Thomas Chatterton Williams über das Zeitalter der falschen Gewissheiten
Yascha Mounk und Thomas Chatterton Williams sprechen darüber, was der Sommer 2020 über Amerika zeigte.
Thomas Chatterton Williams ist Redakteur beim Atlantic und Autor von Losing My Cool, Self-Portrait in Black and White sowie Summer of Our Discontent. Er ist Gastprofessor für Geisteswissenschaften und Senior Fellow am Hannah-Arendt-Zentrum des Bard College, Guggenheim-Stipendiat des Jahrgangs 2022 und Visiting Fellow am AEI.
In diesem Gespräch diskutieren Yascha Mounk und Thomas Chatterton Williams, warum der Sommer 2020 so verlief, wie er verlief, welche Gegenreaktionen darauf folgten – und weshalb zentrale Ideen der Proteste von 2020 inzwischen stillschweigend aufgegeben worden sind.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Dein neues Buch dreht sich um den Sommer 2020 – und zugleich um die Frage, was dieser Sommer über die gegenwärtige Phase der amerikanischen Geschichte verrät. Es ist seltsam, im Rückblick über diese Ereignisse nachzudenken, weil sie damals so gewaltig wirkten und ich glaube, dass sie bis heute tief nachwirken. Und trotzdem fühlt es sich inzwischen so fern an. Die Pandemie ist in vieler Hinsicht aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Wir denken selten noch daran – auch, weil es eine unangenehme Zeit war. Aber selbst die Auseinandersetzung mit Rassismus, die im Unterschied zur Pandemie das eigentliche Zentrum deines Buches bildet, scheint inzwischen fast kleinzureden. Dabei waren das wohl die größten Proteste gegen Rassismus in der Geschichte überhaupt, wie du betonst. Sie gingen einher mit erheblichen Unruhen und einem seltsamen kulturellen Moment, getragen von sehr realer Wut und sehr realem Unrecht, der sich in Teilen fast wie eine Art kollektiver Wahn beschreiben lässt – als hätten wir alle so getan, als seien Leute wie Ibram X. Kendi und Robin DiAngelo die Weisen unserer Zeit. Und nun tun wir so, als hätten wir nie an einige der Ideen geglaubt, die diesen Strang der Bewegung damals befeuerten. Erklär uns dieses seltsame Paradox.
Thomas Chatterton Williams: Ja, es ist wirklich merkwürdig. Das war einer der gewaltigsten und wohl auch emotionalsten Momente oder Jahre unseres gemeinsamen Lebens. Und heute neigen wir fast dazu, uns nur noch eng auf die Gegenwart zu konzentrieren – so zu tun, als sei diese Zeit gar nicht mehr relevant für die politischen und kulturellen Kämpfe, mit denen wir es heute zu tun haben. Dabei ist sie untrennbar mit dem heutigen Moment verbunden. Es war eines dieser Scharnierjahre, in denen es ein Davor und ein Danach gibt – wie 1968 oder vielleicht 2001. Ein Wendepunkt.
Und es gibt eine bestimmte Kritik, die man zu hören bekommt, gerade wenn man kein Trump-Unterstützer ist, nicht Teil der MAGA-Bewegung, sondern als Liberaler darauf besteht, den selbstschädigenden Überschwang der progressiven Linken zu benennen, der damals die Institutionen prägte, die unser öffentliches Leben bestimmen. Wenn man das sagt, kommt reflexhaft die Reaktion: Das sei jetzt nebensächlich, denn Leute würden vor dem Home Depot verschleppt oder andere groteske Rechtsbrüche durch die Trump-Regierung begangen. Oder man behauptet einfach, es sei gar nicht so passiert. Es gibt also ein Bedürfnis, die Exzesse von vor fünf Jahren kleinzureden.
Aber man kann die Wucht der Gegenreaktion, die heute noch schlimmer ist als das, was 2020 geschah, nicht verstehen, ohne jene kulturellen Ereignisse und Ideen zu begreifen, die zwar nicht die Ursache, wohl aber die Rechtfertigung für die jetzigen Machtmissbräuche lieferten. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Und es gibt immer das Argument – das du mit am klarsten formuliert hast –, dass Wokeness, wie immer man es nennt, die reaktionäre Gegenbewegung hervorruft. Diese beiden Kräfte nähren sich gegenseitig. Und die einzige wirkliche Lösung liegt in einem prinzipienfesten Liberalismus in der Mitte – den viele aber gar nicht annehmen wollen oder von dem sie erschöpft sind.
Mounk: Ich glaube, eine Sorge, die wir beide oft teilen, ist: Viele Menschen sagen, auf der einen Seite gibt es diesen rechten autoritären Populismus, Demagogen wie Donald Trump. Auf der anderen Seite gibt es Wokeness. Und man müsse sich entscheiden. Weil sie Gegner sind, weil die politische Sphäre sich immer mehr entlang dieser beiden Fronten aufteilt, müsse man wählen, welches von beiden das kleinere Übel sei – und dann Partei ergreifen. Manche schlagen sich dann auf die Seite Trumps. Viele unserer Freunde und Bekannten in unseren sozialen Kreisen wiederum wählen die illiberalen Strömungen auf der Linken. Mein Argument – und deins ja ebenso – war immer: Das ist ein falsches Denken. Denn erstens: Wenn man diese Formen linken Illiberalismus in Konkurrenz zu den Formen rechten Illiberalismus stellt, dann gewinnt am Ende oft der rechte Illiberalismus. Dafür gibt es reichlich Belege in aller Welt.
Der zweite Punkt ist, dass es eine falsche Wahl ist. Denn diese beiden Bewegungen nähren und verstärken sich gegenseitig. Jede ist die Ausrede für die andere. Und der einzige Weg, aus dieser gefährlichen Spirale auszubrechen, ist ein prinzipientreues Gegenmodell, das uns erlaubt, friedlicher und vernünftiger zusammenzuleben.
Lass uns noch einmal in den Sommer 2020 zurückgehen. Die Pandemie wütet. Es gelten immer noch strikte Ausgangsbeschränkungen, Menschen dürfen kaum ihre Wohnungen verlassen, keine sozialen Kontakte pflegen, keine Gottesdienste besuchen, nicht einmal zu Beerdigungen gehen. Und dann kursieren diese Videos von der Ermordung George Floyds auf offener Straße in Minneapolis in den sozialen Medien. Du bist damals in Paris. Wann hast du erkannt, dass dies ein entscheidender kultureller Moment sein würde, ein Wendepunkt in unserem Denken über Rasse? Und wie hast du die Ereignisse damals wahrgenommen?
