrieben sein – aber selbst wenn es nur die Hälfte oder ein Drittel davon ist, reden wir von Massenproduktion. Und beide Armeen setzen die Dinger überwiegend gegen militärische Ziele ein. Denn selbst wenn ein System nur 300 Dollar kostet – lieber trifft man damit einen feindlichen Soldaten, der gerade angreift, als einen unbeteiligten Zivilisten. Das ist in der Regel immer noch die bessere Rechnung. Aber gleichzeitig, wenn wir jetzt mal an einen möglichen Krieg in den baltischen Staaten denken – da hast du vollkommen recht: Es ist durchaus denkbar, dass Russland gezielt zivile Gebäude angreift. Das Risiko ist real.
Mounk: Das ist ein spannender Ansatz, um sich dieser neuen Technologie zu nähern – gerade weil wir jetzt ja viele verschiedene Konflikte gestreift haben, in denen Drohnen inzwischen eingesetzt werden. Ich würde dich gern bitten, uns mal ein kurzes Update zu geben: Wie sieht es in einigen dieser Konflikte aktuell aus? Donald Trump hatte ja ursprünglich angekündigt, er wolle schnell ein Abkommen mit Putin schließen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Es gab immer wieder kleine, kurzfristige Waffenruhen – aber offensichtlich tobt der Krieg weiter mit voller Wucht. Wie ist die Lage vor Ort? Eine Zeit lang hatte man den Eindruck, dass die Ukraine kurz vor dem Zusammenbruch steht – das hört man inzwischen seltener. Gibt es eine realistische Chance, dass sich die Frontlinie in den kommenden Monaten deutlich verschiebt? Wird es vielleicht doch irgendwann zu einem Deal kommen – weil beide Seiten merken, dass sie sich aufreiben, ohne wirklich voranzukommen? Oder könnte der Krieg sich sogar dramatisch zuspitzen, mit einem echten Durchbruch auf einer der beiden Seiten?
Joshi: Mein Bauchgefühl – und um es direkt auf den Punkt zu bringen – ist: Dieser Krieg wird sich wahrscheinlich bis 2026 hinziehen. Aber was dann passiert, ist sehr schwer zu sagen, denn ab da wird es zunehmend unklar, wie es um die Waffenversorgung der Ukraine und die wirtschaftliche Lage Russlands steht. Wenn wir auf die aktuelle Lage schauen: Ja, die Linien verschieben sich. Ob sich das „signifikant“ anfühlt, ist Ansichtssache. Aber zur Einordnung, Yascha: Im Mai etwa haben die Russen rund 538 Quadratkilometer ukrainisches Gebiet besetzt. Das klingt auf der Karte nicht nach viel – auch im Verhältnis zur Größe des Landes – aber es ist doppelt so viel wie im April. Und es ist die zweithöchste monatliche Vorstoßrate seit 2022. Man sieht also: Die Russen machen spürbar Fortschritte. Aber sie sind nach wie vor nicht in der Lage, große Lücken in der Front auszunutzen und durchzubrechen – so wie man sich klassische Offensiven vorstellt. Da denkt man schnell an Blitzkrieg, an Truppenbewegungen über hunderte Kilometer – aber das ist hier nicht der Fall. Die Russen können das schlicht nicht leisten.
Trotzdem bewegen sich die Frontlinien – nicht nur im Osten des Landes. In der Donbas-Region, rund um einen Ort namens Kostjantyniwka, der logistisch enorm wichtig ist, vor allem im Raum Donezk, und im benachbarten Pokrowsk – den viele deiner Hörer vielleicht aus den Nachrichten kennen – da konzentriert sich derzeit die russische Offensive. Auch im Nordosten, in der Region Sumy, machen sie Geländegewinne. Dort wurden sie 2022 rausgeworfen – jetzt kommen sie zurück. Ich denke, sie haben auch dort kleinere Erfolge erzielt. Aber das sind keine Panzeroffensiven. Sie bewegen sich mit kleinen Trupps auf Motorrädern und Quads – einfach weil sie sich verteilen müssen, um nicht von Drohnen entdeckt zu werden, und weil ihnen die Truppenstärke für Großangriffe fehlt. Die Frage ist jetzt: Wie lange lässt sich das durchhalten?
Das ist ein Abnutzungskrieg. Die Russen verlieren unfassbar viele Soldaten – über 1.000 pro Tag, Tote und Verwundete zusammen. Aber das Entscheidende dabei ist: Russland rekrutiert derzeit jeden Monat 10.000 bis 15.000 Mann mehr als die Ukraine. Und das machen sie nicht über Zwangsrekrutierung, sondern durch hohe Prämien für Freiwillige. Die meisten russischen Soldaten melden sich aktuell freiwillig. Russlands Wette ist: Wir halten länger durch als die Ukraine – vor allem, was die Waffenlieferungen aus den USA angeht. Die Wette der Ukraine lautet: Wir schaffen es, durchzuhalten, bis Russland wirtschaftlich ernsthaft ins Straucheln gerät – etwa wenn der Ölpreis fällt oder die Devisenreserven nächstes Jahr zur Neige gehen.
Für mich hängt deshalb extrem viel davon ab, ob die USA an ihrer aktuellen Linie festhalten. Im Moment lautet die Devise: Wir geben kein neues Geld für die ukrainischen Streitkräfte frei, aber lassen die schon beschlossenen Hilfen weiterfließen. Und wir verkaufen Waffen an Europa, damit diese sie an die Ukraine weitergeben. Wenn die USA sich komplett zurückziehen, keine Aufklärungsdaten mehr liefern, keine Luftabwehrraketen oder Munition mehr verkaufen – dann halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine gegen Ende des Jahres oder Anfang nächsten Jahres in eine viel ernstere militärische Krise rutscht. Und dann sähe das ganze Bild plötzlich ganz anders aus. Aber Stand jetzt: Die Ukraine kann überleben, sie kann die Front stabilisieren und einen Zusammenbruch verhindern – vorausgesetzt, Donald Trump toleriert zumindest weiterhin ein Mindestmaß an Unterstützung für die ukrainische Verteidigung.
Mounk: Als Trump damals ins Amt kam, sah es so aus, als würde er selbst diese minimalen Unterstützungsmaßnahmen nicht weiterführen. Er betrachtete die Hilfe für die Ukraine eindeutig als Projekt der Biden-Regierung. Und er hat seit Langem eine Beziehung zu Wladimir Putin – die ist zwar nicht immer harmonisch, aber durchaus von gegenseitigem Respekt geprägt. Ich glaube, ihm gefiel die Vorstellung, derjenige zu sein, der dort ein Friedensabkommen durchsetzt, die Region beruhigt und als großer Friedensstifter gefeiert wird. Aber nichts davon ist eingetreten. Warum nicht – und wo steht Trump jetzt? In den letzten Tagen und Wochen klang er in manchen Social-Media-Posts kritischer gegenüber Putin. Er hat sich auch nicht gegen republikanische Initiativen gewehrt, neue Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Man hat fast den Eindruck, er ist enttäuscht – nicht nur darüber, dass er keinen Deal hinbekommen hat, sondern auch über die gescheiterte „besondere Verbindung“ zu Putin. Was erklärt diesen Kurswechsel?
