Claire Lehmann ist eine australische Verlegerin und Journalistin, die 2015 das Online-Magazin Quillette gegründet hat. Sie ist Chefredakteurin von Quillette und schreibt regelmäßig für die Zeitung The Australian.
In dieser Woche sprechen Yascha Mounk und Claire Lehmann über die Psychologie hinter Cancel Culture und Konformität, den Einfluss psychologischer Geschlechtsunterschiede auf die Berufswahl und darüber, wie stark unsere genetische Veranlagung unsere Weltsicht prägt.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Yascha Mounk: Sie haben sich schon seit der Gründung von Quillette – und sogar davor – kritisch zu vielen der überzogenen Auswüchse des „Woken“ in den Sozialwissenschaften und zunehmend auch in unserer Gesellschaft geäußert. Sie sind außerdem eine der wenigen durchgehend philosophisch liberalen Stimmen, die sich weder vom eigenen Publikum noch von Kritikern vereinnahmen lassen – im Sinne eines ständigen Mitziehens mit dem eigenen Lager, ganz gleich, was passiert. Auf Social Media, insbesondere auf X, bekommen Sie inzwischen auch von rechts Gegenwind: Damals, als Sie einige der australischen COVID-Maßnahmen verteidigten, und heute, weil Sie Donald Trump sehr klar kritisieren.
Was braucht es in solchen Momenten – in denen es verführerisch wäre, einfach das zu tun, was das eigene Publikum will oder erwartet –, um trotzdem für politische Prinzipien einzustehen? Gerade weil viele Menschen genau das nicht tun.
Claire Lehmann: Nun, ich bin Australierin und habe Quillette 2015 gegründet. Ich war keine Wissenschaftlerin, sondern Master-Studentin – und habe damals bemerkt, dass die Sozialwissenschaften, insbesondere meine Disziplin, die Psychologie, durch politische Voreingenommenheit verzerrt wurden. Mich hat interessiert, wie die Politik die Wissenschaft, insbesondere die Forschung, beeinflusst. Als ich Quillette gestartet habe, haben Wissenschaftler für mich geschrieben, die eher heterodox waren. Sie haben Ideen vertreten, die in den Medien nicht populär waren und teilweise in der akademischen Welt selbst unterdrückt wurden – Themen wie biosoziale Kriminologie, Geschlechterunterschiede in der Neurowissenschaft, Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Psychologie und Ähnliches. Es hat nicht lange gedauert, bis wir Berichte von Menschen bekommen haben, die komplett gecancelt wurden – gefeuert wegen ihrer Ansichten oder im Netz regelrecht überrannt wurden. Und so kam es, dass die Gründung von Quillette zeitlich genau mit dieser Welle an Cancel-Fällen zusammenfiel.
Wir wurden zur Anlaufstelle für Menschen, die solche Erfahrungen gemacht hatten – und es waren wirklich viele. Ich glaube, inzwischen hat sich das glücklicherweise etwas gelegt. Aber damals wurden Leute gecancelt, weil sie in einem Theaterprojekt eine unangenehme Frage zu Transgender-Themen gestellt hatten, zum Beispiel. Oder ähnliches. Es waren Künstler, Wissenschaftler – Menschen aus eher linksliberalen Milieus –, die unter dieser illiberalen Stimmung und dem Gruppendenken litten, das in den Jahren 2018, 2019 und besonders 2020 aufkam.
Mounk: Inwieweit haben Sie das damals schon kommen sehen? Als Sie angefangen haben, sich in Ihren eigenen Texten und in Quillette auf solche Themen zu konzentrieren – dachten Sie, wir stehen am Anfang einer rasanten Entwicklung, die schlimmer wird und an Einfluss gewinnt? Oder haben Sie sich eher nur Sorgen gemacht um das, was Sie damals in Ihrer eigenen Ecke der Welt – Psychologie, Sozialwissenschaften – beobachtet haben, und hatten dann gewissermaßen Glück (oder Pech für die Welt), dass Sie genau zum richtigen Zeitpunkt auf das Thema gesetzt haben? Ich selbst habe relativ früh begonnen, mir darüber Gedanken zu machen. Ich habe damals über das geschrieben, was ich „Sokal Squared“ genannt habe – diesen sehr lustigen Versuch von Helen Pluckrose und ein paar anderen, völlig absurde sozialwissenschaftliche Aufsätze zu schreiben, die sie dann tatsächlich in Fachzeitschriften untergebracht haben. Aber das war, glaube ich, schon einige Jahre nachdem Sie begonnen hatten, darüber zu sprechen. Es steckt da natürlich immer auch ein bisschen Glück drin – und ein bisschen Weitblick. Aber in welchem Maß war es bei Ihnen echte Voraussicht, und in welchem Maß hat es Sie dann doch überrascht?
