Steven Pinker über gemeinsames Wissen – wie es Gesellschaften stärkt und schwächt
Yascha Mounk und Steven Pinker zeigen auch, wie die Spieltheorie unser soziales Leben erklärt.
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Steven Pinker ist Johnstone Professor für Psychologie an der Harvard University, gewähltes Mitglied der National Academy of Sciences, zweimaliger Pulitzer-Finalist, „Humanist of the Year“, einer von Times „100 einflussreichsten Menschen der Welt“ – und Mitglied im Beirat von Persuasion. Sein neuestes Buch heißt When Everyone Knows That Everyone Knows...: Common Knowledge and the Mysteries of Money, Power, and Everyday Life. (Wenn alle wissen, dass alle es wissen …: Gemeinsames Wissen und die Geheimnisse von Geld, Macht und Alltag.)
In diesem Gespräch sprechen Yascha Mounk und Steven Pinker darüber, warum „Common Knowledge“ das wichtigste psychologische Konzept ist, von dem man noch nie gehört hat, warum autoritäre Staaten es fürchten – und wo man in New York jemanden wiederfindet, den man verloren hat.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Ich liebe deine Arbeit. Ich habe viele deiner Bücher gelesen. In deinem neuen Buch schlägst du vor, dass ein scheinbar simples Konzept – “Gemeinsames Wissen“ (im Buch und im weiteren Text „Common Knowledge“ genannt) – in Wahrheit der Schlüssel zum Verständnis ganz unterschiedlicher sozialer Phänomene ist. Du nimmst uns mit auf eine wirklich unterhaltsame Reise, sowohl mit den Anekdoten und Illustrationen, die du lieferst, als auch mit den Bereichen des sozialen Lebens, die du durch dieses scheinbar einfache Konzept erklärst. Bevor wir in einige dieser Punkte und Beispiele einsteigen: Was meinst du mit „Common Knowledge“?
Steven Pinker: Ich benutze den Begriff in einem technischen Sinn, der sich vom Alltagsverständnis von „gängiger Meinung“ oder „etwas, das die Leute wissen“ unterscheidet. „Common Knowledge“ im technischen Sinn bedeutet, dass alle wissen, dass alle etwas wissen – und alle wissen, dass alle es wissen, und so weiter, ins Unendliche. Also: Ich weiß etwas, du weißt es, ich weiß, dass du es weißt, du weißt, dass ich es weiß, ich weiß, dass du weißt, dass ich es weiß, und so weiter.
Die Leute fangen an zu schmunzeln, wenn ich das erkläre, weil es so kompliziert klingt. Es wirkt unmöglich – und doch greift es etwas sehr Vertrautes aus der menschlichen Natur auf: Wir versuchen ständig, in die Köpfe der anderen zu schauen.
Zunächst einmal: „Common Knowledge“ ist nicht unmöglich. Der Grund, warum dabei nicht alle Köpfe explodieren, ist, dass man es auf einen Schlag bekommt, wenn etwas offensichtlich, augenfällig, öffentlich oder einfach „da draußen“ ist. Wenn du etwas siehst und gleichzeitig siehst, dass jemand anderes es auch sieht – und umgekehrt –, dann entsteht damit automatisch „Common Knowledge“. Psychologisch zeigt sich das in dem Gefühl, dass etwas „da draußen“ ist, wie wir es ja auch metaphorisch sagen. Andere Metaphern sind „es stand ihm ins Gesicht geschrieben“ oder „der Elefant im Raum“. Das sind Fälle, in denen etwas so auffällig ist, dass man weiß, dass die anderen es zur selben Zeit ebenfalls sehen.
Das ist die Idee. Warum ist das wichtig? Hier führe ich die Leser an etwas heran, das in vielen akademischen Bereichen wohlbekannt ist, aber noch nicht – im wahrsten Sinne – zu „Common Knowledge“ geworden ist. Nämlich, dass es für Koordination unerlässlich ist: dafür, dass zwei oder mehr Leute auf derselben Wellenlänge sind. Auch Entscheidungen, die völlig willkürlich erscheinen, können enorm nützlich sein, wenn alle die gleiche Entscheidung treffen. Das einfachste Beispiel wäre ein Treffen: Wir verabreden uns an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Der einfachste Weg, das sicherzustellen, ist ein Anruf – der schafft „Common Knowledge“. Ohne diese gemeinsame Basis reicht es aber nicht, wenn ich weiß, dass du gern zu Starbucks gehst, denn vielleicht weißt du, dass ich gern zu Peet’s gehe, und deshalb gehst du diesmal zu Peet’s, weil du denkst, mich dort zu treffen. Aber ich gehe zu Starbucks, weil ich denke, dass du dorthin gehst – und dann überlege ich es mir wieder anders, weil ich weiß, dass Yascha weiß, dass ich Peet’s mag, und darum wird er sicher zu Peet’s gehen. Gleichzeitig denkt Yascha: Steve weiß, dass ich Starbucks mag, also wird er sicher zu Starbucks gehen.
Mounk: Es wird zu einem Ratespiel, bei dem man das Verhalten des anderen nicht zuverlässig einschätzen kann – auch weil der andere ja ebenfalls versucht, deins vorauszusagen.
Pinker: Genau. Das ist ein einfaches Beispiel. Aber viele große gesellschaftliche Prozesse beruhen genau darauf – etwa die Frage, ob man links oder rechts fährt. Es spielt keine Rolle, welche Seite es ist. Aber es ist entscheidend, dass alle auf derselben Seite fahren – und dass alle wissen, dass alle auf derselben Seite fahren, und auch wissen, welche Seite das ist.
Mounk: Wenn ich nicht sicher wäre, dass wirklich jeder weiß, dass wir rechts oder links fahren sollen – je nachdem, ob in Großbritannien, Indien oder wo auch immer – dann müsste ich selbst auf einer Straße, auf der ich viele rechts fahren sehe, unglaublich vorsichtig sein. Denn vielleicht ist jemand nicht im Bilde und fährt plötzlich auf der linken Seite – und wir krachen frontal ineinander.