Joshi: Ich glaube, wir haben sowohl das schlimmste als auch das beste Szenario bislang vermieden. Die europäische Strategie, wenn du dich erinnerst, bestand darin, mehrere Dinge zu signalisieren: Wir sind bereit, unsere Unterstützung auszubauen. Wir sind bereit, eine Koalition der Willigen zu bilden, die als Sicherheitspräsenz nach einem Waffenstillstand in der Ukraine stationiert wird. Und wir sind bereit, einen Waffenstillstand zu unterstützen, den die Ukrainer selbst akzeptieren würden. Die Botschaft an den Präsidenten war also: Leg das den Russen vor und setz ihnen eine Frist. Wenn sie nicht darauf eingehen, musst du endlich anfangen, Druck auf Russland auszuüben – etwas, das du bisher nicht getan hast, aber wozu wir hoffen, dich noch bewegen zu können. Diese Linie wird bis heute verfolgt. Tatsächlich war kurz vor unserem Gespräch Friedrich Merz im Weißen Haus und hat genau diese Botschaft überbracht: Herr Präsident, es ist Zeit, den Druck auf Russland zu erhöhen.
Diese Strategie beruht auf der Annahme, dass Russland nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit ist, solange es keinen Druck spürt. Und es wird immer klarer, dass Donald Trump diesen Druck nicht ausüben will – sei es, weil er sich immer noch in irgendeiner Illusion über seine besondere Verbindung zu Putin wiegt, oder weil er sich als starker Mann ideologisch mit dem russischen Präsidenten verbunden fühlt, oder aus einem anderen Grund, über den man nur spekulieren kann.
Aber was fast noch interessanter ist – wie du schon angedeutet hast – ist, dass wir auch das andere Extrem vermieden haben. Wir haben kein Szenario, in dem Trump sich komplett zurückzieht, wie er es Anfang des Jahres kurzzeitig getan hat – etwa durch den Stopp von Geheimdienstinformationen oder der kompletten Beendigung der Unterstützung. Es gibt auch ein paar gute Nachrichten. Die Sanktionspakete stehen nach wie vor im Raum – auch wenn ich nicht glaube, dass er sie wirklich nutzen wird. Die USA haben F-16-Kampfjets an die Ukraine geliefert – als Ersatzteillager für deren Flotte. Sie haben Patriot-Luftabwehrsysteme geliefert – im Rahmen der Ukraine Security Assistance Initiative. Und einige dieser Verträge laufen bis 2026 weiter, weil sie bereits mit amerikanischen Unternehmen abgeschlossen wurden. Es gab auch ein bisschen Geld über die sogenannte Presidential Drawdown Authority – das ist Budget, das der Präsident ohne neue Bewilligung aus dem Kongress nutzen kann, um aus US-Beständen Munition zu schicken. Aber wie gesagt: Das war nur ein sehr kleiner Betrag.
Diese kleinen Maßnahmen zeigen etwas: Trump distanziert sich vom Konflikt. Er bestraft die Ukraine nicht. Er zwingt Europa nicht. Er kommt auch nicht mit irgendwelchen absurden Deals zurück – wie einem Abkommen über KI und Flüssiggas im Arktischen Ozean, das Steve Witkoff nach seiner Moskau-Reise vor sechs, sieben Wochen ins Spiel gebracht hat. Aber gleichzeitig übt Trump eben auch keinen Druck auf Russland aus. Wir sehen also: Trump geht einen Mittelweg. Er sagt: Das ist euer Konflikt. Ich lasse ein bisschen Hilfe durchfließen, aber ich werde nichts tun, um Verhandlungen voranzubringen. Der Ball liegt jetzt also bei Europa. Die Europäer müssen die Ukraine auf dem Schlachtfeld über Wasser halten. Ich denke, die Frage der Diplomatie wird nächstes Jahr wieder aufkommen – entweder, wenn Russland geschwächt ist, wenn mehr Druck aufgebaut wurde oder – hoffentlich nicht – wenn die Ukraine weiter zurückgedrängt wurde und klar ist, dass sich die USA noch weiter zurückziehen. Dann droht ein ungünstigerer Frieden, der der Ukraine aufgezwungen wird – mit, aus meiner Sicht, gravierenden Folgen für Europas Sicherheit.
Mounk: Apropos Europas Sicherheit – ich glaube, während Trumps erster Amtszeit haben viele Europäer beschlossen, einfach abzuwarten. Sie dachten: Amerika hat gerade einen Aussetzer, aber das Land wird schon wieder zur Vernunft kommen. Und als Joe Biden 2020 gewählt wurde, ging dieser Wunsch in Erfüllung. Man konnte wieder vier Jahre lang davon ausgehen, dass die transatlantische Partnerschaft verlässlich bleibt – dass die USA im Zweifel immer ein verlässlicher Partner sein würden. Trumps mögliche Wiederwahl – und seine früheren Ideen, etwa ganz Grönland zu kaufen – haben aber die europäische Elite inzwischen deutlich stärker erschüttert. Die Kritik an Amerika kommt jetzt nicht nur von den üblichen Verdächtigen am linken Rand, sondern auch aus der politischen Mitte und sogar der konservativen Rechten – von Leuten, die früher klar pro-amerikanisch waren. Zumindest rhetorisch bekennt sich Europa jetzt dazu, seine eigene Sicherheit in die Hand zu nehmen.
Aber wie ernst ist das wirklich? Tun die europäischen Staaten tatsächlich, was dafür nötig wäre? Wird wirklich in militärische Kapazitäten investiert, werden die Streitkräfte modernisiert, wird die nötige gesellschaftliche Unterstützung aufgebaut, damit Europa sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen stehen kann?
Joshi: Es bewegt sich definitiv etwas in die richtige Richtung. In etwa zwei Wochen findet in Den Haag ein großer NATO-Gipfel statt – dort wird voraussichtlich ein neues Ziel für die Verteidigungsausgaben vereinbart: 3,5 % des BIP für den Kernhaushalt der Streitkräfte und zusätzlich 1,5 % für angrenzende Bereiche wie Infrastruktur, Cybersicherheit oder Logistik, die zwar nicht direkt militärisch sind, aber zur Verteidigung beitragen. Und tatsächlich bewegen sich viele Länder ernsthaft in diese Richtung.
Vor allem, Yascha: Schau dir Deutschland an. Der Wandel dort ist wirklich bemerkenswert. Ende Mai wurde zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft ein vollständiger deutscher Kampfverband im Ausland stationiert – eine ganze Brigade in Litauen. Und mir hat kürzlich ein Beamter gesagt: Bis 2029 könnte Deutschlands Verteidigungshaushalt doppelt so groß sein wie der Großbritanniens – und das ganz ohne Atomwaffen, die ja bei Großbrittanien stark ins Gewicht fallen. Das ist für alle, die die deutsche Verteidigungsdebatte der letzten zwanzig Jahre verfolgt haben, wirklich enorm. Wer hätte das gedacht?