Lehmann: Ich war ehrlich gesagt überrascht – von der Wucht und Heftigkeit der Cancel-Kultur und der illiberalen Tendenzen in den Jahren 2018, 2019 und 2020. Auch von der Gegenreaktion auf uns – also Quillette als Medium und auf mich persönlich. Ich hatte mich schon lange über schlechte Ideen in der Wissenschaft gewundert. Bevor ich Psychologie studiert habe, hatte ich einen Abschluss in Englisch – und war sehr vertraut mit Foucault, dem Poststrukturalismus und anderen modischen Theorien. Kritische Theorie war damals noch kein offizielles Studienfach – das kam erst später –, aber ich kannte mich mit Postmodernismus aus, mit der Abwertung objektiver Wahrheit und empirischer Forschung. Ich hielt diese Strömungen für nihilistisch und glaubte, dass sie zwangsläufig in eine schlechte Richtung führen würden. Als ich dann sah, wie sich illiberale Haltungen in der Kultur ausbreiteten – insbesondere in den USA –, war ich doch überrascht. Etwa im Jahr 2020, als Unternehmen überall in den Vereinigten Staaten öffentlich BLM unterstützten, während gleichzeitig in vielen Großstädten Unruhen ausbrachen.
Es gab viele Dinge, die mich überrascht haben, obwohl ich mit diesen problematischen Ideen vertraut war. Ich weiß, wie Konformitätsdruck wirkt, und dass Menschen irrationale Dinge tun, weil alle anderen sie tun. Als ich Quillette gestartet habe und erste Artikel von Wissenschaftlern veröffentlicht habe, die grundlegende Ideen vertreten haben – etwa, dass Genetik unser Wesen mitbestimmt –, wurde ich sofort als Eugenikerin oder Nazi bezeichnet. Ich dachte, es muss da etwas in der amerikanischen Kultur geben, das besonders feindlich gegenüber bestimmten wissenschaftlichen Fakten ist – Fakten, die man bei uns an den Unis ganz selbstverständlich lernt. Bei uns war es völlig normal, zu hören, dass Intelligenz teilweise vererbt ist. Aber als ich mit amerikanischen Wissenschaftlern sprach, sagten die mir: Unsere Studierenden lernen das nicht. Es gilt als kontrovers.
Mounk: Es ist interessant zu sehen, wo die Tabus liegen – und wie sie sich entwickeln. Eine Frage, die ich mir stelle, ist, ob die jeweiligen historischen und politischen Kulturen diese Tabus hervorbringen – oder ob es eher so ist, dass es ein Bedürfnis nach Tabus gibt, weil man jemanden canceln will. Eine Möglichkeit wäre zu sagen: In den USA sind Fragen rund um „Rasse“ aus offensichtlichen historischen Gründen besonders sensibel. Und selbst wenn es, wie in Ihrem Fall, um genetische Vererbung auf individueller Ebene geht, besteht da vielleicht die Angst, dass man, wenn man etwas völlig Unstrittiges aus der Fachliteratur anerkennt – etwa, dass Eltern mit hohem IQ tendenziell Kinder mit überdurchschnittlicher Intelligenz haben, mit gewisser Rückkehr zum Mittelwert –, dass das dann auch auf Gruppenebene behauptet werden könnte, wo das politische Tabu nachvollziehbarer ist. Es gibt aber auch die Theorie, dass das gar nicht an bestimmten kulturellen Faktoren liegt – sondern dass es einfach dieses Bedürfnis gibt, Tabus zu schaffen, damit man Menschen angreifen kann.
Ich habe darüber nachgedacht, wie es in den USA eine Zeit lang fast nur um das Thema Rassismus ging. Man konnte gecancelt werden und sofort hieß es: Diese Person ist ein Rassist. Es gab zum Beispiel den Fall einer bekannten Food-Journalistin, die zwei Frauen kritisierte – beide waren zufällig asiatisch-amerikanisch. Die Kritik hatte inhaltlich nichts mit negativen Stereotypen über asiatische Amerikaner zu tun. Aber es reichte, dass jemand sagte: Moment mal, vielleicht ist diese Person rassistisch – und sie wurde gecancelt. Sie wurde faktisch von der New York Times entlassen oder hat jedenfalls nie wieder für sie geschrieben.
Gleichzeitig hatten Trans-Themen im Vereinigten Königreich eine enorme Bedeutung. Das war dort das große Tabuthema. Und ich hatte nicht den Eindruck, dass das daran lag, dass Großbritannien eine besondere Geschichte hat, die Trans-Themen dort relevanter macht als in den USA. Tatsächlich sind Trans-Themen inzwischen auch in den Vereinigten Staaten sehr präsent – vermutlich nicht, weil das Thema Rasse irgendwie gelöst wäre (das wird es angesichts der US-Geschichte wohl nie), sondern weil es nach vier, fünf Jahren völliger Fixierung irgendwann in den Hintergrund tritt. Und dann braucht es ein neues Schlachtfeld. Und weil das Thema Rasse in Großbritannien nicht so präsent war, konnte dort das Trans-Thema mehr Raum einnehmen.