Pinker: Ganz genau. Und tatsächlich hat Schweden 1969 beschlossen, vom Linksverkehr auf den Rechtsverkehr umzusteigen, um sich an Kontinentaleuropa anzupassen. Das war ein riesiges Problem. Es gab lange Vorankündigungen, und die Umstellung fand punktgenau statt – ich glaube, es war Mitternacht am 31. Dezember. Es war ein Datum, das im Kalender herausstach, und genau das machte es möglich. Oft werden Koordinationsprobleme, bei denen es kein „Common Knowledge“ im strengen Sinn gibt, durch ein sogenanntes Fokal- oder Schelling-Punkt-Ereignis gelöst: etwas, das so hervorsticht, dass alle sich daran orientieren können. Thomas Schelling hat dazu die berühmte Parabel von einem Paar erzählt, das in New York getrennt wurde – lange bevor es Handys gab. Er stellte sich vor, beide könnten unabhängig voneinander den Treffpunkt an der Uhr in der Grand Central Station um zwölf Uhr mittags wählen, selbst wenn das nicht in der Nähe des Ortes war, wo sie sich verloren hatten. Einfach weil jeder davon ausgehen konnte, dass es dem anderen in den Sinn kommen würde – und noch wichtiger: dass der andere wüsste, dass es auch ihm selbst in den Sinn kommen würde.
Mounk: Das ist spannend, denn in New York fallen mir sofort mehrere solcher Schelling-Punkte ein. Times Square wäre ein naheliegendes Beispiel. Oder vielleicht sogar die Freiheitsstatue – wobei die natürlich zu abgelegen ist, also eher unwahrscheinlich. In manchen europäischen Städten gibt es eindeutigere Fokalpunkte. In München, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, würde man sich definitiv am Marienplatz treffen: dem zentralen Platz mit der Uhr. Das ist sofort klar. Amerikanische Städte sind so gebaut, dass es da oft weniger offensichtliche Punkte gibt.
Lass uns zu einem zweiten Thema kommen – des Kaisers neue Kleider. Am Anfang dieser Geschichte haben wir eine Situation, in der jeder dasselbe weiß. Alle wissen, dass der Kaiser keine Kleider trägt. Sie schauen ihn an, sie sehen, dass er nackt ist, sie sehen seine Genitalien – und doch würdest du sagen, dass das noch kein Common Knowledge ist. Da gibt es diesen entscheidenden Unterschied zwischen „alle wissen es“ und „alle wissen, dass alle es wissen“. Was ist dieser Unterschied und warum ist er so wichtig? Warum macht es so einen Unterschied, ob einfach alle es wissen – oder ob alle auch wissen, dass es alle wissen?
Pinker: Genau – und als das Kind herausplatzt „der Kaiser ist nackt“, sagt es nichts, was die anderen nicht ohnehin schon wussten. Aber es veränderte den Zustand ihres Wissens: Jetzt wusste jeder, dass alle es wussten – und jeder wusste, dass die anderen es wussten. In der bekannten Version der Geschichte veränderte das ihre soziale Beziehung zum Kaiser – von unterwürfiger Verehrung zu Spott und Verachtung.
Die zweite wichtige Idee ist deshalb: Ich argumentiere, dass soziale Beziehungen Koordinationsspiele sind. Ob man sich jemandem unterordnet, ob man enge Freunde ist, ob man Liebende ist, ob man Geschäftspartner ist – all das sind Fragen von Common Knowledge. Was macht zwei Menschen zu Freunden? Es ist ja nicht so, dass sie einen Vertrag unterschreiben. Aber jeder weiß, dass der andere weiß, dass sie Freunde sind, und jeder weiß, dass der andere das weiß, und so weiter. Und oft betreffen auch Statusfragen – wie im Fall des Kaisers, also Würde und Ansehen – genau dieses Common Knowledge: Fragen von Respekt, Autorität und Anerkennung.
Der Grund, den die Spieltheorie angibt, ist folgender: Sehr oft kommt es bei einer Begegnung zweier Akteure dazu, dass beide eine Ressource wollen. Werden sie darum kämpfen? Nicht unbedingt – denn es kann im Interesse beider liegen, wenn einer nachgibt und der andere die Ressource bekommt, falls die Kosten des Kampfes höher sind als der Wert der Ressource selbst. Das Dilemma ist natürlich, dass jeder lieber der Alpha wäre – derjenige mit der Autorität, dem sich der andere unterordnet. Aber sobald sich diese Rollen festigen, ergibt sich Folgendes: Der Untergeordnete ordnet sich dem Dominanten unter, weil er weiß, dass der Dominante standhält. Und der Dominante hält stand, weil er weiß, dass der Untergeordnete nachgibt. Und der Untergeordnete gibt nach, weil der Dominante weiß, dass er nachgeben wird. Weil beide wissen, dass der Dominante standhält – und so weiter.
Darum besteht so viel vom sozialen Leben aus kleinen Spielen, in denen wir Gesicht wahren oder verlieren. Deshalb gibt es Machtspielchen, deshalb kann es tatsächlich zu Schlägereien kommen, wenn jemand, der immer den Kürzeren zieht, beschließt, den Dominanten herauszufordern. Und deshalb haben so viele Tötungsdelikte mit dem zu tun, was die Polizei als „banale Auseinandersetzungen“ einstuft: Road Rage, Streit um einen Billardtisch, Rempeleien, Beleidigungen, jemandem in die Augen schauen. Und auf internationaler Ebene führt das buchstäblich zum Krieg. Viele Kriege – am offensichtlichsten Russland und die Ukraine – gehen im Kern um nichts außer Ansehen, Gesichtsverlust, Wiedergutmachung von Demütigungen, Vergeltung. Es ist wichtig, auch wenn es in einem Sinn banale Auseinandersetzungen sind, weil damit entschieden wird, wer sich künftig wem unterordnet – in einer endlosen Reihe künftiger Konfrontationen.
Mounk: In der Spieltheorie gibt es ja verschiedene berühmte, klassische Szenarien. Bei einigen deiner Beispiele scheint mir das wichtigste theoretische Spiel das „Chicken Game“ zu sein. Das läuft so – es gibt verschiedene Varianten – aber eine davon kennt man aus dem Film Denn sie wissen nicht, was sie tun. Da fahren zwei Leute mit Autos auf eine Klippe zu. Die Frage ist: Wer springt zuerst raus? Wer zuerst aussteigt, verliert sein Gesicht. Aber wenn keiner früh genug aussteigt, stürzen sie beide über die Klippe und verlieren ihr Leben.