Ich glaube also wirklich, dass ein Umdenken stattgefunden hat – die Botschaft ist angekommen. Aber, wie du genauso gut weißt wie ich: Die militärischen Fähigkeiten, die Europa braucht, kann man nicht einfach mit ein paar Milliarden „von der Stange“ kaufen. Man kann nicht einfach sagen: Ich nehme eine schwere Panzerbrigade und eine Luftabwehreinheit, bitte. Das braucht Zeit – weil es industrielle Kapazitäten erfordert. Und weil viele dieser Systeme einfach sehr komplex sind. Denk an all die Bereiche, in denen die USA entscheidende Fähigkeiten liefern, damit europäische Streitkräfte überhaupt einsatzfähig sind. Es geht nicht nur um Soldaten mit Gewehren – sondern um sogenannte „Enabler“: Luft- und Seetransport, Luftbetankung, Satellitenaufklärung für Zielerfassung, Nachrichtendienste – und natürlich die nukleare Rückversicherung. Wenn Großbritannien, Frankreich oder Deutschland sagen: Wir müssen diese amerikanischen Fähigkeiten ersetzen, dann reden wir über einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren. Selbst wenn man heute überzeugt ist, dass Trump Europa im Stich lassen wird – es dauert einfach viel länger, diese Lücken zu schließen, als eine mögliche Amtszeit Trumps. Vielleicht sogar länger, als Trump überhaupt lebt.
Also ja – man kann nervös werden. Man kann sich Sorgen machen. Aber Panik bringt nichts – denn der Weg zur Lösung ist ein Zehnjahresprojekt. Die Debatte, die wir Europäer jetzt mit den Amerikanern führen, ist nicht mehr: Bitte bleibt. Sondern: Wir wissen, dass ihr gehen werdet. Wir wissen, dass ihr euch strategisch Richtung Indo-Pazifik bewegt, um euch auf einen möglichen Konflikt mit China vorzubereiten. Lasst uns dafür sorgen, dass dieser Rückzug geordnet abläuft – und dass wir gemeinsam Übergangslösungen schaffen, um die Lücken zu füllen.
Zum Schluss vielleicht noch ein Beispiel: Ich war vor zwei Wochen in Tallinn, Estland, und habe dort Matthew Whitaker gehört – den US-Botschafter bei der NATO. Ein sehr „trumpiger“ Typ – von Trump ernannt, keine große außenpolitische Erfahrung – aber er hat Trumps Ohr, und das macht ihn für die Europäer wichtig. Und er sagte: Wir werden eine Überprüfung der US-Militärpräsenz in Europa durchführen – vermutlich noch dieses Jahr. Aber wir werden sicherstellen, dass keine Sicherheitslücken entstehen. Wir werden sicherstellen, dass Europa in der Lage ist, die Lücken zu schließen, die wir hinterlassen.
Und wenn die Trump-Regierung sich an diese Linie hält, dann ist das ein vernünftiger, pragmatischer Weg für Europa, die NATO und die USA. Wenn sie wirklich mit den Europäern sprechen, statt wie in Südkorea plötzlich 5.000 Elitesoldaten abzuziehen, ohne die Regierung vorher zu informieren – dann gibt es einen gangbaren Weg nach vorn. Aber eine Garantie gibt es nicht. Nicht bei dieser Regierung. Nicht mit all dem, was wir über ihre Disziplinlosigkeit, das interne Chaos und das faktisch nicht vorhandene National Security Council wissen.
Mounk: Einer der anderen großen Konflikte derzeit spielt sich im Nahen Osten ab – konkret im Gazastreifen. Die offiziellen Kriegsziele der israelischen Regierung sind angesichts der furchtbaren Angriffe vom 7. Oktober nachvollziehbar: Kontrolle über den Gazastreifen erlangen und natürlich die Freilassung und Rückkehr aller Geiseln sichern – ob sie hoffentlich noch leben oder ob sie inzwischen tragischerweise ermordet wurden. Trotzdem gibt es zwei Dinge, die ich an diesem Konflikt sowohl analytisch schwer greifbar als auch moralisch beunruhigend finde.
Zum einen frage ich mich, warum es für das israelische Militär – das ja in vielerlei Hinsicht militärisch überlegen ist – so schwierig ist, ausreichend Kontrolle über den Gazastreifen zu erlangen, um eine Rückkehr von Hamas zu verhindern, die Tunnel zu zerstören und Hamas’ Fähigkeit, israelische Zivilisten anzugreifen, nachhaltig zu schwächen.
Zum anderen ist mir unklar, was eigentlich das wirkliche Kriegsziel der Regierung von Benjamin Netanjahu zu diesem Zeitpunkt ist. Warum zieht sich der Krieg so lange hin? Und deutet das nicht darauf hin, dass der eigentliche Zweck – ob militärisch oder innenpolitisch – womöglich ein ganz anderer ist als der offiziell formulierte? Kannst du uns helfen zu verstehen, was im Gazastreifen gerade passiert?
Joshi: Ich will gleich vorweg sagen: Auch ich habe hier eine gewisse Unsicherheit, einfach weil ich in letzter Zeit nicht vor Ort war. Was ich sage, ist also das eines distanzierten Beobachters – mit Vorsicht zu genießen.
Zuerst muss man das als militärisches Problem betrachten. Wir sprechen hier über eine der komplexesten urbanen Kampfsituationen weltweit. Hamas gehört zu den am tiefsten eingegrabenen Milizen, die wir je gesehen haben – allein schon wegen des riesigen Tunnelsystems. Ich muss oft an den Kampf gegen den IS in Mossul denken – im Norden Iraks. Die Koalition hat ihn dort schließlich zurückgedrängt, ja. Aber der IS hatte ein Jahr, vielleicht zwei, um sich dort einzugraben. Hamas baut seit 2007 – also über 15 Jahre – an einem unterirdischen Netzwerk, in einem winzigen Gebiet. Man muss sich mal vorstellen, wie weit verzweigt das ist – und wie viele technologische Vorteile Israels, etwa Satellitenüberwachung, elektronische Aufklärung, Signal-Intelligenz kombiniert mit KI, in so einem Umfeld einfach kaum helfen. Sie zeigen dir nicht, was unter der Erde ist. Du kannst jeden Quadratmeter von Gaza mit Drohnen kartieren – aber das zeigt dir nicht den Tunneleingang unter einem Wohnhaus. Und selbst wenn du ihn findest, ist es extrem schwierig, die Tunnel tatsächlich zu zerstören. Deshalb greift Israel auf Methoden zurück, die – meiner Meinung nach – in manchen Fällen extrem und entsetzlich sind. Ganze Viertel werden dem Erdboden gleichgemacht – und damit dauerhaft unbewohnbar. Das ist das erste Problem.