Lehmann: Ja, und Sie kennen vermutlich die These von Musa al-Gharbi, dass vieles davon eigentlich mit innerelitärem Statuswettbewerb zu tun hat – also damit, dass viele Leute mit Hochschulabschluss oder weiterführender Ausbildung sozial absteigen. Wenn man zum Beispiel einen Master in englischer Literatur hat und keinen Job findet, kann man sich vielleicht absichern, indem man jemandem, der schon an der Uni oder im Medienbetrieb arbeitet, Rassismus vorwirft. Es geht also um den Kampf um begrenzte Ressourcen. Meinen Sie das, wenn Sie sagen, dass Menschen gezielt nach Tabus suchen?
Mounk: Ich denke, das kann eine der Erklärungen sein. Es gibt da unterschiedliche Ebenen, wie bewusst einem das überhaupt sein muss. Rob Henderson hat die Idee der „Luxury Beliefs“ formuliert – in manchen seiner Darstellungen klingt das für meinen Geschmack ein bisschen verschwörungstheoretisch, in anderen deutlich weniger. Wenn man ihn darauf anspricht, glaube ich auch nicht, dass er wirklich an die extremere Version glaubt. In seinen Memoiren schlägt er an einer Stelle vor, dass seine Kommilitonen an der Yale University, die sich lautstark über die Übel des Kapitalismus beklagen, dann aber Bewerbungen an Goldman Sachs schicken, sich vielleicht – irgendwo im Hinterkopf – denken: Das ist eine gute Strategie, um sicherzustellen, dass es nicht zu viele Mitbewerber gibt.
Dahinter steht die größere Frage: Wie erlangt man kulturelles Kapital? Ich denke, das ist die klügere Variante dieses Arguments – die sowohl Henderson, wenn auch auf seine Weise, als auch al-Gharbi, vielleicht aus einer anderen Richtung kommend, vertreten.
Wenn man in einem Doktorat Studium für englische Literatur ist: Wie zeigt man, dass man der radikalste, engagierteste, politisch progressivste Intellektuelle mit echtem „Organischen Anspruch“ ist? Indem man sich immer weiter in abseitige – und offen gesagt, teils lächerliche – Theorien hineinarbeitet.
Ich frage mich aber auch, ob das nicht teilweise eine Reaktion auf bestimmte emotionale Bedürfnisse ist. Wenn man das Bedürfnis hat, Teil einer moralisch reinen Gemeinschaft zu sein – in der man die Reinheit dieser Gemeinschaft und die eigene moralische Überlegenheit dadurch demonstriert, dass man Sünder aufspürt, sie ausstößt, öffentlich anprangert und auf dem Marktplatz auspeitscht –, dann braucht man entweder vordefinierte oder spontan erfundene Regeln, gegen die man sie anklagen kann. Und mir scheint, dass genau das im Kern passiert.
Lehmann: Ich selbst finde diese Erklärung am überzeugendsten. Schon rein anekdotisch betrachtet: Menschen, die Moral und Genauigkeit voneinander trennen können, sind erstaunlich selten. Die Fähigkeit, das, was wahr ist, von dem zu trennen, was gut ist, fällt uns nicht leicht – wir müssen lernen, so zu denken. Es ist einfach ganz natürlich für Menschen, ihre moralische Weltsicht mit dem zu verwechseln, wie die Welt tatsächlich ist oder sein sollte. Jede Art von Fakten, Theorien oder Ideen, die im Widerspruch zu diesem moralischen Bild stehen, wird dann als bedrohlich oder tabu wahrgenommen – und als etwas, das sanktioniert gehört.
Mounk: Ich habe darüber nachgedacht, als ich über Demokratie, Identität, Diversität und ähnliche Fragen unterrichtet habe. Manche der Texte im Kurs hatte ich bewusst gewählt, weil ich wusste, dass sie umstritten und provokant sein würden. Ich habe natürlich Texte von beiden Seiten des Arguments ausgewählt und die Studierenden ausdrücklich ermutigt, sich auf eine gute Debatte einzulassen.
Dann gab es aber ein paar Texte, bei denen mich der Widerstand überrascht hat. Zwei Beispiele sind mir besonders im Kopf geblieben. Einer davon war ein klassisches Buch zur afrikanischen Politik, das die Frage aufwirft, wie man über Demokratie in einem Land mit tiefgreifenden ethnischen Spaltungen nachdenken sollte. Man stelle sich also ein Land mit idealtypischen demokratischen Institutionen vor – freie Presse, keine Verfolgung von Oppositionsführern, faire Wahlen. Alles sieht formal gut aus. Aber: Eine ethnische Gruppe macht 55 % der Bevölkerung aus, die andere 45 %. Gruppe A gewinnt immer, besetzt alle Schlüsselpositionen in der Regierung, und die Regionen, in denen diese Gruppe überrepräsentiert ist, erhalten den Großteil der staatlichen Mittel – wirtschaftlich entwickeln sich diese Regionen also deutlich besser. Es ist eine Demokratie im formalsten Sinne – aber sie erfüllt ganz offensichtlich nicht eines der zentralen Versprechen der Demokratie. Das ist ein interessanter Widerspruch.