Williams: Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment – er steht auch gleich zu Beginn meines Buches. Meine Familie und ich hatten Glück, Paris noch zu Beginn der Pandemie verlassen zu haben. Wir verbrachten den Lockdown mit Freunden in ihrem Haus an der Atlantikküste im Westen Frankreichs. Ich ging eines Tages in das Arbeitszimmer, das ich nutzte, öffnete Twitter – und sah dieses Video. Man hatte über die Jahre schon so viele Aufnahmen von Gewalt gesehen, aber dieses war anders. Ich dachte sofort: Das ist wirklich etwas Furchtbares. Und trotzdem hat mich verblüfft, wie sehr es viral ging, wie wohl jeden von uns.
Wenn man sich diesen Moment noch einmal vor Augen führt: Wir alle waren damals in einem Lockdown, den es in unserem Leben so noch nie gegeben hatte. Eingesperrt, isoliert. Und zugleich hatten wir es mit relativ neuen Technologien zu tun, die die Art verändert haben, wie Informationen verbreitet werden, wie Menschen sich um dieselben Memes, Argumente und Ideen versammeln. Mein Buch versucht zu erklären, warum das, was 2020 geschah, ohne das Zusammenspiel von mindestens drei Faktoren nicht möglich gewesen wäre: die Pandemie, die Auseinandersetzung mit Rassismus – und das Gespenst Donald Trump, das über allem lag und jede politische Kontroverse verschärfte. Wir alle waren fixiert auf diese homogene Realität, die uns über Bildschirme erreichte, während das Innehalten des echten Lebens plötzlich Zeit ließ, über Themen nachzudenken, die man sonst verdrängt hätte.
Und man darf nicht vergessen: Schon vorher gab es das Bedürfnis, gegen irgendetwas aufzubegehren. Ein Teil des Landes rebellierte gegen die Ausgangsbeschränkungen. Das war jedoch politisch tabu, wenn man nicht zur Rechten gehörte. Diese Menschen galten als „Großmutter-Killer“, egoistisch, weil sie ihre Friseursalons öffnen wollten, während eine „Schwarze Pest“ („The Black Plague”) über das Land zog – denn auch die Pandemie war bereits damals stark rassifiziert. The New Yorker veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel „The Black Plague“. Es entstand eine Art biologischer Rassenmythos: Menschen in ärmeren Vierteln, in risikoreichen Berufen, stärkerer Ansteckung und höherer Sterblichkeit ausgesetzt – das wurde kurzerhand zu einem angeblich rassischen Effekt der Pandemie erklärt. Alles wurde miteinander vermengt.
Mounk: Vielleicht erklärst du unserem Publikum noch einmal den Begriff „Rassenzauber“ (Racecraft), geprägt von Barbara J. Fields und Karen Fields. Ich finde ihn sehr treffend, auch wenn er nur in bestimmten Kreisen gebräuchlich ist. Was meinst du, wenn du sagst, es habe so etwas wie einen biologischen Rassenzauber gegeben, wenn The New Yorker und andere Leitmedien die ungleichen Folgen der Pandemie für verschiedene Bevölkerungsgruppen auf eine biologische Grundlage zurückführten? Tatsächlich hat die Pandemie später – ein Aspekt, über den kaum berichtet wurde – anteilig mindestens ebenso viele, wenn nicht mehr weiße Amerikaner wie Angehörige ethnischer Minderheiten getroffen und getötet.
Williams: Rassenzauber bedeutet, dass Rasse in Erklärungen hineinrutscht, obwohl es andere, viel plausiblere Faktoren gibt. Es geht nicht um Rassismus, sondern darum, dass man die Vorstellung von realen „Rassenunterschieden“ übernimmt und die Kategorien selbst verfestigt. Ein Beispiel der Fields-Schwestern: Ein Schwimmbad ist faktisch segregiert. Kommen schwarze Kinder aus der Stadt und springen ins Wasser, verlassen alle Weißen den Pool. Die Polizei kommt, die Kinder müssen gehen – und man sagt: „Sie können hier nicht schwimmen, weil sie schwarz sind.“ Das ist aber nicht der Grund. Aber der Rassenzauber sorgt dafür, dass man automatisch die Hautfarbe als Erklärung akzeptiert, obwohl es um gesellschaftliche Gesten, Gewohnheiten, Zuschreibungen geht – nicht um Biologie.
Dasselbe gilt für die Rede von einer „Schwarzen Pest“: Schwarze und Latinos seien stärker gefährdet. In Wahrheit geht es um Menschen in bestimmten Berufen, mit weniger ökonomischen Ressourcen, mit größerer Exposition gegenüber Risiken. Nichts davon ist biologisch oder rassisch „real“. Aber es rutscht ins Denken hinein, und plötzlich wird daraus eine Geschichte über weiße Vorherrschaft, anstatt dass man es als epidemiologische Frage einer laufenden Pandemie behandelt.
Mounk: Man könnte es auch so zusammenfassen – auch wenn das nicht die ganze Tiefe der Fields-Schwestern erfasst: In Frankreich betrachten Sozialwissenschaftler fast alles durch die Linse der Klasse, selbst wenn es eine ethnische Dimension gibt. In den USA ist es genau umgekehrt: Wir sehen sofort Rasse, aber übersehen oft die Klassenfrage. Dass bestimmte Gruppen zu Beginn der Pandemie stärker betroffen waren, hing mit Alters- und Familienstrukturen zusammen, mit der Wahrscheinlichkeit, in bestimmten systemrelevanten Berufen zu arbeiten. All das hat mit der amerikanischen Geschichte zu tun, mit Formen von Rassismus – aber zu sagen, „das ist die Schwarze Pest, das Virus greift den schwarzen Körper an“: Genau das würden Karen und Barbara Fields zu Recht als Rassenzauber kritisieren.
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Um diesen Moment zu verstehen, lohnt es sich, einige Elemente genauer anzusehen – eines davon ist die Pandemie und wie sie sich mit der Online-Welt verschränkte. Pandemien führen uns unweigerlich mit unserer Sterblichkeit zusammen. Und Momente in der Geschichte, in denen Gesellschaften so direkt mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert sind – sei es durch die Pest, andere Seuchen oder durch Kriege –, haben oft millenarische Bewegungen hervorgebracht. Diese Verbindung war im Sommer 2020 spürbar, wurde aber damals kaum gesehen. Der „Sommer von George Floyd“ war genau das: eine millenarische Bewegung. Es ist kein Zufall, dass er inmitten der Pandemie stattfand.
Ein zweiter, prosaischerer Grund war: Man saß eingesperrt zu Hause, konnte weder Freunde noch Familie treffen. Und dann brach dieser Protest aus – und über tausend Gesundheitsexperten erklärten plötzlich, Demonstrationen seien förderlich für die öffentliche Gesundheit. Es war die einzige Form kollektiver Ekstase, die möglich war. Man konnte nicht auf Konzerte, nicht Basketball spielen, nicht in die Kirche gehen. Aber man konnte an Protesten teilnehmen – und das war ein entscheidendes Element dieser Zeit.