Dein Punkt ist, dass man in bestimmten Situationen besser keinen Ruf hat, schnell nachzugeben. Denn wie nah ich mich an die Klippe heranwage, hängt davon ab, wie ich dich einschätze. Wenn ich dich für einen absoluten Feigling halte, der garantiert lange vor der Klippe abspringt, dann fahre ich weiter, weil ich weiß: Am Ende springt er schon raus, und dann kann ich das Auto stoppen. Wenn ich dich aber für einen verrückten Hund halte, der alles tun wird, um zu gewinnen, dann bin ich viel eingeschüchterter und springe vielleicht sehr viel früher beiseite.
Ich verstehe dich also so, dass du das auf ein innerstädtisches Chicken Game überträgst, bei dem einer sagt: „Hast du mich schief angeschaut? Hast du ein Problem mit mir? Was ist los?“ Rational wäre es, nachzugeben: „Nein, ich habe dich nicht angesehen, alles gut.“ Kopf runter und weitergehen. Aber damit signalisiert man, dass man sich einschüchtern lässt, dass man angreifbar ist. Und wenn man erst einmal den Ruf hat, dass man angreifbar ist, werden andere viel eher Chicken Games mit einem spielen, weil sie wissen, dass man zurückweicht. Und diesen Ruf kann man sich nicht leisten. Also kann es wegen völlig banaler Dinge zu gefährlichen – vielleicht sogar tödlichen – Auseinandersetzungen kommen, weil dieser Ruf so entscheidend ist. Und das hängt mit Common Knowledge zusammen. Warum? Weil man kein Common Knowledge darüber schaffen darf, dass man bereit ist, zurückzuweichen.
Pinker: Genau. Denn im Chicken Game – das mathematisch dasselbe ist wie das, was Evolutionsbiologen manchmal Hawk-Dove-Spiel nennen, wenn zwei Tiere um eine Ressource konkurrieren – ist das schlechteste Ergebnis der Kampf: Beide könnten sterben, selbst der Gewinner könnte tödlich verletzt werden. Am besten wäre es, wenn man die Ressource teilt oder sich auf eine Konvention einigt, zum Beispiel: Wer zuerst da ist, bekommt sie, und der andere zieht sich zurück. Aber ja: In Chicken oder Hawk-Dove kommt Common Knowledge ins Spiel, weil eine stabile Beziehung, in der einer nachgibt und der andere sich durchsetzt, die Sache entscheiden kann, wenn das Vermeiden eines Kampfes besser ist als der Kampf selbst. Der Verlierer zu sein, ist zwar bitter, aber besser als tot zu sein. Das Problem ist, wenn sich eine dauerhafte Beziehung etabliert, in der einer immer dominiert und der andere immer nachgibt. In der Tierwelt wird das manchmal durch ziemlich willkürliche Konventionen geregelt. Deshalb brüllen Tiere, stellen sich auf, imponieren.
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All diese Rituale versteht man heute als Hawk-Dove-Konfrontationen. Das sind Fälle, in denen es besser ist, wenn einer nachgibt, als wenn beide kämpfen. Natürlich kommt es trotzdem manchmal vor, dass Tiere bis zum Tod kämpfen oder Armeen tatsächlich auf dem Schlachtfeld aufeinandertreffen. Wenn der Ausgang ohnehin klar ist, ist es für beide Parteien rational, wenn der Schwächere dem Stärkeren ohne Kampf den Vortritt lässt. Und was passiert mit dem Beta, der immer den Kürzeren zieht? Er könnte den Alpha herausfordern – riskant. Oder er verlässt einfach diese Beziehung und sucht sich einen anderen Partner, wenn er die Möglichkeit dazu hat.
Ein anderes Beispiel geht zurück auf Jean-Jacques Rousseau: das Stag Hunt. Stell dir zwei Jäger vor, die gemeinsam mit schweren Waffen einen Hirsch erlegen können. Es gibt das Risiko, dass, wenn einer mit Bogen und Pfeil kommt und der andere nur mit einer Steinschleuder, der mit dem Bogen den Hirsch allein nicht erlegen kann. Wenn aber beide nur mit Schleudern kommen, landen sie am Ende nur bei ein paar mickrigen Kaninchen.
Mounk: Die Idee ist also: Wenn beide kooperieren, ist das Ergebnis für beide sehr positiv. Aber wenn einer aussteigt und nicht mit dem Bogen hilft – wobei vorausgesetzt ist, dass es zwei braucht, um den Hirsch zu erlegen –, dann hat der andere keine Chance. Er geht hungrig nach Hause. Derjenige, der auf Kaninchenjagd geht, hat dagegen gute Chancen, wenigstens etwas zum Abendessen zu haben. Ist das der Hintergrund?
Pinker: Genau. Es ist kein Gefangenendilemma, weil es nicht um Verrat, Egoismus oder Loyalität geht. Es geht um Sicherheit, Vertrauen, Zuversicht. Wenn jeder fürchtet, dass der andere nur mit einer Schleuder auftaucht, dann bringt er auch eine Schleuder – die sichere, aber weniger lukrative Option. Das passiert in Abwesenheit von Common Knowledge. Common Knowledge löst das Problem. Wenn sie ein Telefonat führen – „Wir jagen Hirsch“ –, dann gewinnen beide. Ohne Telefonat, wenn jeder rät, was der andere bringt, landen sie automatisch bei der zweitbesten – und gleichzeitig zweitschlechtesten – Lösung: jeder begnügt sich mit Kaninchen.
Mounk: Für die Zuhörer, die mit Spieltheorie nicht so vetraut sind: Der entscheidende Unterschied zum Gefangenendilemma ist, dass im Stag Hunt beide ein Interesse an Kooperation haben. Solange sie es schaffen, beide zu kooperieren, ist das Ergebnis für beide besser. Das Beste ist, wenn beide kooperieren. Also haben sie beide ein Interesse daran, das zu schaffen. Ich weiß: außer du bist ein Idiot oder vergisst es oder bist abgelenkt, wirst du mit deinem Bogen kommen, weil du selbst kein Interesse daran hast, nur ein kleines Tier zu jagen.
Pinker: Genau. Es ist das Paradebeispiel für Common Knowledge, weil es nicht um Loyalität, Prinzipientreue oder Angst vor Verrat geht. Es geht nur darum, dass man fürchtet, der andere kooperiert nicht – weil er wiederum fürchtet, dass man selbst nicht kooperiert, und so weiter.