Aber die Studierenden in diesem Kurs wollten sich mit diesem Szenario einfach nicht auseinandersetzen. Sie sagten, so ein Land gäbe es nicht. Natürlich ist das ein stilisiertes Beispiel. Kein Land ist exakt so – aber viele weisen solche Strukturen in gewissem Maße auf. Einige davon liegen in Subsahara-Afrika, andere z. B. in Bosnien-Herzegowina oder in anderen Teilen Europas. Ethnische Politik ist leider ein sehr reales Phänomen – in ganz unterschiedlichen Formen und auf fast jedem Kontinent.
Für mich war das ein aufschlussreiches Beispiel. Es war nicht direkt „woke“ – es berührt nicht die klassischen Streitfragen der Kulturkämpfe der letzten zehn Jahre. Aber es fühlte sich trotzdem an wie eine Weigerung einiger Studierender – nicht aller –, sich auf Fakten einzulassen, die sie womöglich zu Schlüssen zwingen könnten, die sie nicht ziehen wollen. Dabei denke ich, dass es in solchen Fällen fast immer Möglichkeiten gibt, sich diesen Fakten zu stellen, ohne gleich zu sagen: Demokratie ist zum Scheitern verurteilt oder multiethnische Gesellschaften funktionieren nie. Aber mein Eindruck war, dass sie befürchteten, die Anerkennung dieser empirischen Prämisse würde sie in Richtung einer normativen Schlussfolgerung drängen, die sie strikt ablehnen. Und der einfachste Ausweg war, die empirische Prämisse komplett abzulehnen.
Lehmann: Ich glaube, das ist ein ziemlich weit verbreitetes Denkmuster. Nicht unbedingt ein bewusstes – es ist einfach diese Schwierigkeit, die viele Menschen haben, ihre moralischen Überzeugungen oder ihre emotionale Vorstellung davon, wie eine gute Gesellschaft aussieht, von der Realität zu trennen. Aus psychologischer Sicht könnte man sagen, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit für neue Erfahrungen dabei eine Rolle spielen. Vielleicht geht es nicht um Intelligenz, sondern darum, ob jemand grundsätzlich offen für neue Ideen ist. Vielleicht haben Menschen mit stark ausgeprägter Konventionalität größere Schwierigkeiten, ihre moralische Weltsicht zu verändern, wenn sie mit widersprüchlichen Fakten konfrontiert werden. Ich denke, das ist letztlich ein psychologisches Problem.
Mounk: Das ist interessant, und ich finde viele der psychologischen Studien, die solche Persönlichkeitsmerkmale mit politischem Verhalten in Verbindung bringen, durchaus überzeugend. Es gab da vor einigen Jahren eine viel beachtete Studie, die nahelegt, dass Menschen mit stark ausgeprägten dunklen Persönlichkeitsmerkmalen – also Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie – tendenziell stärker zu extremen politischen Positionen neigen, sowohl ganz rechts als auch ganz links. Manche Aspekte der Woke-Politik sind womöglich gar nicht von dem echten Wunsch getrieben, Ungerechtigkeiten zu beseitigen, sondern vielmehr von dem Bedürfnis, andere zu bestrafen – weil sie vom Gruppenkonsens abweichen oder sich nicht vollständig anpassen. Ich war zunächst ein wenig skeptisch, weil es ja sehr viele psychologische Studien gibt, die sich später nicht replizieren lassen.
Es gibt da tatsächlich, glaube ich, eine überzeugende Replikationsstudie, die vielleicht vor einem Jahr veröffentlicht wurde, und die auch interessante Dinge über die Rolle von Sadismus gesagt hat: Ein Teil dieses Verhaltens besteht offenbar darin, dass Menschen sich nach sadistischem Handeln sehnen – und sich von Online-Räumen angezogen fühlen, die ihnen dafür eine Rechtfertigung liefern. Ich habe das mal in einem Artikel namens Der Zweck ist Grausamkeit beschrieben – darin argumentiere ich, dass Plattformen wie Bluesky sehr leicht in diese Falle tappen können.
Jetzt ist es interessant zu überlegen, ob das Verhalten, das ich bei diesen Studierenden beobachtet habe, mit den Big-Five-Persönlichkeitsmerkmalen zusammenhängt – etwa mit Offenheit für neue Erfahrungen. Ich kann mir schon vorstellen, warum das so sein könnte. Wenn jemand in seiner Weltsicht sehr starr ist und sich stark bedroht fühlt, sobald diese Weltsicht ins Wanken gerät, dann wird er sich instinktiv dagegen wehren. Natürlich gibt es da auch gegenläufige Faktoren. Die politischen Milieus, in denen solche Positionen am linken Rand populär sind, sind oft genau jene, die sich selbst als besonders offen für Neues verstehen – aus vielen Gründen: weil diese Menschen sich häufiger für bestimmte Universitäten entscheiden, in großen Städten leben usw. Zumindest würden sie sich selbst als sehr offen für Erfahrungen bezeichnen. Es wäre also wirklich faszinierend zu sehen, ob sich diese Hypothese empirisch bestätigt.