Das zweite ist: Hamas ist nicht nur ein militärisches Problem. Es ist auch eine politische und soziale Bewegung. Es gibt einen bewaffneten Flügel, ja – aber daneben auch einen politischen Flügel, eine soziale Infrastruktur, Verwaltungsapparate, Ärzte, Beamte. Wenn man all das – also auch Ärzte, Anwälte, Steuerbeamte – als Teil der militärischen Struktur behandelt, dann macht man dieselben Fehler wie die USA im Irak oder später in Südafghanistan: Man verkennt, dass es sich hier um Bewegungen handelt, die tief in das gesellschaftliche Gefüge eingebettet sind. Nur damit das klar ist: Das ist keine Relativierung von Hamas’ Ideologie – ich halte sie für eindeutig genozidal.
Und dann kommt die Politik. Um ehrlich zu sein: Du hast von der Zerschlagung von Hamas als Sicherheitsmaßnahme gesprochen. Dieser Punkt wurde schon längst erreicht. Viele Leute im israelischen Sicherheitsapparat – Leute wie Yoav Gallant, der ehemalige Verteidigungsminister, niemand würde ihn eine Friedenstaube nennen, oder der frühere IDF-Sprecher Peter Lerner, auch ehemalige Mossad-Chefs – die sagen alle: Dieser Krieg hätte längst verantwortungsvoll beendet werden können, ohne Israels Sicherheit zu gefährden. Hamas war längst am Boden. Das Problem ist: Diese israelische Regierung – politisch gesehen die extremste in der modernen Geschichte Israels – ist nicht in der Lage, eine politische Zukunft für Gaza zu formulieren. Warum? Weil sie von Koalitionspartnern der äußersten Rechten abhängig ist, die so etwas niemals unterstützen würden. Sie wollen keine politische Lösung. Sie wollen Gaza kolonisieren. Sie wollen dort Siedlungen errichten. Sie wollen Gaza im Grunde – so hart es klingt – ethnisch säubern, damit Palästinenser dort nicht mehr leben können. Ich weiß, das sind harte Worte, aber ich glaube, mehr als die Hälfte der Israelis selbst würden das genauso sehen – viele führen diese Debatten in ihren eigenen Zeitungen offener als wir im Ausland.
Insofern hängt die Unfähigkeit der israelischen Regierung, nach all der militärischen Gewalt eine vernünftige politische Strategie zu formulieren, maßgeblich mit der Struktur von Netanjahus Koalition zusammen – und mit seinem Pakt mit religiösen und extremistischen Partnern.
Mounk: Ich glaube, was mir hier analytisch schwerfällt, ist die Frage: Was genau macht Israelis eigentlich unsicher? Es gibt die unmittelbare Dimension – die Frage, was sie konkret vor Angriffen schützt. Und dann gibt es die strategische Dimension: Was macht Israel mittel- und langfristig sicher? Und da habe ich zwei Sorgen.
Zum einen: Natürlich wird jede demokratisch gewählte Regierung alles daran setzen, dass sich ein Tag wie der 7. Oktober nie wiederholt. Aber vieles, was diesen Tag möglich gemacht hat, lag nicht nur an Hamas – die mit internationalen Geldern Tunnel unter Schulen und Krankenhäusern gebaut und Gaza in eine militärische Festung verwandelt hat. Es lag auch an einem massiven israelischen Versagen. Hamas hat Netanjahu offenbar überzeugt, dass sie sich auf wirtschaftlichen Aufbau konzentrieren, das Leben in Gaza verbessern wollen – und keine akute Bedrohung mehr darstellen. Rückblickend scheint vieles vermeidbar. Ein Teil der Katastrophe hätte womöglich verhindert werden können, wenn mehr israelische Soldaten an der Grenze stationiert gewesen wären. Wenn das stimmt, dann wird kein künftiger Premierminister diesen Fehler noch einmal machen. Man wird Gaza und Hamas nicht mehr aus dem Blick verlieren. Und das allein könnte schon helfen, einen weiteren 7. Oktober zu verhindern. Natürlich bleibt es richtig, Hamas militärisch zu schwächen – aber wie du sagst, viele Sicherheitsleute in Israel glauben, dass dieser Punkt längst erreicht ist. Es ist also schwer zu verstehen, was die fortlaufenden Angriffe in Gaza aktuell noch zum Schutz Israels beitragen sollen.
Und dann gibt es die strategische Langfristfrage: Was braucht es, damit Israel wirklich dauerhaft sicher ist? Es braucht eine starke Partnerschaft mit den USA. Es braucht gute Beziehungen zu den wichtigsten europäischen Ländern – für Handel, Rüstung, Diplomatie. Es braucht eine florierende Wirtschaft – die ist letztlich die Grundlage für militärische Stärke. Und dafür wiederum müssen Israelis reisen können, Geschäfte machen, globale Partnerschaften aufbauen. Selbst wenn man also annimmt, dass der Krieg in Gaza kurzfristig noch irgendein taktisches Ziel erfüllt – was ich, wie du, immer mehr bezweifle –, dann ist doch offensichtlich: Diese Operationen untergraben langfristig die Grundlage israelischer Sicherheit – nicht nur für die nächsten Jahre, sondern vielleicht für die nächsten 20, 50 oder 100 Jahre.
Joshi: Ich glaube, du hast völlig recht, Yascha. Ich wüsste gar nicht, wo ich da widersprechen sollte. Bessere Grenzsicherung, ja – aber vor allem bessere Aufklärung hätte das verhindert. Die Parallelen zum Jom-Kippur-Krieg 1973 sind auffällig: Damals war es eine politische Fehlwahrnehmung des Gegners, die Israels Führung blind gemacht hat. 1973 und 2023 – da gibt es echte Resonanz. Das ist eine Ebene des Versagens. Und ich stimme dir auch zu: Wenn man als Israeli in die Zukunft schaut – an Normalisierung in der Region denkt, an die Abraham-Abkommen, an ein mögliches Anerkennen durch Saudi-Arabien, vielleicht sogar an eine bessere Beziehung zu Syrien, das ja inzwischen, bemerkenswerterweise, von einer Regierung geführt wird, deren Anführer ein Ex-Qaida-Mann ist, der eine multiethnische Zukunft aufbauen will – dann sind das eigentlich Tage voller Chancen. Ob er das ernst meint, wird man sehen. Aber allein, dass er von „Israel“ spricht – und nicht mehr nur von der „zionistischen Entität“ – ist etwas Neues. Und diese israelische Regierung scheint wild entschlossen zu sein, all das zu torpedieren – mit einer kurzsichtigen, innenpolitisch getriebenen Sicht auf Sicherheit. Insofern: Ja, ich stimme dir zu.