Mounk: Das Gefangenendilemma ist anders. Da geht es um zwei Verdächtige. Wenn beide kooperieren, gibt es eine mildere Strafe. Aber wenn ich kooperiere und du nicht – also du zur Polizei gehst und mich verpfeifst –, dann bekomme ich zehn Jahre und du kommst frei. Umgekehrt genauso. Selbst wenn wir also Common Knowledge hätten, selbst wenn wir uns anrufen und schwören: „Ich sage nichts, du auch nicht“, bleibt das Problem: In diesem Szenario habe ich immer einen Vorteil, wenn ich dich verrate. Egal, was du machst – wenn ich aussteige, stehe ich relativ besser da. Das ist Common Knowledge: Ich weiß, dass du ein Interesse hast, auszusteigen, und du weißt, dass ich eins habe. Wahrscheinlichstes Ergebnis: Wir beide steigen aus. Und landen bei einem schlechteren Resultat, als wir es durch Kooperation hätten haben können.
Aber man muss auch sehen: In vielen Situationen passt das Gefangenendilemma gar nicht. Wenn man alles durch diese Linse betrachtet, hat man ein viel zu negatives Bild der sozialen Welt.
Pinker: Genau. Im Gefangenendilemma ist das Beste, wenn du aussteigst und der andere loyal bleibt – dann bekommt er das schlechteste Ergebnis, und du das beste. Im Stag Hunt ist das Beste, wenn beide kooperieren – dann gehen beide mit viel Fleisch nach Hause. Das Gefangenendilemma ist dasselbe wie das, was man manchmal „Tragödie der Allmende“ nennt: Das einzige Gleichgewicht ist, dass beide aussteigen. Und entscheidend: Es spielt im Gefängnis, Kommunikation hilft nicht. Es ist das, was man in der Spieltheorie „cheap talk“ nennt. Wenn einer sagt: „Ich bleibe loyal, wenn du es auch tust“ – warum sollte der andere dir glauben, wenn es trotzdem in deinem Interesse ist, auszusteigen, egal was er tut? Jeder geht diesen Monolog im Kopf durch. Beide steigen aus. Beide landen beim zweitschlechtesten Ergebnis.
Im Stag Hunt dagegen ist Kommunikation selbstverstärkend. Wenn ich sage: „Ich komme morgen mit Bogen und Pfeil“, habe ich keinen Grund, abzuspringen. Wenn ich weiß, dass der andere es hört und bestätigt, dann gewinnen beide. Ganz allgemein: Bei Koordination, Common Knowledge und Spieltheorie gilt – wenn ein Spiel zwei Gleichgewichte hat, also Situationen, in denen keiner einen Anreiz hat, seine Wahl zu ändern, dann ist die Frage: Welches Gleichgewicht setzen sie um? Darum hat Schelling schon vor 60 Jahren betont, dass Willkür, Launen, historische Zufälle entscheidend sein können. Für das Paar in der Grand Central Station gibt es keinen zwingenden Grund, sich genau dort zu treffen. Aber es sticht als Lösung hervor.
Mounk: Ein Beispiel für so einen Schelling-Punkt in der Politik sind für mich Wahlen in Diktaturen. Warum legen Diktatoren so viel Wert darauf, Wahlen abzuhalten, wenn doch offensichtlich ist, dass sie gefälscht sind? Ich würde vermuten, die meisten Diktaturen weltweit halten Wahlen ab – was eigentlich ziemlich erstaunlich ist. Warum?
Meine Vermutung – nicht hundertprozentig sicher, aber plausibel – ist: Wenn sie aufhören, Wahlen abzuhalten, ist das ein klarer Beweis, dass sie keine Demokratie mehr sind. Bis dahin können verbündete Länder aus geopolitischem Interesse oder Leute im eigenen Staat so tun, als ob. Selbst wenn alle wissen, dass es Bullshit ist, können manche so tun, als wüssten sie es nicht. Aber sobald eine Wahl abgesagt wird – wenn es früher alle vier Jahre eine Wahl gab, und plötzlich nach fünf oder sechs Jahren keine mehr –, kann keiner mehr so tun. Das könnte einer der Gründe sein, warum sie weitermachen.
Pinker: Vor allem, wenn öffentlich verkündet wird, dass Wahlen abgesagt sind – dann können sich alle koordinieren. Denn dann weiß jeder, dass alle anderen wissen, dass sie in einer Diktatur leben. Und klar: Regime halten sich mit Common Knowledge-Phänomenen an der Macht. Das habe ich von Michael Chwe, der vor rund 25 Jahren ein Buch mit ähnlichem Thema geschrieben hat: Rational Ritual. Er beschreibt darin die Rolle von Common Knowledge. Ein Beispiel ist die öffentliche Demonstration. Warum ist Versammlungsfreiheit in Verfassungen verankert? Weil jeder in einer Diktatur zwar weiß, dass sie ineffizient, korrupt und grausam ist – und vielleicht sogar ahnt, dass alle anderen das ebenfalls glauben. Aber er kann nicht sicher sein, dass alle wissen, dass alle es glauben. Ohne das Sicherheitsgefühl der Masse fürchtet jeder, allein aufzufallen. Wenn aber alle gleichzeitig aufstehen, gibt es kein Regime auf der Welt, das das aushalten könnte. Zum Beispiel sagte man einem britischen Offizier: Am Ende müsst ihr gehen – es ist schlicht unmöglich, dass 100.000 Engländer 350 Millionen Inder kontrollieren, wenn die Inder nicht kooperieren.
Das ist eine simple Rechenaufgabe. Er hätte auch sagen können: Koordiniert euch. Genau deshalb müssen Diktatoren verhindern, dass die Menschen sich koordinieren. Selbst wenn alle das Regime hassen, dürfen sie nicht gleichzeitig aufstehen und den Palast stürmen oder die Arbeit niederlegen. Darum unterdrücken sie Pressefreiheit und Meinungsfreiheit – alles, was Common Knowledge erzeugen könnte. Ich erzähle dazu einen alten Witz aus der Sowjetunion: Ein Mann verteilt Flugblätter auf dem Roten Platz. Der KGB verhaftet ihn, bringt ihn ins Hauptquartier – und stellt fest, dass die Blätter leer sind. „Was soll das?“, fragen sie. Er antwortet: „Was soll ich denn noch draufschreiben? Es ist doch offensichtlich.“ Der Punkt des Witzes: Er erzeugte subversives Common Knowledge. Allein dadurch, dass er die Blätter verteilte, wusste jeder, dass alle wussten, dass es einen Grund gab, das Regime abzulehnen. Und genau das wollten die Behörden verhindern. Und wie im Witz hat Putins Polizei Demonstranten verhaftet, die nur ein leeres Schild hochhielten. Denn das leere Schild ist subversiv: Auch ohne Text erzeugt es Common Knowledge.