Lehmann: Das wäre es. Aber man darf nicht vergessen: Auch in einem sozialen Milieu, das sich selbst als nonkonformistisch versteht, kann man ein Konformist sein.
Mounk: Ja, natürlich. Aber die Frage ist dann: Wie sieht das psychologische Profil der Menschen in diesem Milieu aus? Sind Menschen, die offen für neue Erfahrungen sind, eher dazu geneigt, sich solchen Milieus anzuschließen, die sich selbst als extrem nonkonformistisch begreifen – selbst wenn sie am Ende nur konformistischer Nonkonformismus sind? Vielleicht ist es ja so, dass innerhalb des nonkonformistischen Milieus gerade die besonders konformistischen Leute diejenigen sind, die eben nicht offen für neue Erfahrungen sind. Aber ob sie weniger offen sind als der Durchschnittsmensch, der sich gar nicht erst zu diesem Milieu hingezogen fühlt, ist noch mal eine andere Frage.
Lehmann: Genau. Sie haben vorhin die dunkle Triade erwähnt. Ein interessanter Befund – und ich glaube, der wurde inzwischen auch repliziert – ist, dass „zur Schau gestellte Opferkonkurrenz“ mit Narzissmus korreliert. Also: Menschen, die sich als Opfer inszenieren und ihren Opferstatus nutzen, um soziales oder kulturelles Kapital zu gewinnen, neigen im Schnitt stärker zu narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen. Und das finde ich hochinteressant. Es deckt sich auch mit meinen anekdotischen Erfahrungen.
Mounk: Sehe ich genauso. Was würden Sie sagen – welche Themen waren vor zehn Jahren, als Sie Quillette gegründet haben, noch außerhalb des akzeptierten Diskurses, haben aber inzwischen zu Recht ein breiteres Publikum erreicht und werden heute besser verstanden? Und wo sehen Sie Themen, bei denen es eine solide akademische Grundlage gibt, um bestimmte Ideen ernst zu nehmen oder zumindest in Betracht zu ziehen, bei denen aber weiterhin ein Tabu herrscht – also Bereiche, in denen wir uns noch immer weigern, uns mit bestimmten Fragen offen auseinanderzusetzen?
Lehmann: Ich war vor zehn Jahren sehr fasziniert von psychologischen Geschlechterunterschieden – und bin es immer noch. Überraschenderweise wurde dieses Forschungsfeld in der akademischen Welt, besonders in der Psychologie und der Neurowissenschaft, lange behindert, weil man befürchtete, es könnte zur Rechtfertigung von Sexismus dienen. Wenn man sich zum Beispiel die Hirnaktivität in fMRT-Scans ansieht, erkennt man leichte Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Einige Wissenschaftler haben daraus geschlossen, das könne als Argument dienen, um Frauen von wirtschaftlichen oder politischen Spitzenpositionen auszuschließen.
Das ist ein sehr klassisches Motiv der zweiten Welle des Feminismus – diese Idee, dass jede Differenz zwischen Männern und Frauen automatisch dazu führe, dass Frauen benachteiligt oder ausgeschlossen werden würden. Für meine Generation aber wirkte es absurd und altmodisch, empirische Forschung aus genau diesem Grund zu unterdrücken oder zu kritisieren. Es erschien mir einfach selbstschädigend. Gerade als Frau hat mich diese Frage interessiert: Ich wollte tatsächlich wissen, wie sich meine Psychologie, meine Persönlichkeit oder meine Hirnfunktion im Durchschnitt von der eines Mannes unterscheidet. Das war für mich einfach eine faszinierende Fragestellung. Ich habe alles gelesen, was ich in die Hände bekam, und mit vielen Wissenschaftlern gesprochen.
Es war wirklich erschütternd zu hören, wie viele von ihnen sich verunglimpft und als sexistisch beschimpft fühlten, nur weil sie dieses wichtige Thema erforschten. Heute wissen wir, dass es gerade in der Neurowissenschaft extrem relevant ist – zum Beispiel bei Medikamentendosierungen. Wir wissen, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf bestimmte Medikamente reagieren. Aber weil weibliche Gehirne lange als nicht untersuchenswert galten, bekamen Frauen über Jahrzehnte hinweg einfach dieselben Dosierungen wie Männer. Das hatte reale, gesundheitliche Folgen. Ich denke, heute hat sich die Kultur etwas gewandelt. Immer mehr junge Frauen interessieren sich für dieses Thema und sagen: Wir müssen das wissen. Diese ältere Generation von Akademikern, die stark von der zweiten feministischen Welle geprägt war – mit der Vorstellung, Männer und Frauen seien völlig austauschbar –, geht langsam in Rente und hat in der akademischen Welt weniger Einfluss. Es ist also auch eine Generationenfrage.