Was ich noch ergänzen würde: Ich glaube, wir erleben gerade einen Moment des Übermuts in Israel. Man war militärisch sehr erfolgreich – gerade im Libanon, wo man es geschafft hat, die Hisbollah durch eine Mischung aus exzellenter Aufklärung und mutigen Schlägen massiv zu schwächen. Und das ohne die befürchteten Vergeltungsschläge mit Raketen, die viele – auch ich – erwartet hätten. Dieser Erfolg könnte ein gefährliches Gefühl der Unverwundbarkeit erzeugt haben. Die Vorstellung, man könne die Region nach eigenen Vorstellungen formen. Man könne mit dem Schwert leben – und dabei aufblühen. Das ist ein Denken, das stark an die USA nach dem 11. September erinnert. Und genau deshalb halte ich es für möglich, dass sich die Lage weiter zuspitzt. Ich kann mir gut vorstellen, dass Israel bald Irans Nuklearprogramm angreift. Die Sorge, dass eine künftige Trump-Regierung ein schwaches Abkommen mit Teheran schließt, ist real – und könnte ein Auslöser sein.
Und der gemeinsame Nenner all dessen ist eine brisante Mischung: Trauma – ausgelöst durch den 7. Oktober – gepaart mit Übermut, genährt durch die blitzschnellen Kampagnen in Gaza, im Libanon, in Syrien und, ja, teils sogar im Iran, wenn man an die Raketenangriffe vom letzten Jahr denkt. Trauma und Übermut – das ist eine extrem gefährliche Kombination. Ich muss dir nicht sagen, warum – es ist genau die Mischung, die die USA in den 20 Jahren nach 2001 zu ihren größten strategischen Fehlern geführt hat.
Mounk: Ich teile diese Sorge um den Übermut leider sehr. Der ganze Konflikt – wie seit Jahrzehnten – erscheint einfach als eine große Tragödie. Eine Tragödie, in der verständliche Ängste und gegenseitige Verbitterung auf beiden Seiten zu immer mehr Leid und zivilen Opfern führen. Es fällt wirklich schwer, sich einen Ausweg vorzustellen. Hast du irgendeine Idee, wie das Ganze enden könnte? Wird es damit enden, dass die Bewohner Gazas zur Flucht gezwungen werden und Donald Trump ein „Trump Gaza“-Resort eröffnet? Das scheint eher unwahrscheinlich. Aber ebenso unklar ist, wann Netanjahu irgendwann erklären würde, dass der Sieg erreicht ist – vielleicht auf einem Flugzeugträger mit einem riesigen „Mission Accomplished“-Banner?
Joshi: Das Problem ist, Yascha, dass es für Netanjahu – anders als damals bei George W. Bush mit seinem Banner – politisch ein enormes Risiko wäre, einen Sieg zu erklären. Es würde den politischen Takt neu starten. Seine Koalition wäre in Gefahr. Und er selbst würde sofort wieder ins politische Kreuzfeuer geraten. Er hat also ein starkes Eigeninteresse, genau diesen Moment zu vermeiden. Und das trifft auf etwas, das ich als eine breitere amerikanische Tendenz zur Zurückhaltung bezeichnen würde. Ich habe vorhin darüber gesprochen, wie Trump sich aus der Ukraine herauszieht – aber auch diese Regierung trägt einen inneren Konflikt in sich.
Auf der einen Seite steht die Reagan-artige Idee von „Frieden durch Stärke“ – also die Vorstellung, amerikanische Macht weltweit zu demonstrieren. Auf der anderen Seite stehen Leute wie Stephen Miller, J.D. Vance und andere – geprägt von den Traumata des „Krieg gegen den Terror“ – die sagen: Haltet euch da raus. Das ist nicht unser Konflikt. Man könnte es Neo-Isolationismus nennen – auch wenn ich diesen Begriff für etwas zu emotional halte. Ich würde eher sagen: ein Impuls zur Zurückhaltung, zur strategischen Rücknahme. Und diese beiden Linien stehen momentan gegeneinander. Aber ich denke, derzeit – gerade nach dem Wegfall von Mike Waltz als Nationaler Sicherheitsberater – dominiert eindeutig die Linie der Zurückhaltung. Amerika zieht sich zurück. Es bleibt militärisch präsent, ja – aber es will diese Präsenz nicht nutzen. Das haben wir bei den Angriffen auf die Huthis gesehen: intensive Luftschläge, dann das Eingeständnis, dass es nichts bringt – und der Rückzug. In gewisser Weise ist das strategisch vernünftig. Zu erkennen, wann etwas nicht funktioniert, und dann umzusteuern, ist eigentlich eine Stärke. Aber im Fall Israels sehe ich keinen realistischen Weg, wie von außen wirksam Druck auf diese israelische Regierung ausgeübt werden könnte. Und auf palästinensischer Seite sehe ich keine zusammenhängende politische Bewegung, die verhandlungsfähig wäre.
Natürlich liegt das zum Teil auch daran, dass Israel gezielt daran gearbeitet hat, die Palästinenser zu spalten. Im Gazastreifen sehen wir heute, wie bewaffnete Anti-Hamas-Banden aufgerüstet werden – die in vielen Fällen mehr Hilfsgüter plündern als Hamas selbst. Im Westjordanland sehen wir eine alternde, korrupte, kleptokratische Führung, die politisch am Abgrund steht. Deshalb sehe ich die Zukunft für Gaza sehr düster. Ich sehe, wie Israel Pufferzonen schafft, Gebäude dem Erdboden gleichmacht, um Flächen freizuhalten, und womöglich dauerhaft wichtige Positionen besetzt. Ich sehe, wie die Menschen in Gaza in immer kleinere Zonen gedrängt werden, unter fortwährender humanitärer Katastrophe leiden – mit gelegentlichen, kurzfristigen Entlastungen, die aber schnell wieder zusammenbrechen. Es ist eine schreckliche Vision – aber ich glaube, sie kann sich noch viele Jahre hinziehen. Ich sehe nicht, dass auf einer der beiden Seiten – vor allem nicht in Israel – derzeit der politische Wille oder die Fähigkeit da ist, echte Konzessionen zu machen, solange sich die Innenpolitik Israels nicht grundlegend verändert.
Mounk: Wechseln wir mal ein paar hundert Kilometer weiter – zu einem Thema, das kaum weniger besorgniserregend ist: dem iranischen Atomprogramm. Wir befinden uns da in einer seltenen Lage in der internationalen Politik – in einer Situation, in der es zwei sehr klare Optionen zu geben scheint, die aber völlig unterschiedliche Konsequenzen haben.
Die eine Option ist, dass Donald Trump eine Art Deal mit Iran schließt – und dann vermutlich seinen Einfluss auf Netanjahu nutzt, um ihn dazu zu bringen, diesen Deal irgendwie mitzutragen. Die andere Möglichkeit ist, dass es zu keinem Deal kommt – und wir Angriffe auf iranische Nuklearanlagen sehen, womöglich mit US-Beteiligung, aber wahrscheinlich primär durch das israelische Militär.
Was steht in diesen Verhandlungen auf dem Spiel? Welche dieser radikal unterschiedlichen Entwicklungen hältst du für wahrscheinlicher? Oder habe ich das vielleicht doch zu klar gezeichnet?