Williams: Genau darauf wollte ich eingehen, bevor wir bei der Diskussion über den „Rassenzauber“ landeten. Es war politisch unstatthaft, gegen die Ausgangsbeschränkungen zu demonstrieren. Das galt als „rechts kodiert“. Doch plötzlich gab es eine gerechte Sache, für die man auf die Straße gehen konnte – und sie wurde als moralisch eindeutig betrachtet. Es hieß: Das ist etwas völlig anderes. Sogar von offizieller Seite, von Ärzten und Gesundheitsbehörden, wurde gesagt: Auch Rassismus sei eine Pandemie. Ein Brief von über tausend Medizinern erklärte, man könne den Menschen nicht guten Gewissens raten, nicht gemeinsam gegen Rassismus zu protestieren – wo man noch am Tag zuvor zur kollektiven Vorsicht und Maskenpflicht aufgerufen hatte.
Es war, als hätte jemand den Schalter umgelegt: Am einen Tag schämte man Menschen dafür, dass sie auf die Straße gingen – am nächsten dafür, dass sie nicht auf die Straße gingen. Wörtlich wurde man gefragt: „Wo ist dein schwarzes Quadrat auf Instagram? Was tust du in diesem Moment der Auseinandersetzung mit Rassismus?“ Zuhause zu bleiben, galt als selbstsüchtig, als Gleichgültigkeit. Das war schockierend zu beobachten.
Ich glaube, du hast recht mit dem millenarischen Impuls. Es war das Gefühl: Die Institutionen, von denen wir Schutz erwarten, lassen uns im Stich. Der Präsident steht jeden Tag im Fernsehen und sagt Dinge wie: Vielleicht solle man Bleichmittel trinken, vielleicht eine Lampe in den Körper halten. Er spielte leichtfertig mit dem Gemeinwesen.
Und gleichzeitig war an diesem Moment auch etwas Bewegendes. Ich will das gar nicht nur abwerten. Viele Menschen verspürten einen echten Willen, die Gesellschaft zu verbessern, gegen ein furchtbares Unrecht zu kämpfen: dass ein Mann zehn Minuten lang kaltblütig zu Boden gedrückt wurde, bis er starb – mitten am Tag, vor den Augen der Öffentlichkeit. Die Menschen fühlten sich selbst verletzlich und waren empört, dass ein Polizist so sorglos mit ihrer Sicherheit spielte, wie auch der Präsident mit seiner stümperhaften Pandemiebewältigung. Diese Anteilnahme war echt. Aber die Folgen waren katastrophal: Als irgendwann Plünderungen, Krawalle, Gewalt und Gesetzlosigkeit gerechtfertigt wurden, weil politische Anliegen angeblich auf regulärem Weg kein Gehör fanden, nahm es eine gefährliche Wendung.
Mounk: Man kann versuchen, den edlen Kern dieses Moments vom Rest zu trennen. Und da stimme ich dir zu: Die größten Massendemonstrationen gegen Rassismus in der Geschichte der Menschheit müssen etwas Edles gehabt haben. Ich habe immer dafür plädiert, den Begriff des „Antirassismus“ nicht jenen zu überlassen, die eine sehr spezielle Ideologie im Fahrwasser der Kritischen Rassentheorie vertreten. Ich selbst bin zutiefst, stolz und grundlegend ein Antirassist. Aber ich bin ein universeller Antirassist – jemand, der Rassismus auf universalistischen Grundlagen ablehnt. Denn Hautfarbe oder andere Formen dieses „Rassenzaubers“ haben nichts mit dem Wert eines Menschen zu tun. Deshalb lehne ich jede gesellschaftliche Ordnung ab, die Menschen aufgrund solcher Zuschreibungen herabsetzt, sie zu Bürgern zweiter Klasse macht oder ihnen Schaden zufügt. Dieser edle Impuls war es, der die große Mehrheit der Teilnehmer in jener historischen Stunde auf die Straßen brachte. Aber er erklärt auch, warum die Bewegung zugleich diese spezifische, fast manische Form annahm.
Ein Teil dieser Bewegung war, wie bei vielen Massenprotesten, dass es schließlich zu Ausschreitungen und öffentlicher Unordnung kam. Aber darüber wollte oder konnte man nicht offen sprechen. Die Würde der Sache, in deren Namen die Ausschreitungen stattfanden – auch wenn sie in vielen Fällen damit überhaupt nichts zu tun hatten, weder mit den Tätern noch mit der Natur der Gewalt, etwa beim Plündern von Läden in Soho – ließ große Teile der etablierten Medien davor zurückschrecken, dies auch nur anzuerkennen. Es gab Beiträge, etwa bei NPR, die das Plündern in Schutz nahmen, verfasst von hochprivilegierten Autoren.
Die zweite Tragik dieses Moments war, dass der antirassistische Impuls, der für die meisten Menschen ein universalistischer war – zu fragen, warum in diesem Land überproportional viele Schwarze von der Polizei getötet werden, warum die Sklaverei bis heute ihre Nachwirkungen hat –, von einer merkwürdigen Ideologie gekapert wurde, die 2020 von Figuren wie Ibram X. Kendi und Robin DiAngelo verkündet und geradezu sakralisiert wurde. Ihre Ideen wurden so aggressiv verbreitet, dass schon die mildeste Kritik als Sakrileg galt. Leitmedien unterdrückten Artikel von Kolumnisten und Redakteuren aus Angst vor der eigenen Belegschaft oder vor öffentlichem Druck. Fünf Jahre später tun wir so, als hätten diese Ideen nie existiert – und diese Figuren sind weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Die Tragödie ist, dass diese Energie nicht in den Aufbau einer Ideologie floss, die Amerika wirklich verbessern und dem Land helfen könnte, seinem Versprechen näherzukommen, sondern von Ideen gekapert wurde, die 2020 mächtig wirkten und nun weitgehend – nicht vollständig, aber doch in großem Maß – selbst von ihren lautesten Fürsprechern fallen gelassen wurden.
Williams: Einer der Gründe, warum man die aktuelle Krise nicht einfach von dem trennen kann, was ihr vorausging, ist etwa die heutige Gegenreaktion auf Diversity-, Equity- und Inclusion-Programme (DEI). Diese Reaktion kam nicht aus dem Nichts. Die Wahrheit ist: Nur sehr wenige Schwarze leben im Alltag unter ähnlichen Umständen wie George Floyd. Er war ein wirklicher Angehöriger des amerikanischen Subproletariats: arm, ohne Ausbildung, ohne Ressourcen oder Kontakte, drogenabhängig. Er starb als Schwarzer, aber ebenso, und vielleicht noch mehr, starb er als armer Mann. Diese Lebenslage teilten Schwarze in Amerika 2020 nicht allgemein.