Mounk: Beim Lesen deines Buches musste ich immer wieder an einen meiner Lieblingsaufsätze denken: The Power of the Powerless von Václav Havel. Darin beschreibt er – ohne diesen Begriff zu benutzen – die Macht von Common Knowledge auf zwei Arten. Erstens: Wenn du Gemüsehändler bist, musst du in deinem Laden ein Schild mit einem Slogan wie „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ aufstellen. Das ist inhaltsleer, ein hohler Spruch. Alle wissen, dass es ein hohler Spruch ist. Aber wenn du es verweigerst, giltst du sofort als subversiv. Ich denke, es soll zweierlei bewirken. Zum einen soll es Common Knowledge darüber schaffen, dass alle dem Regime Folge leisten. Und selbst wenn alle wissen, dass es erzwungen ist – wenn man überall diese Schilder sieht, entsteht das Common Knowledge: Meine Mitbürger gehorchen tatsächlich dem Diktat dieses Regimes. Ich mag es nicht, ich ahne, dass es unpopulär ist. Aber dieses tägliche, sichtbare Common Knowledge zeigt mir: Alle anderen tun es – also sollte ich es auch tun.
Zweitens, so Havel, haben gerade deshalb die Bürger eine enorme Macht in einem totalitären Regime. Denn deine Weigerung, das Schild aufzuhängen, bekommt ungeheure politische Sprengkraft. Auch wenn es harmlos wirkt: Wenn viele Leute sich weigern, diesen kleinen, banalen Forderungen nachzukommen, dann kann das der Anfang von neuem Common Knowledge sein. Zu wissen: Ich bin nicht allein. Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Meine Mitbürger empfinden genau dasselbe, was ich bisher nur vermutet habe.
Pinker: Am besten funktioniert es, wenn alle es gleichzeitig tun – wenn also alle wissen, an welchem Tag sie die Schilder abnehmen. Genau deshalb unterdrücken Diktaturen Pressefreiheit, Redefreiheit und Versammlungsfreiheit. Das ist weniger offensichtlich, als man denkt. Man könnte meinen: Der Diktator kann die Leute doch schimpfen lassen, er hat ja die Waffen, die Macht. Aber der Grund, warum er es nicht zulässt, ist: Sicherheit gibt es nur in der Masse. Aber nur, wenn alle gleichzeitig Widerstand leisten, können sie das Regime überwältigen. Und das geht nur mit Common Knowledge. Übrigens: Solche öffentlichen Proteste sind ein Stag Hunt – es liegt im Interesse aller, wenn alle gemeinsam handeln.
Mounk: Das bringt uns übrigens zurück zu dem Punkt, den ich vor ein paar Minuten über die Politik von Wahlen in Diktaturen machen wollte. Einerseits will man nicht öffentlich ankündigen, dass Wahlen abgesagt werden – weil das einen Schelling-Punkt schafft. Das wäre der Moment, in dem Unzufriedene sagen: „Wir haben gerade erfahren, dass es keine Wahl geben wird. Lasst uns dagegen protestieren.“ Andererseits gilt aber auch: Selbst wenn man eine Wahl abhält und jeder schon vorher weiß, dass sie gefälscht ist, jeder erwartet, dass das Ergebnis manipuliert wird – in dem Moment, in dem die offiziellen Ergebnisse verkündet werden und der Diktator je nach Ehrgeiz 55, 85 oder 99 Prozent der Stimmen erhält, ist das ebenfalls ein natürlicher Koordinationspunkt. Dann können die Leute sagen: „Diese Wahl wurde gestohlen.“ Man sieht also: Der Umgang mit Common Knowledge und der Versuch, solche Schelling-Punkte zu vermeiden, ist ein zentrales Element der Politik von Diktaturen.
Pinker: Und Schelling-Punkte spielen oft auch bei entscheidenden historischen Ereignissen eine Rolle, wenn es zu dem kommt, was ich „gemeinschaftliche Empörung“ nenne. Wenn ein Angriff auf eine bekannte Person geschieht, die große Aufmerksamkeit bekommt und die eine ganze Gruppe symbolisiert, dann kann das die gesamte Gruppe mobilisieren. So ein Ereignis kann ein Schelling-Punkt sein, der sie dazu bringt, massive Aggression gegen die vermeintliche Tätergruppe zu richten. Das Ereignis selbst ist der Schelling-Punkt, der Generator von Common Knowledge, der ihnen erlaubt, ihren Widerstand zu koordinieren. Beispiele sind 9/11, Pearl Harbor, das „Maine“-Unglück oder die Lusitania – Fälle, in denen die Reaktion unverhältnismäßig wirkt. Aber es ist, als ob der Angriff auf einen von uns, weil er Common Knowledge ist, bedeutet: Wenn wir ihn hinnehmen, akzeptieren wir auf Dauer den Status des Beta, den der Untergeordneten. Wir müssen ihn herausfordern – und zwar in hochöffentlichen Formen –, um unseren dominanten Status zurückzugewinnen oder zu behaupten.
Mounk: Was sagt dir all das über die Madman-Theorie in den internationalen Beziehungen? Die einfache Version lautet: Es kann in den internationalen Beziehungen ein großer Vorteil sein, wenn andere denken, dass du ein bisschen verrückt bist. Denn zurück zum Chicken Game: Wenn die Leute glauben, dieser Typ ist so verrückt, dass er wirklich bereit ist, wegen Kuba oder was auch immer in den Atomkrieg zu ziehen, dann wird die Gegenseite nachgeben, weil sie keine gegenseitig zugesicherte Zerstörung riskieren will. Nun gibt es daran einen interessanten Aspekt, den ich erst durch die Überlegung im Licht von Common Knowledge verstanden habe: Damit das funktioniert, braucht man ja das Common Knowledge, dass man verrückt ist. Es geht darum, dass ich weiß, dass der andere Staatschef weiß, dass ich verrückt bin. Ideal ist die Situation, in der ich mich völlig rational verhalte, aber der andere glaubt, ich sei verrückt. Das schlimmste Szenario dagegen ist, dass der andere denkt, ich sei rational, während ich tatsächlich verrückt bin. Die Madman-Theorie der internationalen Beziehungen ist also subtiler, als ich zuvor gesehen habe, wenn man sie aus der Perspektive von Common Knowledge betrachtet.