Mounk: Das ist sehr interessant. Was sind denn einige der Befunde in diesem Forschungsfeld, von denen Sie sagen würden: Das ist wahr – oder zumindest sehr gut belegt? Viele Hörer dieses Podcasts gehen vermutlich davon aus, dass Männer und Frauen natürlich in vielerlei Hinsicht unterschiedlich sind, aber in den entscheidenden Dingen funktionieren unsere Gehirne doch gleich. Wir alle können dieselben Texte lesen, über dieselben philosophischen Fragen diskutieren, dieselben Nachrichten besprechen – völlig unabhängig vom Geschlecht. Der Widerstand gegen die Vorstellung biologischer Unterschiede kommt natürlich auch daher, dass diese fundamentale Gleichheit über so lange Zeit geleugnet wurde. Und weil man ja ganz selbstverständlich mit Freunden beiderlei Geschlechts über dieselben Themen sprechen kann – warum also sollte es da einen Unterschied geben?
Sie haben nun viel von dieser Forschung gelesen – was würden Sie sagen: Ja, schon, aber … hier sind ein paar interessante Unterschiede, die uns tatsächlich helfen, die Welt besser zu verstehen.
Lehmann: Nun, die Überschneidungen sind deutlich größer als die Unterschiede. Wir wissen heute sehr viel mehr über psychologische Unterschiede als über neurowissenschaftliche, weil die Forschung zur Neurowissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt. Aber es ist plausibel, dass sich die Unterschiede, die wir in der Psychologie sehen, auch im Gehirn abbilden lassen. In der Psychologie ist einer der größten Unterschiede ganz klar Sexualität und sexuelles Verhalten. Das wurde über Jahrzehnte hinweg erforscht, vor allem durch David Buss in der evolutionären Psychologie. Wenn wir über sexuelle Unterschiede sprechen, geht es um Dinge wie sexuelles Verlangen, wie viele Sexualpartner man im Laufe des Lebens haben möchte, ob man eher an kurzfristigen oder langfristigen Beziehungen interessiert ist. Männer und Frauen überschneiden sich bei all dem durchaus – aber im Durchschnitt gibt es Unterschiede.
Ein besonders interessantes Feld ist die Persönlichkeitspsychologie. Frauen sind im Schnitt umgänglicher als Männer. Das ergibt aus evolutionärer Sicht Sinn, denn wer umgänglicher ist, geht eher Konflikten aus dem Weg. Das wäre in Situationen, in denen man sich um kleine Kinder kümmert, ein Vorteil. Umgänglich zu sein bedeutet aber auch, leichter ausnutzbar zu sein. Jeder, der Mütter mit kleinen Kindern beobachtet hat, weiß: Kleine Kinder lieben es, ihre Mütter auszunutzen. Es hätte also einen evolutionären Vorteil gehabt, wenn Frauen im Schnitt eine umgänglichere Persönlichkeit entwickelt haben.
Ich denke, dieser Unterschied in der Umgänglichkeit erklärt vieles von dem, was wir bei beruflichen Präferenzen beobachten. Ich bin Unternehmerin, arbeite im Geschäftsleben – und bin dort als Gründerin eher die Ausnahme. Ich hatte ein Büro im Sydney Startup Hub und habe viele Gründer kennengelernt. Die sind überwiegend männlich. Und in der Geschäftswelt versuchen Menschen, einen auszunutzen. Wenn sie sehen, dass man Geld verdient, versuchen sie, ein Stück davon abzubekommen. Sie versuchen, dich auszunutzen oder Deals abzuschließen, die nicht in deinem Interesse sind. Es gibt viele Nullsummenspiele. Da ist es leicht zu sehen, warum jemand, der umgänglicher ist als ich, in so einem Umfeld nicht unbedingt gedeiht. Aus meiner Sicht ist es also nachvollziehbar, warum es zum Beispiel nicht mehr weibliche Gründer gibt.
Was die Hirnfunktion und die Neurowissenschaft geschlechtlicher Unterschiede angeht, steckt die Forschung noch ganz am Anfang. Ich kann also nicht mit großer Sicherheit sagen, worin genau die Unterschiede bestehen. Aber es gibt einen großartigen Neurowissenschaftler namens Larry Cahill, der sich seit Jahrzehnten mit dieser Frage beschäftigt. Und er stellt fest, dass es Unterschiede in der Struktur und Aktivität des Gehirns gibt, die sich mit Persönlichkeitsunterschieden decken – und dass subtile Unterschiede durchaus zu messbarem Verhalten führen können.
Mounk: Was ich an diesen Debatten immer besonders interessant finde, ist nicht nur, dass politische Ziele wissenschaftlicher Neugier oft den Rang ablaufen, sondern auch, dass viele Leute ein komplett falsches intuitives Modell davon haben, wie man politische Ziele am besten erreicht. Nehmen wir an, man sorgt sich darüber, dass es zu wenige weibliche Gründer in der Tech-Branche oder in Startups allgemein gibt – und man möchte das ändern. Dann hören manche vielleicht: Frauen sind im Schnitt umgänglicher, und das ist möglicherweise ein Grund für ihre Unterrepräsentation in diesem Bereich. Und dann denken sie: Moment mal – das klingt nach einer biologischen Erklärung für diesen Unterschied. Vielleicht rechtfertigt das ja sogar die Situation. Oder: Vielleicht ist das ein Grund, Frauen wieder an den Herd zu schicken.