Joshi: Ich glaube, im Großen und Ganzen hast du das richtig beschrieben. Ich denke, wir werden wahrscheinlich einen Deal sehen. Die Amerikaner haben zwar rote Linien gezogen – keine Urananreicherung für den Iran –, aber der Vorteil einer Regierung, die jeden Morgen acht widersprüchliche Aussagen macht, ist: Sie hat mehr diplomatische Beweglichkeit als klar strukturierte Regierungen. Wir sehen also bereits Bewegungen in Richtung Kompromiss. Laut einigen Berichten könnte dieser Kompromiss ein regionales Anreicherungs-Konsortium sein, bei dem Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran gemeinsam anreichern – vielleicht sogar auf einer Insel im Persischen Golf.
Wenn man das auf einer umstrittenen Insel macht, könnten sowohl Iran als auch die Emirate gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung sagen: Wir reichern an – ohne dass das Risiko der Proliferation allzu groß wird. Jedenfalls: Ich halte so eine Lösung für ziemlich wahrscheinlich. Die Trump-Regierung – aus den Gründen, die ich gerade genannt habe – hat nicht den politischen Willen, ihre Bedingungen militärisch durchzusetzen. Wenn Iran also abspringt, glaube ich nicht, dass Trump wirklich bereit ist, Nuklearanlagen zu bombardieren und einen neuen Krieg im Nahen Osten zu riskieren. Also wird es wohl auf einen Kompromiss hinauslaufen – mit einer Wahrscheinlichkeit von 55 bis 60 %, würde ich sagen. Es gibt also noch Spielraum für schlechtere Entwicklungen. Und wenn es so kommt, wird man den Israelis sagen: Ihr schluckt diesen Deal. Uns ist klar, dass ihr das nicht wollt – aber wir lassen euch da jetzt im Regen stehen. Genau das hat man auch bei den Huthis gemacht, als man den US-Einsatz beendete: Man sagte, die Huthis greifen keine Schiffe mehr an – aber erwähnte mit keinem Wort, dass sie weiterhin Raketen auf Israel feuern. Genau so ein Wegdrängen Israels könnte auch beim Iran passieren.
Aber hier wird’s dann komplizierter: Hält sich Israel daran? Ich weiß es nicht. Ich glaube eher nicht. Es ist gut vorstellbar, dass Israel trotzdem zuschlägt – gegen den Willen der USA. Das würde dem iranischen Atomprogramm zwar nur begrenzt schaden – denn Israel fehlen bestimmte Flugzeuge, um tief in unterirdische Anlagen vorzudringen – aber sie könnten hoffen oder kalkulieren, dass die Amerikaner dann gezwungen wären, den Rest zu erledigen, um eine nukleare Bewaffnung Irans zu verhindern. Sprich: Selbst wenn es einen Deal gibt – ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass danach trotzdem ein Angriff kommt.
Mounk: Das würde – zurück zum vorherigen Thema – ja auch dem israelisch-amerikanischen Verhältnis massiv schaden. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Donald Trump damit umgehen würde, wenn Israel ihm quasi ins Gesicht sagt: Wir halten uns nicht an deinen Plan.
Joshi: Das wäre für Israel extrem schwierig durchzuziehen – und für Trump unfassbar frustrierend, so dermaßen öffentlich von einem Verbündeten übergangen zu werden. Aber dann würden ihm die US-Geheimdienste wohl sagen: Mr. President, wenn jetzt Bomben fallen, besteht ein echtes Risiko, dass Iran sein Atomprogramm nicht nur unterirdisch verlagert – sondern gleichzeitig massiv beschleunigt. Man darf nicht vergessen: Dieses Programm wurde formal 2003 gestoppt – durch Ali Khamenei selbst, den obersten Führer des Iran. Und obwohl bestimmte Forschungen weiterliefen, hat Iran das Waffenprogramm nie wieder offiziell aufgenommen. Wenn man jetzt bombardiert, ist es gut möglich, dass Iran aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigt – wie damals nach dem israelischen Angriff auf den Reaktor in Osirak 1981. Damals hat Saddam sein Atomprogramm danach erst richtig beschleunigt – so sehr, dass es 1991 bei den Inspektionen fast fertig war. Trump stünde also dann vor der Wahl: Entweder er zwingt Israel zum Stopp – oder er sagt: Ich habe keine Wahl – ich muss das jetzt zu Ende bringen.
Mounk: Lass uns zum Schluss noch mal rauszoomen und versuchen zu verstehen, wie Trumps Außenpolitik die Welt verändert. Du hast vorhin gesagt, dass es hilfreicher ist, ihn als Vertreter einer Politik der Zurückhaltung zu sehen, als ihn als Isolationisten zu bezeichnen. Ich habe früher mal argumentiert, dass man Trump grundsätzlich mit zwei Prinzipien erklären kann.
Das erste ist, dass er in allen Lebensbereichen – privat, politisch, innen- wie außenpolitisch – eine Nullsummenlogik hat. Für ihn gilt: Damit er gewinnt, muss jemand anderes verlieren.
Das zweite ist, dass er die Welt in Einflusszonen denkt. Und das hilft, einige scheinbare Widersprüche zu verstehen: warum er kein großes Interesse an der Ukraine hat, warum ihm Taiwan – worüber wir noch gar nicht gesprochen haben – ziemlich gleichgültig scheint, und gleichzeitig, warum er mit dem Gedanken spielt, militärisch in Grönland oder am Panamakanal aktiv zu werden. Der Unterschied ist: Die ersten Regionen liegen außerhalb dessen, was Trump als Amerikas Einflussbereich sieht – da will er sich zurückziehen. Die anderen gehören für ihn dazu – und dort will er mehr herausholen. Dort ist er nicht isoliert, sondern versucht, direkte Vorteile zu erzielen.
Wie passt diese Sichtweise mit deinem restriktionsbasierten Verständnis zusammen – oder steht sie im Widerspruch dazu? Und was heißt das für die Richtung, die Trumps Außenpolitik in den verbleibenden dreieinhalb Jahren seiner Amtszeit nehmen könnte?
Joshi: Ich würde dir da im Grunde zustimmen, Yascha. Ich würde nur zwei Punkte ergänzen – und dann auf ein Beispiel eingehen.
Erstens: Wir sollten uns daran gewöhnen, dass Trump ein extrem formbarer Präsident ist. Er lässt sich stark von der letzten Person beeinflussen, mit der er gesprochen hat – oder von der letzten Fox-News-Sendung, die er gesehen hat. Diese Formbarkeit bedeutet, dass die Leute um ihn herum – dieses Kaleidoskop an Meinungen in seiner Regierung – extrem wichtig sind. Ich glaube nicht, dass Trump persönlich aktuell den Rückzug aus Südkorea vorantreibt. Ich denke, das passiert, weil bestimmte Leute mit bestimmten Überzeugungen im Pentagon – auf mittlerer Ebene – diese Linie durchsetzen. In einer chaotischen Regierung ist das möglich. Es gibt einen ständigen Konflikt, eine Art inneres Ringen – zwischen Leuten wie J.D. Vance und Mike Waltz, zwischen Pete Hegseth und Stephen Miller.