Und noch etwas: Die Zahl unbewaffneter schwarzer Männer, die in Polizeigewahrsam getötet werden, ist in einem Land dieser Größe tatsächlich sehr niedrig. Sie liegt über dem, was akzeptabel ist, sie liegt höher als in vergleichbar wohlhabenden Ländern, aber sie ist kein Völkermord, wie es damals dargestellt wurde. Sehr schnell weitete sich der Anspruch aus, Ungleichheit, rassistische Voreingenommenheit und Unterdrückung durch Maßnahmen zu bekämpfen, die plötzlich alles Mögliche wurden: ein Personalthema, eine Frage des Zugangs zu Eliteinstitutionen, der Gerechtigkeit in meritokratischen Räumen, zu denen jeder wollte. Floyds Tod wurde fast metaphorisch genutzt: Seine Opferrolle wurde zum Gewand, das jeder anlegen konnte, der Mitglied einer bestimmten Identitätsgruppe beanspruchte.
Und dann geschahen 2020 wirklich absurde Dinge. Am meisten schockierte mich, was bei der Poetry Foundation passierte. Diese Stiftung, mit 257 Millionen Dollar aus dem Pharma-Vermögen der Familie Lilly ausgestattet, verwaltet die Zeitschrift Poetry. Kurz nach Floyds Tod forderten Leute ohne jede biografische Parallele zu seinem Leben, dass die gesamte Struktur der Stiftung neu gestaltet und das Stiftungsvermögen für etwas wie „schwarzes Aufblühen“ bereitgestellt werden müsse. George Floyd starb – also müsse mein Theaterstück am Broadway finanziert werden. George Floyd starb – also stehe mir ein Harvard-Stipendium zu. Das war die Realität.
Heute erleben wir eine Gegenreaktion auf DEI, die eisig ist. Die großen Universitäten Amerikas werden unter Druck gesetzt.
Mounk: „Schade, wenn eurer schönen Universität etwas zustoßen würde.“
Williams: Genau. Sie werden erpresst wie Geschäfte im Brooklyn der Vierzigerjahre. Erstaunlich, aber eine Reaktion auf etwas, das selbst unfassbar war: George Floyd stirbt, und plötzlich will jemand die Harvard Law Review übernehmen. Das ist nicht im selben Ausmaß, aber auch nicht völlig unverständlich angesichts der früheren Zumutungen. Was bei der Poetry Foundation geschah, war eine Mischung aus Barbarians at the Gate und Mau-Mauing the Flak Catchers: eine feindliche Übernahme, wie sie Tom Wolfe schon beschrieben hat, das Ausspielen von Schuldgefühlen, und es funktionierte. Es weckte enorme Ressentiments. Wer damals wütend war, hat das nicht vergessen. Wer dachte, es sei nur eine Reaktion auf den schockierenden Tod eines Mannes in Minneapolis, blendet die massiven Missbräuche aus, die damals sogar für notwendig erklärt wurden.
Mounk: Ich habe dazu einige Gedanken. Oft ist es in der Politik so, dass die Wut durch ein Ereignis ausgelöst wird, aber sich auf Bereiche entlädt, in denen tatsächlich Handlungsspielräume bestehen. Ein ganz anderes Beispiel: Der Grund, warum die Trump-Regierung gegen Universitäten vorgeht, liegt in geisteswissenschaftlichen Fächern wie Vergleichender Literatur, Amerikastudien oder Nahoststudien. Aber diese Departments werden nicht vom Bund finanziert. Was finanziert wird, sind naturwissenschaftliche Labore durch die NIH und andere Stellen. Und deshalb trifft der Angriff die Naturwissenschaften, auch wenn sich die Wut gegen die Geisteswissenschaften richtet.
Etwas Ähnliches sehen wir hier: Die berechtigte Empörung über das Leben vieler Schwarzer in tiefem Elend – wie George Floyd, eine komplizierte Figur, geprägt, wie du sagst, von Rasse, aber auch von seiner Klasse – lässt sich nicht leicht lösen, indem man das Leben der Armen in Minneapolis, Baltimore, Chicago oder New York fundamental verbessert. Aber man kann relativ privilegierte Leute fördern, die schon Poeten sind oder an Eliteuniversitäten studieren. Und so wurde die Wut, ausgelöst durch das Schicksal der Ärmsten, in Forderungen verwandelt: jedes Stipendium, jeder Theaterplatz, jeder Dollar einer Stiftung müsse an diese vergleichsweise privilegierten Menschen gehen. Eine groteske Verschiebung.
Williams: Ja, ein sehr seltsamer Raum, geschaffen durch die Idee der Repräsentation. Durch das „Magische der Repräsentation“ müsse ein Ivy-League-Absolvent der oberen Mittelschicht, der George Floyd äußerlich ähnelt, „wiedergutgemacht“ werden – selbst wenn er objektiv in einer besseren Lage ist als viele Weiße. Viele sahen das mit eigenen Augen: Menschen, die ohnehin besser dastanden, wurden plötzlich als Stellvertreter George Floyds präsentiert und bekamen zusätzliche Vorteile. Das erzeugte eine oft extreme rassistische Gegenreaktion, die nicht zu rechtfertigen ist – aber sie speiste sich aus dem Gefühl, dass ohnehin schon Privilegierte noch mehr erhielten.
Ich habe einen guten Freund, Michael R. Jackson, Pulitzer-Preisträger und ein brillanter Dramatiker. Er erzählte mir, dass ihm nach Floyds Tod ein Theaterbesucher schrieb: „Ich muss dir eine kugelsichere Weste kaufen.“ Jackson fragte zurück: „Warum? Ich bin ein erfolgreicher Autor.“ Für ihn war das fast beleidigend. Als Scherz meinte er: „Dann schick mir einfach das Geld per Venmo.“ Und der Mann überwies ihm 400 Dollar. Solche Dinge geschahen. Als ob jeder Schwarze – auch ein preisgekrönter Künstler – automatisch die Rolle des amerikanischen Subproletariats einnähme. Das verharmlost Floyds tatsächliches Elend.
Dasselbe mit dem Phänomen der schwarzen Quadrate auf Instagram: Weiße Menschen, die untereinander demonstrativ „Fürsorge“ für Schwarze zeigten – oft ohne überhaupt mit einem Schwarzen in Kontakt zu treten. In Städten wie Portland gab es ganze Viertel ohne einen einzigen schwarzen Bewohner, aber überall hingen „Black Lives Matter“-Schilder. Mehr Schilder als schwarze Nachbarn. Das war weißes Statusgehabe untereinander – und viele empfanden es als Heuchelei. Auch deshalb gewann Trump nach seiner Niederlage 2020 stetig an Unterstützung bei Schwarzen, Latinos und anderen Minderheiten, die sich von diesem weißen Tugendgebaren entfremdet fühlten.