Pinker: Ja, auch hier gebührt Thomas Schelling das Verdienst. Er nannte das eine paradoxe Taktik, und sie gilt für das Chicken Game oder das Hawk-Dove-Spiel. Stell dir zwei Teenager vor, die mit hoher Geschwindigkeit auf einer engen Straße aufeinander zurasen. Einer klemmt das Lenkrad fest, legt einen Ziegelstein aufs Gaspedal – für den anderen gut sichtbar – und hebt die Hände. Völlig verrückt, aber er gewinnt das Chicken Game. Es sei denn natürlich, es ist Common Knowledge. Wenn der andere es sieht, ist der ganze Zweck verfehlt. Das birgt zwei Gefahren: Erstens, wenn beide gleichzeitig die Madman-Strategie spielen, kracht es. Zweitens: Es wurde spekuliert, dass Politiker wie Richard Nixon, Donald Trump oder Kim Jong-un zeitweise diese Strategie angewendet haben – Dinge getan haben, die offenkundig gegen ihre eigenen Interessen waren, einfach um unberechenbar zu wirken.
Wenn jemand ein Madman ist, kannst du ihm kein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann. Er kann es nämlich trotzdem ablehnen – und gewinnt dadurch die Konfrontation. Die andere Lösung ist: Wenn einer die Madman-Strategie fährt, musst du, wenn möglich, einfach nicht mehr mit ihm verhandeln. Und natürlich gibt es Alltagsäquivalente: Viele von uns hatten Freundschaften oder Beziehungen mit Menschen, die stur, irrational, unvernünftig sind – und die trotzdem immer ihren Willen durchsetzen, weil man mit ihnen schlicht nicht vernünftig reden kann. Das Risiko, das sie dabei eingehen, ist die „Scheidung“ – also das Ende der Beziehung, wenn der andere genug hat.
Mounk: Das ist ein sehr interessanter Punkt. Leider gibt es in den internationalen Beziehungen, wenn zwei Atommächte sich bedrohen, nicht die Möglichkeit, einfach den Kontakt abzubrechen. Im Privaten dagegen ist es die rationale Lösung, wenn jemand ein Chicken Game oder das Madman-Spiel mit dir spielt, einfach zu sagen: „Okay, dann verbringe ich meine Zeit mit anderen.“ – Ich habe unseren Ausflug in die hohe Politik und internationale Beziehungen sehr genossen, aber zurück zur sozialen Welt: Wenn wir die Bedeutung von Common Knowledge verstehen und wie es sich in verschiedenen Lebensbereichen zeigt, dann bekommen wir ein neues Gespür für die vielen Rituale, Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die darauf abzielen, Common Knowledge zu erzeugen oder zu steuern.
Eine Hochzeit zum Beispiel ist eine Form von Common Knowledge. Sie schafft und feiert eine gemeinsame Verpflichtung. Und sie soll nicht nur – wie ein Ehering – anzeigen, dass jemand nicht mehr verfügbar ist, „vom Markt“ ist, sondern sie macht es auch kostspieliger, die Beziehung nicht zu pflegen. Es ist peinlicher, sich nach einer großen Hochzeit zu trennen, als wenn man nur eine Weile zusammen war. Das ist eine Möglichkeit, Common Knowledge zu schaffen, um eine menschliche Beziehung zu festigen. Es gibt aber auch Rituale, die das Gegenteil bewirken sollen: Floskeln oder Andeutungen, die uns helfen, so zu tun, als wüssten wir etwas nicht – um bewusst zu vermeiden, dass Wissen zu Common Knowledge wird, das uns dann zum Handeln zwingen könnte. Erklär uns ein bisschen, wie diese verschiedenen Arten, mit Common Knowledge umzugehen, in unserer sozialen Welt funktionieren.
Pinker: Ja, absolut. Viele Rituale – Initiationen, Investituren, Krönungen, Amtseinführungen, Hochzeiten – sind öffentliche Ereignisse. Man erlebt das Ereignis gleichzeitig mit allen anderen und sieht, dass die anderen es auch erleben. Das erzeugt Common Knowledge, das ein neues Gleichgewicht herstellt: sei es ein Initiationsritual, eine Bar Mitzwa oder eine Hochzeit. Die Gesellschaft einigt sich stillschweigend darauf, diese Person nun als Erwachsenen zu behandeln, als „vergeben“, als Autoritätsperson und so weiter. Wir haben solche Rituale auch in unseren Alltagsbeziehungen. Oft beginnt eine Freundschaft, wenn man gemeinsam isst oder ins Stadion geht. Es gibt irgendein Ereignis, das beide als gemeinsamen Schritt wahrnehmen und das die Beziehung auf eine neue Ebene hebt. In einer romantischen Beziehung ist es oft ein Satz. Ich zitiere eine Seinfeld-Folge: George erzählt Jerry und Elaine, dass er seiner Freundin heute Abend sagen will: „Ich liebe dich.“ Jerry antwortet: „Georgie, das ist ein großer Schritt. Wenn du ‚Ich liebe dich‘ sagst und es nicht erwidert wird, hast du einen riesigen Matzo-Ball in der Luft hängen.“
Dieser Matzo-Ball ist eine großartige Metapher für Common Knowledge: ein auffälliges Symbol, das beide sehen und von dem jeder weiß, dass der andere es sieht – und das so die Beziehung verändert. Umgekehrt erklärt es auch, warum Menschen manchmal auffällige öffentliche Gesten vermeiden. Das erklärt viel von der Heuchelei, der Höflichkeit, den Euphemismen, Andeutungen, Takt und dem Savoir-faire, die viele Beziehungen prägen. So kam ich von meinem Interesse an Sprache zu diesem Thema.