Ich finde, das überschätzt massiv den Einfluss von Akademikern, Autoren, Intellektuellen und so weiter. Es geht von der Vorstellung aus, dass allein das Benennen einer Idee – sofern sie denn stimmt, ich kenne die Forschung in dem Fall nicht – schon gewaltige gesellschaftliche Folgen hat. Und das auch deshalb, weil viele dieser Leute sich selbst schmeicheln wollen mit dem Gedanken, sie hätten einen riesigen Einfluss auf die Welt.
Gleichzeitig schenken sie einer anderen Überlegung zu wenig Beachtung – nämlich der, dass das vielleicht ein Faktor ist, aber dass man genau damit arbeiten kann. Vielleicht durch Trainingsprogramme oder durch Regeln, die man in der Startup-Welt so verändert, dass es weniger wichtig wird, durchsetzungsstark oder konfliktsuchend zu sein, um erfolgreich zu gründen. Das wäre möglicherweise etwas Gutes. Es könnte auch dazu führen, dass mehr Männer mit hoher Umgänglichkeit sich überhaupt vorstellen können, zu gründen – und auch die könnten sehr wertvolle Beiträge leisten. Und wenn man erfolgreiche Gründer nicht mehr so stark danach auswählt, ob sie streitlustig und hart im Nehmen sind, hätte das vielleicht sogar positive Auswirkungen darauf, wie sie später die großen Unternehmen führen, die aus ihren Startups entstehen.
Lehmann: Ganz genau. Ich denke, es geht im Kern wieder zurück auf dieses tief verankerte kulturelle Narrativ, dass Menschen unbeschriebene Blätter sind. Natürlich beeinflusst Sprache die Kultur – das wissen wir. Aber wie Sie aus den Geisteswissenschaften wissen, gilt es dort als gängige Auffassung, dass Diskurse Macht erzeugen. Wenn man also über Persönlichkeitsmerkmale spricht oder bestimmten menschlichen Verhaltensweisen wissenschaftliche Labels gibt, dann soll das – so die Vorstellung – irgendwann Realität werden und sich selbst erfüllen. Das ist ein foucaultscher Gedanke.
Ich glaube, manche Intellektuelle und Akademiker zögern deshalb, sich mit wissenschaftlicher Literatur auseinanderzusetzen, weil sie glauben, dass diese dann die Welt in eine Richtung verändert, die sie nicht wollen. Ganz buchstäblich: Sie glauben, dass durch die Benennung bestimmter Merkmale diese dann in den Menschen selbst stärker zum Ausdruck kommen. Ich halte das für eine falsche Vorstellung.
Möchten Sie (oder jemand, den Sie kennen) meine Artikel und Interviews auf Englisch oder Französisch lesen? Abonnieren Sie sich gerne bei meinen entsprechenden Substacks!
Mounk: Sprechen wir etwas grundsätzlicher über die Idee vom „Umbeschriebenen Blatt“. Ein Einwand, der mir sofort einfällt – und den sicher viele haben werden, wenn sie etwas über Forschung zu Eigenschaften wie Umgänglichkeit hören –, ist genau dieser: Ja, natürlich, wenn man heute einen Persönlichkeitstest macht, schneiden Frauen im Schnitt umgänglicher ab als Männer. Ich glaube, kaum jemand würde diesen Befund komplett bestreiten. Der Widerstand kommt eher bei der Erklärung – viele würden sagen: Das liegt doch an sexistischen Normen in der Gesellschaft. Mädchen lernen von klein auf, umgänglich zu sein. Wenn ein vierjähriger Junge sich durchsetzt, applaudieren die Erwachsenen und sagen: Super, du wirst mal ein selbstbewusster Mann. Wenn ein vierjähriges Mädchen dasselbe tut, heißt es womöglich: Sei vorsichtig, du bist ganz schön zickig – das ist nicht sehr weiblich, benimm dich bitte etwas netter.
Was meinen Sie? Gibt es Hinweise darauf, dass einige dieser Unterschiede nicht nur durch gesellschaftliche Konventionen oder soziale Normen entstehen? Und grundsätzlicher gefragt: Warum haben wir eigentlich diesen starken Drang, solche Unterschiede lieber mit sozialen Normen zu erklären – obwohl sie, aus Ihrer Sicht, oft biologisch tiefer verankert sind?
Lehmann: Der Grund, warum wir wissen, dass diese Eigenschaften nicht nur sozial konstruiert sind, ist, dass es unterschiedliche Beweislinien aus verschiedenen Forschungsbereichen gibt – also konvergierende Evidenz. Es gibt Studien von Leuten wie David Schmidt und David Geary, die zeigen: Geschlechtsunterschiede in der Persönlichkeit nehmen in geschlechtergerechteren Ländern sogar zu. Wenn man also Persönlichkeitsmerkmale von Männern und Frauen in Skandinavien vergleicht, sieht man größere Unterschiede in Eigenschaften wie Umgänglichkeit als in Ländern, in denen Geschlechtergerechtigkeit nicht der gesellschaftliche Standard ist. Unterschiede findet man auch dort – aber in den egalitäreren Ländern werden sie größer. Die Theorie dahinter ist: Wenn man Barrieren abbaut und mehr Freiheiten schafft, können sich natürliche Neigungen stärker entfalten.