Mounk: 2016 sagte Trump im Wahlkampf direkt zu Schwarzen: „Wählt mich – was habt ihr zu verlieren?“ Damals war die Empörung groß. Viele sagten völlig zu Recht: Schwarze in Amerika haben sehr wohl etwas zu verlieren. Aber 2020 schien genau dieser Satz zur gängigen Darstellung in den Medien zu werden: dass das Leben des durchschnittlichen Schwarzen so elend sei, dass er nichts mehr zu verlieren habe – nicht einmal, wenn ganze Stadtteile niederbrannten, in denen überproportional Schwarze lebten. In meinem Buch The Great Experiment habe ich viel dazu recherchiert. Es gibt zwei Wahrheiten, die wir gleichzeitig festhalten müssen – auch wenn das im politischen Diskurs zu kompliziert scheint. Erstens: Der durchschnittliche Afroamerikaner lebt heute gut. Im Schnitt ist er wohlhabender als ein Europäer, weil der Lebensstandard in den USA höher liegt. Der Durchschnitt lebt in Vororten, arbeitet in Büro- statt in Hilfsjobs, hat eine Krankenversicherung vom Arbeitgeber.
Zweitens: Es gibt nach wie vor eine unverhältnismäßig große Gruppe Schwarzer, die in kumuliertem Elend lebt – wie Floyd. Das betrifft nicht die Mehrheit, aber es ist real und überproportional hoch. Natürlich gibt es auch Latinos, Asiaten und Weiße in solchen Lagen, aber der Anteil ist unter Schwarzen höher. Und wer durch Gegenden wie die South Side in Chicago oder Teile von Philadelphia läuft, sieht das sofort.
Eine Politik, die alle drei Punkte ernst nimmt – die große schwarze Mittelschicht, die realen Fortschritte, und die weiter bestehende, überproportionale Armut –, wäre weit produktiver als eine, die nur einen Aspekt betont.
Williams: Genau. Aber dafür bräuchte es Nuancen, die schwer durchzuhalten sind – gerade wegen der Technik der letzten 10–15 Jahre. Seit etwa 2012/13 hat die Social-Justice-Bewegung Institutionen dominiert, befeuert durch Twitter, iPhones, Videos und Algorithmen. Die Leute hatten keinerlei Vorstellung von den tatsächlichen Zahlen: 2020 glaubten viele, jedes Jahr würden 1.000 unbewaffnete Schwarze von der Polizei getötet. In Wirklichkeit waren es etwa 25 – bei 44 Millionen Schwarzen in einem Land von über 330 Millionen. Abscheulich, ja, aber kein „schwarzer Genozid“, wie es damals in einem Brief an die Poetry Foundation hieß. Die ständige Präsenz solcher Bilder erzeugte den Eindruck einer Notlage, die jedes Mittel rechtfertige.
Zugleich fehlte jedes Gefühl für Größenordnungen. Numerisch sterben mehr Weiße durch Polizeigewalt, aber kaum jemand weiß das. Viele überschätzen auch den Anteil Schwarzer an der Bevölkerung. So verzerrt Unwissen über Zahlen und Wahrscheinlichkeiten die Debatte über Klasse, Rasse und Polizei.
Und seit Elon Musk Twitter übernahm, kursiert endloses „Black-Crime-Porn“ – Videos, die den Eindruck erwecken, Schwarze verdienten härtere Polizeigewalt. Soziale Medien verschärfen die Diskurse massiv.
Mounk: Ein weiteres Element des Sommers 2020 wirkt heute merkwürdig – und stützt deine These vom großen Backlash: die „Cancel Culture“. Menschen wurden für kleine oder eingebildete Vergehen gegen die herrschende Politik an den Pranger gestellt. Hörer dieses Podcasts kennen die Beispiele: Ein hispanischer Bauarbeiter wird beschuldigt, ein „weiße Vorherrschaft“-Zeichen gezeigt zu haben, dabei baumelte nur seine Hand aus dem Truck – das angebliche Zeichen war das Okay-Symbol. Ein Professor wird suspendiert, weil er in einer Vorlesung über Füllwörter das gebräuchlichste chinesische Füllwort mehrfach wiederholte, das zufällig dem N-Wort ähnelt. Zwei Punkte sind mir wichtig. Erstens: Der Hintergrund der Pandemie spielte eine große Rolle. Wer den ganzen Tag zu Hause saß, hatte Zeit, auf Twitter Aufregung zu suchen. In Zoom-Meetings konnte man Konflikte nicht persönlich klären, sondern tippte in den Chat: „Diese Person ist böse, sie muss sofort gefeuert werden.“ Viele der absurdesten Fälle 2020 sind so entstanden.
Zweitens: Die Folgen sind langfristiger, als viele denken. Die berichteten Fälle betreffen immer prominente Leute an prominenten Institutionen – sonst wären sie nie in der New York Times gelandet. Aber zahllose Menschen, die den Protesten eigentlich sympathisch gegenüberstanden, erzählten mir von eigenen Erfahrungen in kleinen Organisationen, wo sie genauso „gecancelt“ wurden. Ich glaube, das erklärt mit, warum in den letzten fünf Jahren viele Latinos, Asiaten und auch Schwarze den Demokraten den Rücken gekehrt haben – und warum viele junge Leute, die schon in der Schule solche Ausgrenzungen erlebten, skeptisch gegenüber der politischen Linken geworden sind. Natürlich spielen Bidens Alter und anderes auch eine Rolle. Aber die unversöhnliche Kultur des Cancelns trägt dazu bei.
Williams: Ja, „unversöhnlich“ trifft es. Es gibt kaum noch Raum für Nachsicht. Das hängt direkt damit zusammen, wie leicht jemand heute zum Symbol wird – losgelöst von seiner persönlichen Komplexität. Die Pandemie trieb uns vor die Bildschirme. Man löste Konflikte nicht mehr im Gespräch, sondern inszenierte die eigenen Werte, indem man jemanden exemplarisch bestrafte. Das war auch ein Wettbewerb um Status und Karrieren. Solche „Säuberungen“ – Hannah Arendt hat es schon gesagt – sind Jobchancen. Wer jemanden mit „überholten“ Ansichten loswurde, konnte dessen Stelle übernehmen. Noch wichtiger ist der Effekt auf die Zuschauer. Unzählige Menschen haben gesehen, wie Beispiele statuiert wurden, und begannen, sich selbst zu zensieren. So überrascht es nicht, dass Trump weiter Zulauf hat – viele sagen nicht mehr, was sie wirklich denken, weil es keinen Raum für guten Glauben oder ehrliche Debatten gibt.