Zweitens: Neben deiner Nullsummen-Logik, dem Ressourcen-Extraktivismus und den Einflusszonen gibt es bei Trump auch ein ganz starkes Motiv: Stärke. Er bewundert Stärke. Erfolg. Und deshalb hat seine Haltung oft etwas Amoralisches, fast Nihilistisches. Wenn Russland die Ukraine bombardiert, kommentiert er das vollkommen losgelöst – so nach dem Motto: Wow, das war ein mächtiger Schlag. Deshalb soll er auch beeindruckt gewesen sein, als die Ukraine in Russland zuschlug – obwohl das seinem Ziel, die Eskalation zu stoppen, widerspricht. Aber Stärke beeindruckt ihn. Egal ob Xi Jinping, Kim Jong-un oder ein NATO-Verbündeter – wer Macht zeigt, bekommt seinen Respekt. Das prägt seine Sicht auf die Welt. Was bedeutet das nun konkret?
Ich finde, das schwierigste und widersprüchlichste Feld ist Chinas Rolle. Was will diese Regierung eigentlich in Asien? Wollen sie amerikanische Vormachtstellung – selbst außerhalb der westlichen Hemisphäre? Wollen sie für Verbündete wie die Philippinen wirklich einstehen? Denn das würde erhebliche militärische Präsenz erfordern. Wollen sie also Dominanz? Das war der Tenor von Pete Hegseth, den ich letzte Woche in Singapur auf einer Konferenz gehört habe.
Oder – was eher deinem Modell entspricht – ist Taiwan für sie im Grunde egal? Eine kleine Insel, die angeblich die USA wirtschaftlich ausnutzt, keine Ölreserven bietet, keine Prinzipien berührt. Dann lautet die Frage: Warum überhaupt verteidigen? Warum überhaupt Japan? Die Philippinen? Australien? Und die ehrliche Antwort ist: Wir wissen es nicht. Beide Linien existieren gleichzeitig. Einerseits sagt die Regierung: Wir verstärken unsere Militärpräsenz in Asien. Andererseits priorisiert sie Mexiko, Kanada, Grönland und den Panamakanal – und möchte einen Deal mit Xi Jinping, der Taiwan faktisch außen vor lässt. Es laufen also konkurrierende Impulse ab – und in Asien ist es besonders unklar, wohin das führt.
Mounk: Ich glaube, du hast völlig recht. Man kann sagen: Wir wissen es nicht. Oder auch: Trump selbst weiß es nicht. Es hängt vielleicht schlicht davon ab, welches Thema zuerst groß genug wird, um seine Aufmerksamkeit zu binden. Es hängt davon ab, welcher Berater gerade im Oval Office sitzt, wenn eine Entscheidung fällt. Oder davon, wie sich seine Lieblingsmoderatoren bei Fox News zu diesem Thema äußern. Es könnten sich daraus völlig unterschiedliche außenpolitische Welten ergeben.
Ich mag den Verweis auf Schrödingers Katze eigentlich nicht – er wird zu oft bemüht und falsch verwendet –, aber hier passt er irgendwie. Wenn wir später draufschauen, wird die politische Wissenschaft – unser beider Fach – sicherlich mit vielen Erklärungen aufwarten, warum alles genau so kommen musste. Aber im Moment scheint die Unsicherheit ziemlich offensichtlich.
Joshi: Ja, da hast du recht. Und es geht nicht nur um Berater im Raum. Es geht auch darum, wer ihn auf X (Twitter) gerade beeinflusst. Man sieht das aktuell gut bei Steve Witkoff und Keith Kellogg. Witkoff ist sein inoffizieller Gesandter, hatte an der Waffenruhe in Gaza mitverhandelt, spricht stundenlang mit Putin. Keith Kellogg war mal als Ukraine-Beauftragter vorgesehen, wurde aber rausgedrängt.
Jetzt, wo Putin sich offen über Trump hinwegsetzt, ist Kellogg plötzlich wieder da – er postet wieder, schickt subtile Kritik, schreibt quasi zwischen den Zeilen: Putin spielt dich aus. Er kann das nicht direkt sagen, sonst wäre er sofort weg – aber man sieht, wie dieser Machtkampf öffentlich ausgetragen wird. Es ist der Kampf um den Einfluss auf den König.
Mounk: Gibt es nicht doch etwas an dieser „Madman Theory“ – also der Theorie vom verrückten Präsidenten, der so unberechenbar ist, dass die Gegner lieber nachgeben? Du hast vorhin gesagt, dass die vielen widersprüchlichen Botschaften dieser Regierung ihr auch Flexibilität verschaffen – und dadurch Handlungsoptionen. Unter Obama gab es damals die berühmte rote Linie in Syrien, die dann nicht durchgesetzt wurde – das war ein enormer Reputationsschaden. Wenn aber sieben Leute sieben verschiedene Dinge sagen, verliert der Rückzug seine Fallhöhe.
Joshi: Das gilt – aber nur unter zwei Bedingungen. Erstens: Du brauchst am Ende eine erkennbare strategische Absicht dahinter. Nixon hat die „Madman Theory“ in Vietnam benutzt – aber mit einem konkreten Ziel: den Gegner an den Verhandlungstisch zu bringen. Es war nicht nur Chaos um des Chaos willen.
Zweitens: Du darfst dir keinen Ruf aufbauen, dass du am Ende sowieso einknickst. Du hast die rote Linie von 2013 erwähnt. Und aktuell hört man dieses neue Kürzel: „TACO“ – Trump Always Chickens Out. Das ist natürlich halb im Scherz gemeint, aber wenn sich so ein Ruf verfestigt, ist das fatal. Denn dann glaubt dir niemand mehr, dass du deine Drohungen auch umsetzt – etwa gegenüber Iran.
Mounk: Genau das ist ja das Problem: Die Idee der „Madman Theory“ war ja, dass man so unberechenbar und gefährlich erscheint, dass der Gegner lieber den Rückzieher macht, bevor du tatsächlich durchdrehst. So nach dem Motto: Willst du wirklich riskieren, dass ich die Welt in die Luft jage? Versuch’s – ich mach’s wirklich. Das kann zu katastrophalen Eskalationen führen – aber es kann auch funktionieren, weil der Gegner eher ausweicht.
Aber wenn die Unberechenbarkeit deines Systems nicht als gefährlich und radikal wahrgenommen wird, sondern als chaotisch, impulsiv und letztlich immer rückziehernd – dann ist es genau das Gegenteil der „Madman Theory“. Dann ist es kein Bluff mit Risiko – sondern ein Bluff, den keiner mehr ernst nimmt. Und dann funktioniert er eben auch nicht.
Joshi: Um es ganz klar zu sagen: Genau deshalb ist die NATO gerade so besorgt. Unsere Abschreckung beruht letztlich auf amerikanischen Atomwaffen – wie in Südkorea oder Japan. Es war immer schon schwierig, die Verbündeten vom Prinzip der „erweiterten Abschreckung“ zu überzeugen. Charles de Gaulle hat das mal treffend formuliert: Warum sollte Amerika Boston opfern, um Paris zu retten? Das war schon immer ein harter Verkauf.