Linguisten wissen seit Jahrzehnten: In echter Kommunikation meinen Menschen oft nicht wörtlich, was sie sagen. Das war einer der Gründe, warum es so lange dauerte, bis Computer Sprache verstehen konnten. Wenn man nur Grammatikregeln einprogrammiert – Subjekt, Verb, Objekt – funktioniert es nicht. Denn „If you could pass the salt, that would be awesome“ heißt nicht wörtlich „Falls du das Salz reichen könntest, wäre das toll“, sondern: „Reich mir bitte das Salz.“ Oder verschleierte Bestechungen: Wenn du im schicken Restaurant ohne Reservierung einen Tisch willst und dem Maître d’ 50 Dollar zusteckst, sagst du nicht: „Setz mich für 50 Dollar hin.“ Stattdessen: „Gibt es vielleicht eine Stornierung?“ oder „Gibt es eine Möglichkeit, die Wartezeit zu verkürzen?“
Und natürlich sind sexuelle Anspielungen ein riesiges Feld der Indirektheit: „Willst du meine Radierungen sehen?“, „Kommst du noch auf einen Kaffee hoch?“, „Netflix and chill?“ Warum machen wir das? Beobachter des menschlichen Dramas – Autoren von Komödien, Sitcoms – spielen mit der Tatsache, dass wir nicht einfach alles herausplatzen. Man könnte es ein Ritual nennen. Meine Antwort auf die Frage „Warum?“ ist: Common Knowledge. Wenn er sagt „Kommst du auf einen Kaffee hoch?“ und sie sagt Nein – sie weiß, dass Kaffee nicht Kaffee heißt. Es ist keine plausible Leugnung. Aber es bleibt ein Restzweifel: Weiß er, dass sie weiß, dass er weiß? Solange es nicht zu Common Knowledge wird, können beide die Fiktion einer rein platonischen Beziehung aufrechterhalten. Euphemismen, Andeutungen, vage Formulierungen – sie erzeugen Wissen, aber kein Common Knowledge. Und genau das nutzen Menschen, wenn sie eine bestehende Beziehung nicht sprengen wollen. Beim Maître d’ zum Beispiel: Er hat Autorität in seinem Restaurant. Dein Angebot untergräbt diese Beziehung – aber solange es nicht zu Common Knowledge wird, kann er seine Autorität wahren, und ihr könnt die Transaktion trotzdem durchziehen.
Mounk: Interessant ist ja, dass man am Anfang unseres Gesprächs leicht denken konnte: Mehr Common Knowledge ist immer besser. Im Beispiel der neuen Kleider des Kaisers oder bei Diktaturen ist es gut, wenn das Private öffentlich wird – wenn aus individuellem Wissen Common Knowledge wird. Denn dann kann man handeln, den Kaiser verspotten oder das Regime stürzen. Aber einige der Beispiele, die wir jetzt besprochen haben, zeigen: Manchmal ist es schlecht, Common Knowledge zu schaffen. In einer Beziehung zum Beispiel: Vielleicht bin ich schon verliebt, mein Partner aber noch nicht. Vielleicht wird er es nie sein, vielleicht in zwei Monaten. Wenn ich zu früh „Ich liebe dich“ sage, wird es schwierig, überhaupt jemals gemeinsam an diesen Punkt zu kommen. Das Vermeiden von Common Knowledge kann also entscheidend sein, damit die Beziehung wachsen kann. Ein anderes Beispiel: Man verbringt Zeit mit einem älteren Menschen, der unter peinlichen körperlichen Problemen leidet – er furzt laut oder riecht unangenehm. Wenn ein Kind herausplatzt „Opa, warum stinkst du?“, macht das alles nur schlimmer. Besser ist es, so zu tun, als merke man nichts. Also: Radikale Ehrlichkeit ist schlecht, radikale Heuchelei ebenso. Wie finden wir den Mittelweg, in dem wir sinnvolle soziale Normen haben, die uns sagen, wann wir Wissen in Common Knowledge verwandeln – und wann besser nicht?
Pinker: Es gibt keine allgemeine Regel, weil es immer auf Kosten und Nutzen in der jeweiligen Situation ankommt. Es gibt viele Beispiele. Du hast die peinliche Situation mit älteren Menschen erwähnt. Wir haben etwas Ähnliches alle vor gut einem Jahr erlebt, als jeder wusste, dass Joe Biden kognitiv abbaut. Aber keiner war sich sicher, ob auch alle anderen es wussten – selbst seine Berater nicht. Erst als er dieses katastrophale TV-Duell mit Donald Trump hatte, wurde der kognitive Abbau offensichtlich. Das Entscheidende war: Alle schauten zu, und alle wussten, dass alle zuschauten. Es war eine national übertragene Debatte mit viel Öffentlichkeit – und das markierte den Beginn vom Ende seiner Kandidatur.
Ein anderes Beispiel ist Taiwan. Taiwan ist de facto ein souveräner Staat: Sie kontrollieren ihre Grenzen, ihre Regierung. Aber die offizielle Linie der USA lautet, dass Taiwan nicht existiert, sondern Teil Chinas sei. Warum erkennen die USA die Realität nicht an? Warum dieser Eiertanz? Es ist rational, weil eine offizielle Anerkennung von Taiwan als Affront gegenüber China gesehen werden würde – und China hat sein Ansehen daran geknüpft, ganz „historisches China“ zu kontrollieren. Eine Anerkennung wäre eine Herausforderung seines Dominanz- und Statusanspruchs, die es nicht dulden könnte. Es wäre, als würden zwei Vögel um ein Revier kämpfen und diesmal wirklich aufeinander losgehen, statt dass einer nachgibt. Insofern ist diese Heuchelei rational. Ein weiteres Beispiel: Israels Nuklearpolitik. Israel bestätigt nicht, dass es Atomwaffen hat – bestreitet es aber auch nicht. Offensichtlich besteht der einzige Grund, Atomwaffen zu besitzen, in einem Chicken Game: Sie müssen bekannt sein, um als Abschreckung zu wirken. Andererseits: Wenn Israel offiziell erklären würde, ein Nuklearstaat zu sein, müssten die arabischen Rivalen nachziehen, um nicht das Gesicht zu verlieren. Deshalb hat Israel sich für „strategische Ambiguität“ entschieden: Es gibt Wissen, aber es bleibt ein Restzweifel, ob der andere wirklich weiß, dass du weißt, dass er weiß, usw. – und genau das macht es nachhaltig.
Mounk: Das Interessante an der Formulierung „Ich kann weder bestätigen noch abstreiten.“ ist, dass sie manchmal eine offizielle Politik beschreibt, aber im Alltag oft ein Augenzwinkern ist. „Magst du deinen Chef?“ – „Ich kann weder bestätigen noch abstreiten.“ Das ist eine höfliche Art, Nein zu sagen, ohne dass man gefeuert werden kann, wenn der Chef es erfährt. Es ist ein typisches Beispiel, wie man Common Knowledge managt.