Das ist die zerstörerischste Folge des Tugendgebarens der Linken, das in Medien, Kultur und Universitäten dominierte. Cancel Culture wird bis heute kleingeredet. Spricht man sie an, kommt sofort: „Aber Trump …“ – als sei das ein Freibrief. Politik nach dem Motto: „Es ist nur falsch, wenn es gegen meine Werte geschieht“ – das funktioniert nicht. So naiv es klingen mag: Wir brauchen eine Rückkehr zu Nachsicht und zur Bereitschaft, über Werte zu verhandeln, gerade dort, wo noch keine gesellschaftlichen Normen feststehen – etwa bei Rasse oder Geschlecht. Viele „Cancels“ trafen Leute, die in Graubereichen sprachen, wo noch kein Konsens herrschte. Das war ein Machtkampf um Deutungshoheit – und er war zerstörerisch.
Am Ende frage ich: Wer ernsthaft mehr Würde und Inklusion für Transmenschen wollte – was hat all das gebracht? Es war ein Pyrrhussieg. Am Ende haben sie weniger, nicht mehr. Man kann sagen: Sie haben überzogen.
Mounk: Eine der Weisen, wie mich dieser Moment geprägt hat – und ich glaube, er wird mich mein Leben lang begleiten –, ist, dass ich zum ersten Mal wirklich erfahren habe, wie es sich anfühlt, in einer Art kollektiven moralischen Panik zu leben. Ich will klarstellen: Die Strafen, die 2020 verhängt wurden, waren nicht vergleichbar mit denen in Salem im 17. Jahrhundert oder in China in den 1960er-Jahren. Aber viele der Mechanismen waren dieselben. Die Anklage eines Gedankenverbrechens, eines merkwürdigen Verhaltens, das oft auf extrem schwachen Indizien beruhte. Die Tatsache, dass jeder, der dann den Beschuldigten verteidigte, sich selbst sofort mitschuldig machte und angegriffen wurde. Die erzwungene Stille. Ich erinnere mich, wie Menschen in jenen Monaten und Jahren, wenn man in einem beliebigen Starbucks über bestimmte Themen sprach, ohne dass jemand in der Nähe war, der einen kannte, unbewusst die Stimme absenkten – plötzlich flüsterten. Manchmal habe ich sie darauf hingewiesen: „Dir ist klar, dass du plötzlich flüsterst?“ Und die Leute waren erschrocken, gaben aber zu: „Ja, stimmt, ich hatte Angst, jemand könnte mithören.“ Das hat mir etwas über die menschliche Natur offenbart, was ich zuvor nur in Büchern gelesen hatte, was ich nun aber am eigenen Leib verstand. Insofern war es sogar eine positive Erkenntnis. Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch. Aber insgesamt hat es mich pessimistischer gegenüber der menschlichen Natur gemacht. Diese Formen kollektiver moralischer Panik sind allgegenwärtig, sowohl rechts wie links. Sie dienen dem Ausschluss und Nationalismus genauso wie angeblich dem Einsatz für die Inklusion von Minderheiten. Und wenn wir nicht lernen, stets wachsam gegenüber solchen Formen kollektiver Manie und Bestrafung zu sein, wird das verheerende Folgen haben.
Williams: Du sprichst vom Kern der menschlichen Natur: dem Suchen nach Sündenböcken, ihrer Benennung und – wie René Girard so eindringlich erklärt hat – dem Gemeinschaftsgefühl, das durch die Bestrafung oder Ausstoßung des Sündenbocks entsteht. Das ist real. Und der Grund, warum 2020 für mich so wichtig ist, warum ich nicht einfach weitermachen konnte, war: Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich das tatsächlich erlebt habe. Ich bin 44 Jahre alt. Es war furchterregend. Viele sagten: Kein großes Ding, man muss ein paar Eier aufschlagen, um ein Omelett zu machen, und wenn ein privilegierter Redakteur seinen Job verliert – warum reden wir überhaupt darüber? Aber die Folgen waren weitaus zerstörerischer. Schuld durch bloße Assoziation ist eines der verhängnisvollsten Dinge im öffentlichen Leben. Menschen zu beschämen und sie allein auf Basis einer Anschuldigung zu verurteilen – das war eine der beängstigendsten Waffen dieser Zeit. Dann müssen wir anerkennen, dass alles noch gefährlicher wird, sobald es staatliche Macht im Rücken hat. Viele der Strafmaßnahmen oder Praktiken, die nach Cancel Culture aussehen, wie sie die Trump-Regierung betreibt, haben Vorläufer in Institutionen, die zuvor von links geprägt wurden. Das mag eine zynische Rechtfertigung sein, aber es liefert in ihren Augen die Ausrede für das, was sie heute tun. Denn beide Seiten sehen: Der normale liberale Weg funktioniert im „Ausnahmezustand“ nicht. Dies sei ein Notfall, also müsse man um jeden Preis gewinnen. Ein Nullsummenspiel. Das hat auch mich pessimistischer gemacht. Aber ich muss glauben – dieser Teil von mir stammt aus der Obama-Ära und ich werde ihn nicht los –, dass es möglich ist: diese Vision einer multiethnischen Gesellschaft, die die Spaltungen und Unterdrückungen der Vergangenheit überwindet. Ich glaube, das Land will das noch immer. Wir sind auf einem gefährlichen Umweg, gefährlicher, als ich es 2016 für möglich hielt. Aber letztlich, denke ich, haben wir die Fähigkeit und den Willen, zu jener Richtung zurückzukehren, die Obama andeutete, als er zeigte, dass das Land stolz sein konnte auf die Aussicht, vielleicht postrassisch zu werden.
Mounk: Dieser Moment, als Obama als ernstzunehmender Präsidentschaftskandidat der Demokraten auftrat, gewählt wurde und in den ersten Wochen und Monaten seiner Amtszeit erstaunlich hohe Zustimmungswerte erzielte, vermittelte eine andere Sicht auf die menschliche Natur und auf die amerikanische Politik. Für mich hat das biografische Gründe. 2005 kam ich für ein Jahr als Gaststudent an die Columbia University, 2007 begann ich dort meine Promotion. Das war genau die Zeit, als Obama in den Vorwahlen zu Hillary Clinton aufstieg – von der Figur, die 2004 mit ihrer Rede auf dem Parteitag die Fantasie beflügelte, zu jemandem, von dem man dachte: Moment, der kann das wirklich schaffen. Die hoffnungsvolle Geschichte seines Wahlsiegs – und das gegen einen im Übrigen sehr anständigen Mann wie John McCain – ist bis heute Teil meiner eigenen Vision dessen, was Amerika sein kann. Ich glaube, das verbindet uns beide. Wie sollen wir heute darüber nachdenken? Manche sahen in Obamas Sieg das Versprechen eines postrassischen Amerika, doch er selbst hat es nie so formuliert. Es ist erstaunlich, wie schnell sich der Konsens verschiebt. Liest man die Kolumnisten der New York Times von 2008, feierten viele die „postrassische Gesellschaft“. Nicht alle, aber doch einige sehr unkritisch. Das war weder das, was die Klügsten damals sagten, noch das, was Obama selbst meinte. Ein Unterschied besteht darin, zu glauben, dass mit Obamas Wahl das Problem Rassismus verschwunden sei – und andererseits in der Behauptung, Rasse werde immer das zentrale Faktum Amerikas sein. Wo liegt die kluge Mitte? In welcher Hinsicht war die Idee eines postrassischen Amerika von Anfang an eine Illusion – nicht nur im Rückblick, sondern schon damals? Und was ist die richtige Formel, an der wir festhalten sollten?