Aber unter einem Präsidenten, der – wie du es beschrieben hast – nach Nullsummenprinzip, America First und Transaktionslogik handelt, wird es doppelt schwer. Und wenn dann auch noch der Ruf dazukommt, dass man nach viel Getöse sowieso einknickt, dann ist das Abschreckungspotenzial Amerikas im Moment wirklich ernsthaft beschädigt.
Mounk: Du sprichst natürlich die Frage an, wie man Partnerschaften aufrechterhält. Was glaubst du: Wie wird sich Trumps Präsidentschaft mittel- bis langfristig auf das Bündnissystem der USA auswirken?
Ich sehe da ehrlich gesagt zwei mögliche Entwicklungen – eine optimistische und eine sehr pessimistische. Die optimistische lautet: Die bloße Drohung, dass diese Allianzen verschwinden könnten, zwingt Amerikas Partner dazu, endlich ernsthaft in ihre eigene Verteidigung zu investieren – sich also ein Stück weit zu emanzipieren. Das könnte die Beziehungen auf lange Sicht sogar stabiler machen. Wenn Deutschland tatsächlich deutlich mehr Geld für Verteidigung ausgibt, wenn Länder in Ostasien wie Südkorea oder Japan realisieren, dass sie sich womöglich nicht mehr auf Amerika verlassen können, dann könnten sie ganz neue sicherheitspolitische Strukturen aufbauen. Und wenn nach 2028 wieder ein Präsident ins Weiße Haus einzieht, der nicht Donald J. Trump heißt, dann ließe sich so ein ausgewogeneres Bündnis vielleicht sogar besser an die amerikanische Öffentlichkeit verkaufen – nicht nur als wichtig, sondern auch als fair.
Die pessimistische Version – und ich neige eher zu ihr – ist: Vertrauen ist extrem schwer wiederherzustellen. Viele US-Partner könnten sagen: Nach dem, was Trump in zwei Amtszeiten getan hat – und angesichts der Tatsache, dass diese politische Energie auch nach 2028 nicht einfach verschwindet – können wir uns nie wieder voll auf die USA verlassen. Das wäre nationaler Selbstmord – so wie es ihn von 1945 bis vor wenigen Jahren noch gegeben hätte. Und das wiederum könnte viele Länder dazu bringen, sich stärker abzusichern. Wenn du irgendwo in Südostasien sitzt, sagst du dir vielleicht: Wir müssen einen gewissen Draht zu China halten – sonst stehen wir am Ende ganz allein da. Selbst in traditionell pro-westlichen Ländern wie denen Westeuropas hört man inzwischen Stimmen, die sagen: Vielleicht sollten wir uns zumindest teilweise unabhängig machen. Weiterhin guten Handel mit China pflegen. Und Peking nicht grundlos provozieren – einfach, weil wir nicht in einer Welt leben wollen, in der uns beide Supermächte als feindlich betrachten. Was meinst du: Wie wird das weltweite Bündnissystem in 25 bis 50 Jahren aussehen – und welchen Einfluss hat Trump darauf?
Joshi: Ich denke, es gab immer zwei konkurrierende Denkweisen: Wenn wir unsere militärischen Kapazitäten ausbauen, binden wir dann die Amerikaner stärker ein – weil wir zeigen, dass wir ein verlässlicher Partner sind? Oder geben wir ihnen damit genau das Argument, das sie brauchen, um sich zurückzuziehen – weil wir’s jetzt ja offenbar alleine schaffen? Diese Spannung gab es immer – in Europa wie in Asien.
Aber man muss auch sehen: Trump hat, strukturell betrachtet, einen Prozess nur beschleunigt und verschärft, der längst im Gange war. Es war schon vorher klar: Amerika ist weltweit überdehnt. Es kann nicht alles machen. Es kann nicht dauerhaft der Hauptgarant für die Sicherheit einer extrem wohlhabenden Region wie Westeuropa sein – gegen einen Gegner wie Russland, dessen Wirtschaft so groß ist wie die Spaniens oder Italiens. Vor allem nicht, wenn es gleichzeitig einem echten Systemkonkurrenten wie China gegenübersteht – einem Land mit moderner Rüstungsindustrie, einer größeren Marine als die der USA und präzisen Langstreckenwaffen. Das ist auf Dauer nicht tragbar. Leute wie Robert Gates, früherer Verteidigungsminister, haben das vor 15 Jahren schon ganz offen gesagt – und an die Europäer appelliert.
Man muss also fairerweise auch sagen: Europa war lange ziemlich träge. Man hat diese strukturelle Veränderung einfach nicht ernst genug genommen – und handelt jetzt erst, wie wir beide vorhin schon besprochen haben. Aber dein Punkt ist trotzdem richtig: Wenn jemand wie Trump diesen Prozess anführt, ist die Gefahr groß, dass das Vertrauen komplett zusammenbricht. Und dann kippt die Stimmung sehr schnell in Richtung: Jeder ist sein eigener de Gaulle. Dann geht es nicht mehr nur um Lastenteilung – sondern darum, dass man Amerika gar nicht mehr traut.
Das wird ein Stück weit relativiert durch die Tatsache, dass wir praktisch keine Wahl haben. Wir müssen uns auf die USA verlassen – weil es fünf bis zehn Jahre dauern wird, bis wir selbst einspringen können. In Asien allerdings ist die Lage noch ernster. Dort galt jahrzehntelang – von den USA, aber auch von der Sowjetunion – der Grundsatz: Nukleare Abschreckung ist besser, als wenn sich plötzlich jeder selbst bewaffnet. Es war immer die Strategie der USA, auch teure Sicherheitsgarantien zu geben, um eine unkontrollierbare nukleare Aufrüstung zu verhindern.
Und jetzt sehe ich eine Welt, in der Südkorea – und vielleicht auch Japan – bald sagen: Es bringt nichts mehr. Egal wie viel wir selbst beisteuern – die Allianz mit den USA ist nicht mehr stabil. Wir können uns auf Amerika im Konflikt mit China nicht verlassen. Also brauchen wir eigene Atomwaffen. Und vielleicht ist das ja sogar eine stabilere Welt – eine mit nuklear bewaffnetem Japan und Südkorea. Vielleicht. Aber wenn wir uns anschauen, was wir in den letzten zwölf Monaten erlebt haben – Kriege mit Atommächten: Ukraine gegen Russland, Indien gegen Pakistan, Israel gegen den Iran – dann waren das alles extrem gefährliche, hochdramatische, instabile Situationen.
Eine nukleare Sicherheitsordnung in Asien bedeutet also keineswegs, dass Kriege dann ausgeschlossen sind. Das lehren uns die jüngsten Beispiele nicht. Was ich damit sagen will: Ich weiß nicht, wie es kommt. Aber ich mache mir große Sorgen, dass dein pessimistisches Szenario sich bewahrheitet – mit einem Zusammenbruch des Vertrauens, das nicht durch eigene Fähigkeiten kompensiert werden kann – und mit einer neuen Welle der nuklearen Aufrüstung.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.