Ich habe eine etwas andere Frage: Gibt es systematische kulturelle Unterschiede darin, wie Common Knowledge gehandhabt wird? Mir scheint, dass manche Kulturen viel direkter sind als andere. Die deutsche Kultur, in der ich aufgewachsen bin, ist sehr direkt. Chinesische Kultur – und das verstehen viele im Westen falsch – ist auch direkt: Verwandte begrüßen sich mit Fragen wie „Hast du zugenommen?“ Das ist viel direkter, als was Amerikaner selbst in der Familie sagen würden. Andere Kulturen sind hochgradig indirekt, vermeiden direkte Aussagen. Sind das einfach verschiedene Strategien im Umgang mit Common Knowledge, die gleichwertig sind? Gibt es Bereiche, wo wir von direkteren Kulturen lernen sollten? Oder umgekehrt Dinge, bei denen direkte Kulturen Fehler machen, die das Leben schwerer machen, sodass sie von indirekten lernen sollten? Oder missverstehe ich den Zusammenhang zwischen kultureller Direktheit und Common Knowledge?
Pinker: Ja, es gibt klare kulturelle Unterschiede. Es heißt oft, Japan sei sehr indirekt, ebenso arabische Kulturen. Geschäftsleute klagen, dass man dort nie einfach einen Deal aushandeln kann, weil es so viele Ehrenformen gibt. Es ist bekannt, dass sich Direktheit und Höflichkeit unterscheiden. Wahrscheinlich gibt es keine Kultur ohne jede Form von Höflichkeit oder Heuchelei, aber die Unterschiede sind groß – zum einen auf einer Skala von direkt bis nuanciert, zum anderen je nach Kontext: Familie, Geschäft, Lehrer-Schüler, Chef-Angestellter, Freunde. Und auch nach Ressource: Geht es um Essen, Geld, Sex, Gefälligkeiten? Zu Hause oder außerhalb? Kulturelle Unterschiede hängen oft damit zusammen, welche Beziehung gerade gilt: gemeinsames Teilen, Autorität, Reziprozität. Das erklärt vieles, auch welche Dinge man offen ausspricht und damit Common Knowledge erzeugt – und welche nicht.
Mounk: Wir haben bisher oft so geredet, als gäbe es nur privates Wissen und gemeinsames Wissen, das noch nicht Common Knowledge ist. Oder wenn etwas Common Knowledge wird, dann automatisch im Maßstab einer ganzen Nation. Aber natürlich kann Common Knowledge auch nur innerhalb einer Gemeinschaft oder Gruppe existieren. Ich sorge mich zunehmend über die Polarisierung in den USA. Vielleicht kann man sie als Konflikt unterschiedlicher Common Knowledge-Sets verstehen. Nach der Ermordung von Charlie Kirk war es auf der Rechten Common Knowledge, dass der Täter eine linke Ideologie hatte. In progressiven Kreisen auf Bluesky, Twitter oder Substack (bei Leuten wie Heather Cox Richardson) war es Common Knowledge, dass der Täter Teil der extrem rechten „Groypers“ war. Am Ende gibt es zwei konkurrierende Common Knowledge-Formen. Ist das ein sinnvoller Blick auf Common Knowledge – oder zählt es nur, wenn wirklich universale Einigkeit besteht?
Pinker: Nein, das ist ein echtes Problem. Und plausibel hängt es mit dem Niedergang landesweiter Medien zusammen, die Common Knowledge erzeugten. Früher: Wenn man Walter Cronkite sah – oder Johnny Carson –, wusste man, dass Millionen andere auch zusahen. Und die wussten, dass man selbst zusah. Heute: Ein riesiges Unter-Publikum schaut Fox News, ein anderes nicht. In sozialen Medien verstärken sich Netzwerke intern, aber sind voneinander fast völlig getrennt. Man kann so Common Knowledge innerhalb eines Netzwerks haben, ohne dass es auf die Gesellschaft als Ganzes übergeht. Wenn dann verschiedene Influencer und Wissensvermittler eigene Wirklichkeiten konstruieren, trägt das zur Polarisierung bei – auch zu epistemischer Polarisierung.
Mounk: Das scheint mir eine sehr treffende Beschreibung unserer Realität. Auf der einen Seite des politischen Spektrums heißt es: „Jeder weiß, dass X.“ Auf der anderen: „Jeder weiß, dass nicht X.“ Wir leben in einer Gesellschaft, die von rivalisierenden Formen von Common Knowledge zerrissen wird.
Pinker: Es kann sehr frappierend sein. Du kennst meine Politik – ich bin, wie du, eher ein Zentrist. Das heißt, mal beansprucht die eine, mal die andere Seite uns. Aber ich gerate immer wieder in seltsame Gespräche: Jemand geht selbstverständlich davon aus, dass ich auf seiner Seite bin – und währenddessen breitet sich bei mir eine Art stilles Entsetzen aus. Umgekehrt natürlich auch.
Mounk: Ja, ich war ein paar Tage nach dem Mord an Charlie Kirk auf einer Konferenz. Eine ziemlich hochrangige Biden-Beamtin sagte zu mir – es war nicht einmal eine Frage, sondern eine Annahme: „Es ist wirklich schlimm, dass wir jetzt so tun müssen, als wären wir traurig, dass er erschossen wurde.“ Sie schien überzeugt, dass es in ihrem Umfeld Common Knowledge sei, dass wir insgeheim froh darüber sind – und dass das die normale Haltung ist. Wenn Menschen annehmen, du teilst ihr Common Knowledge, du tust es aber faktisch oder normativ nicht, ist das eine zutiefst befremdliche soziale Erfahrung.
Pinker: In der Tat. Es gibt da ein Phänomen, das ich im Buch kurz erwähne, in anderen ausführlicher: pluralistische Ignoranz, oder eine Spirale des Schweigens. Das ist, wenn ein weitverbreitetes Missverständnis herrscht: Alle glauben, die anderen würden etwas denken, obwohl es niemand denkt. Die erste Studie dazu untersuchte Studentenverbindungen: Alle dachten, „Saufen bis zum Umfallen ist cool.“ In Wahrheit fand es keiner cool. Jeder dachte: Ich finde es blöd, aber alle anderen finden es super – also was soll ich machen? Das ist ein anderes Phänomen. Kein Fall von Common Knowledge, aber doch ein Beispiel für diese Kette von Annahmen über die Gedanken anderer – nur eben falsch.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.