Williams: Ich glaube, rückblickend wurde zu viel aus der Leistung eines einzelnen, wenn auch außergewöhnlich talentierten Mannes gemacht. Es war immer zu viel verlangt, von der Wahl eines Präsidenten die Heilung eines ganzen Landes mit seiner jahrhundertelangen Geschichte zu erwarten. Rückblickend hat die katastrophale Präsidentschaft von George W. Bush den Aufstieg Obamas erst ermöglicht – die Bereitschaft, einem Außenseiter eine Chance zu geben. Die tiefe Ernüchterung, die sich in seiner zweiten Amtszeit einstellte, mit den aufsehenerregenden Tötungen von Trayvon Martin und Michael Brown, ließ viele glauben: Nicht nur kam keine postrassische Gesellschaft, es ist hoffnungsloser denn je – und das unter dem ersten schwarzen Präsidenten. Dazu kam die reflexhafte Gegenreaktion eines Teils des Landes, der immer rassistisch bleiben wird. Ich will nicht naiv sein: Manche mochten schon am ersten Tag nicht die Optik von Barack und Michelle Obama im Weißen Haus. Daraus erwuchs die Tea-Party-Bewegung, später MAGA. Aber es gab auch Wähler, die sowohl für Obama als auch für Trump stimmten, oder die McCain wählten und trotzdem stolz auf ihr Land waren. Diese Wähler machen mir heute Hoffnung. Zu sagen, Obama habe nichts verändert, wäre falsch. In Wahrheit war es die schnelle gesellschaftliche Veränderung – Obama, der den Stab an die erste Präsidentin weiterzugeben schien, und zugleich der Verlust seiner inspirierenden Kraft in der zweiten Amtszeit –, die den Aufstieg Trumps möglich machte. Aber um deine Frage zu beantworten: Das Vernünftige, an dem wir festhalten sollten, ist, dass wir in einer dynamischen Gesellschaft leben, ganz anders als in Frankreich, wo ich den Rest des Jahres verbringe, und auch anders als in anderen reichen Ländern. Hier können Angehörige der am stärksten diskriminierten Minderheiten die obersten Ebenen der Gesellschaft erreichen – und das mit Rückhalt der Bevölkerung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht nur ein Barack Obama Präsident werden kann, sondern in der er eine ganze Klasse von Menschen repräsentiert, die dieses Land hervorbringt. Darauf sollten wir stolz sein. Darauf sollten wir aufbauen. Es gibt eine Gegenreaktion, den Wunsch, die Uhr zurückzudrehen – aber dahin kehren wir nicht zurück. Die Idee einer postrassischen Gesellschaft, in der Hautfarbe beim persönlichen Aufeinandertreffen möglichst wenig bedeutet – Obama hat uns einen Vorgeschmack gegeben, wie das aussehen könnte. Wir haben gesehen, dass es möglich ist. In gewisser Weise sogar auf paradoxe Weise: Selbst die Trump-Regierung war ethnisch vielfältig. Eine multiethnische Führungsschicht – das wird bleiben. Und merkwürdig genug: Trumps „MAGA“ ist eine Art Echo von Obamas multiethnischer Gesellschaft. Trump mobilisiert Minderheitenunterstützung wie kein Republikaner seit Nixon. Die Lehre sollte sein: Mehr Vielfalt und Inklusion allein lösen die grundlegenden Konflikte nicht. Eine multiethnische Gesellschaft, ja – aber sie muss auch liberal und offen sein, um die Ziele zu erreichen, die wir wirklich suchen.
Mounk: Das ist eines der seltsamen Paradoxien bei Trump: Einerseits scheint sein Aufstieg die pessimistischsten – und meiner Ansicht nach fehlgeleiteten – Deutungen der amerikanischen Geschichte zu bestätigen. Wenn man in den Sommer 2020 zurückgeht, hieß es: Amerika ist immer noch genau das, was es immer war. Es hat keinerlei Fortschritt gegeben. Die DNA dieses Landes ist rassistisch, definiert nicht durch 1789 und nicht nur zusätzlich durch 1619, das Jahr, in dem die ersten Sklaven an Amerikas Küsten ankamen, sondern fundamental durch 1619. Und man kann sehen, wie Trumps Rohheit und die rassistische Wut, die zu einem Teil seine Wahl ermöglicht hat, diesen Thesen ein Feigenblatt geben. Ich glaube nicht, dass sie damit richtig werden, aber ich verstehe, warum sie an Attraktivität gewannen. Und zugleich ist die bemerkenswerte Tatsache über Donald Trump, dass er zwischen 2016 und 2024 unter Weißen massiv Stimmen verlor, während er den Anteil unter Nicht-Weißen deutlich steigern konnte. Und dass er, wie du sagst, 2024 eine erstaunlich diverse Koalition in rassischer Hinsicht aufstellte. Es ist schwer, diese beiden widersprüchlichen Dinge gleichzeitig im Kopf zu behalten.
Williams: Ich glaube, bloße Vielfalt kann nie das Ziel an sich sein. Bernie Sanders hat das einmal treffend formuliert: Es reicht nicht, wenn 13 Prozent der Milliardärsklasse schwarz sind, ein gewisser Anteil Latino, weiblich oder was auch immer. Ideen zählen, Perspektiven zählen. Eine oberflächlich diverse Gruppe, die im Kern gleich denkt und handelt, wird nicht die Veränderung bringen, die man sich erhofft. Das ist eine Lektion, die Liberale generell lernen sollten: Vielfalt allein löst keine Probleme – egal ob von links oder von rechts. Nur weil etwa ein Inder das FBI leitet, ist das nichts weiter als ein oberflächlicher Wandel, wenn er aus einer politischen Haltung heraus agiert, die man ohnehin ablehnt. Vielleicht müssen wir sagen: Wir hatten den ersten schwarzen Präsidenten, die Diversität wird weiter wachsen – und nun müssen wir uns auf die Werte konzentrieren, die wirklich zählen, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft. Ideen und Werte sind entscheidend, und sie müssen universell gültig und vermittelbar sein. Postrassismus allein reicht nicht, solange die Gesellschaft weiterhin zutiefst ungleich ist.
Mounk: Und solange er nicht die rohe Form des Tribalismus ersetzt, die heute leider so viel von der amerikanischen Öffentlichkeit prägt. Du bist in deinem Buch und auch hier im Gespräch sehr kritisch mit der Linken. Vielleicht wäre es ein smarter Schachzug, Follower zu gewinnen und Bücher zu verkaufen, wenn du zu Trump schweigen würdest. Aber wie ich betrachtest du diese Regierung als eine akute Gefahr für fundamentale demokratische Normen und die Rechtsstaatlichkeit. Erzähl uns, wie du diese Angriffe in Beziehung setzt zu den größeren Themen, über die wir hier gesprochen haben, und wie wir das einordnen sollten, was Trump und seine Regierung in den letzten sechs Monaten getan haben.
Williams: Wie du halte ich dies für den gefährlichsten politischen Moment, den ich erlebt habe. Wir haben es mit einer Art schleichendem Autoritarismus zu tun, der gar nicht mehr schleichend ist, sondern offen da ist, handelt, voll präsent ist. Wir sehen, wie Institutionen diesmal nicht unabhängig bleiben, ihre Integrität nicht wahren können. Er verformt aktiv, wie die Regierung die Gesellschaft prägt. Wir haben über seine Angriffe auf die Universitäten gesprochen, aber es betrifft ebenso die Medien, die Anwaltskanzleien, die er einschüchtert, die Menschen, die er zum vorauseilenden Gehorsam bringt, die Aushöhlung des Außen- und Justizministeriums, in die er seine Gefolgsleute setzte. Er hat einer großen Zahl von Republikanern beigebracht, Politik so zu betreiben, dass es weitreichende und langfristige Folgen haben wird, auch wenn er selbst längst nicht mehr da ist. Welche Wirkung das auf die Linke hat, wissen wir noch gar nicht – sie hat bislang kaum eine Antwort gefunden. Aber mir scheint, er hat die amerikanische politische Kultur für mindestens eine Generation verzerrt und verdorben.
Du hast den Verkauf von Büchern erwähnt. Es wäre sehr einfach gewesen, ein Werk zu schreiben, das sich nur auf die Exzesse der Linken konzentriert, die im vergangenen Jahrzehnt an Einfluss gewonnen hatten. Aber das wäre unehrlich gewesen. Vielleicht hätte es leichter ein Publikum gefunden. Doch es wäre unehrlich, nicht anzuerkennen – und ich tue das im Buch immer wieder –, dass das, was Trump tut, schlimmer ist. Aber man belügt sich selbst, wenn man nicht sieht, dass Trumps Erfolg auch mit den Übertreibungen der Linken zusammenhängt. Das ist die Geschichte von Fehlern an beiden Extremen – und ein Plädoyer für eine vernünftige Antwort aus der Mitte.
Mounk: Genau das macht dieses Buch so wichtig. Es reicht nicht, die Taten der Trump-Regierung klar zu dokumentieren und zu verurteilen – so wichtig das ist. Das tue ich hier im Podcast, in meinen Texten und in Persuasion. Aber wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, dass allein das Warnen vor autoritärem Rechtspopulismus uns schützt. Wir tun das seit zehn Jahren – und es funktioniert nicht besonders gut.
So sehr ich jene Medien bewundere, die jede neue Entgleisung Trumps anprangern: Ich bin in den letzten Jahren überzeugt, dass ein Ausweg aus dieser lähmenden Situation nur über eine neue politische Vision führt, eine Sprache, ein Weltbild, das zu 2025 passt und nicht zu 2000, das ein neues Konsenslager schafft, hinter dem sich die meisten Amerikaner versammeln können. Wenn man nur weiter über Trumps Fehler schreit, erreicht man eine motivierte, ohnehin überzeugte Anhängerschaft, aber man erweitert die Koalition nicht. Und selbst wenn die Demokraten 2028 knapp gewinnen sollten und so verhindern, dass Trump seinen Nachfolger ins Weiße Haus setzt – was sehr wichtig wäre –, stehen wir 2032 wieder an derselben Stelle. Genauso wie Trump zwischen 2020 und 2024 gefährlicher wurde, wird er oder jemand wie er auch zwischen 2028 und 2032 ein effizienteres Movement aufbauen. Deshalb: Auf die Frage, warum man diese Dinge jetzt anspricht – ob das nicht das „eigene Nest beschmutzt“ –, lautet meine Antwort: Dies ist die notwendige intellektuelle Arbeit, wenn wir eine Politik aufbauen wollen, die dieser Gefahr dauerhaft begegnen kann – nicht nur bis zu den Zwischenwahlen.
Williams: Ich stimme dir völlig zu. Wir brauchen eine neue Vision, die für die Mehrheit attraktiv ist. Doch was ich auf der Linken höre, und gerade sie kritisiere ich im Buch am meisten, ist beunruhigend. Da höre ich oft: Eigentlich wurde der wahre Marxismus nie versucht. Wir müssen Leute wie Mamdani in New York wählen und genau jene Politik verdoppeln, die nicht nur Weiße, sondern auch eine wachsende multiethnische Wählerschaft noch unattraktiver findet als die bekannten Verfehlungen, die sie schon mit Trump verbinden. Die Demokraten stehen historisch schlecht da – vielleicht so schlecht wie noch nie. Ihre Politik zieht die meisten Amerikaner schlicht nicht an. Ständig nur die Trommel zu schlagen, dass Trump skandalös sei, bringt nichts. Viele haben sich mit seinen Fehltritten abgefunden, folgen Politik ohnehin nicht genau und denken, es seien immer dieselben Stimmen, die ihn kritisieren – also schalten sie ab.
Der einzige Weg nach vorn ist eine überzeugende Vision. Aber die sehe ich in diesem Land derzeit nicht. Die Vision, die ein Zohran Mamdani verkörpert, mag die Aktivisten begeistern, doch sie erweitert die Wählerbasis der Demokraten nicht. Sie reicht nicht, um den reaktionären Populismus von MAGA zurückzuweisen. Es braucht etwas anderes, neue Führungsfiguren – die fehlen uns im Moment. Und dass man angeblich die Fehler der Linken nicht benennen darf, um der Rechten keine Munition zu geben, ist defätistisch. Stärke bedeutet, sich selbst zu kritisieren, um sich zu korrigieren. Ich hoffe sehr, dass das liberale Zentrum die Demokraten zurückgewinnt und sie aus der Umklammerung der Aktivisten löst. Das war einer der Hauptgründe, warum Kamala 2024 scheiterte: Sie war zu sehr mit Positionen verbunden, die in der breiten amerikanischen Öffentlichkeit als belastet gelten.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.