Selbst wenn man dieser Interpretation nicht folgen will – diese Befunde widersprechen klar der sogenannten Social Role Theory, also der Vorstellung, dass Mädchen durch Erziehung zu mehr Umgänglichkeit „trainiert“ werden, weil das die gesellschaftliche Erwartung ist. Wenn aber auch kleine Mädchen in Schweden, Australien oder anderen Ländern mit hoher Gleichstellung solche Persönlichkeitsunterschiede zeigen, dann spricht einiges dafür, dass da mehr im Spiel ist als nur Sozialisierung.
Außerdem gibt es gute evolutionäre Gründe dafür, warum sich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale entwickelt haben. Viele Menschen tun sich immer noch schwer mit der Idee, dass unsere Psyche durch Evolution beeinflusst sein könnte. Aber es ist doch unlogisch zu glauben, dass die Evolution unsere Körper geformt hat – aber exakt am Hals aufhört und unser Gehirn vollkommen unbeeinflusst lässt.
Mounk: Ich glaube übrigens, dass dieser Widerstand genau mit dem zu tun hat, worüber wir im Laufe des Gesprächs immer wieder gesprochen haben – nur in verschiedenen Varianten. Die gleichen Studierenden, die sich bei dem Beispiel zur Demokratie in ethnisch geteilten Gesellschaften verweigert haben, haben sich auch heftig gegen ein Kapitel aus The Righteous Mind von Jonathan Haidt gewehrt – einem der besten Bücher zur politischen Psychologie der letzten Jahrzehnte, wie ich finde.
Und der Grund war genau das: Sie sagten, evolutionäre Psychologie sei als Disziplin einfach nicht ernst zu nehmen. Es ist interessant zu beobachten, wie Studierende bestimmte Slogans übernehmen. Und ja, es gibt viele schlechte Argumente aus der evolutionären Psychologie – vor allem in populärwissenschaftlichen Formaten. Etwa solche, die behaupten: Weil Frauen in der Geschichte X gemacht haben und Männer Y, soll das auch heute noch gelten – also: Männer führen, Frauen folgen. Solche Aussagen gibt es auf TikTok oder in den sozialen Medien tatsächlich – oft verbunden mit einem Bezug auf Evolution. Und dadurch entsteht dann diese Denkweise: Alles, was versucht, heutiges menschliches Verhalten evolutionär zu erklären, muss politisch verdächtig sein – also zweifeln wir gleich die ganze Methodik an.
Lehmann: Ja, und ich finde es wirklich bedauerlich, dass an den meisten Schulen keine grundlegende Statistik unterrichtet wird. Es sollte zum Allgemeinwissen jeder gebildeten Person gehören, den Unterschied zwischen einem Durchschnitt und einem Ausreißer zu kennen. Ich lese viel Literatur über psychologische Geschlechtsunterschiede – und ich weiß, dass der Durchschnitt nicht auf mich zutrifft, weil ich keine durchschnittliche Frau bin. Ich bin ein Ausreißer. Ich habe andere Interessen und Verhaltensweisen als der Durchschnitt. Deshalb fällt es mir sehr leicht, mich nicht von der Vorstellung angegriffen zu fühlen, dass der Durchschnitt so aussieht. Aber ich glaube, für Menschen, die mit den Grundlagen der Statistik – also Normalverteilung, Varianz, Standardabweichung – nicht vertraut sind, kann das herausfordernd oder sogar verletzend wirken. Sie fühlen sich womöglich in eine Beschreibung gedrängt, mit der sie sich nicht identifizieren. Aber der Punkt ist: Es ist einfach interessant zu wissen, dass menschliches Verhalten auf einer Verteilungsskala liegt und wir alle irgendwo auf diesem Spektrum sitzen. Ich empfinde es als unglaublich befreiend und ermächtigend, mehr über diese Beschreibungen zu verstehen. Ich denke also, dass statistische Unkenntnis durchaus etwas mit der Abwehrhaltung zu tun haben könnte.
Mounk: Ich würde gerne noch einmal auf die Frage zurückkommen: Wenn es also Geschlechterunterschiede gibt – worin liegen ihre Ursprünge? Mir fallen dazu zwei Dinge auf. Erstens eine Beobachtung, die viele Menschen machen, sobald sie Kinder haben. Sie bemühen sich sehr, ihren Töchtern und Söhnen die gleichen Spielsachen zu geben. Sie schenken den Mädchen Autos und den Jungen Puppen. Und trotzdem greifen die Jungen im Schnitt lieber zu den Autos, und die Mädchen im Schnitt lieber zu den Puppen. Natürlich gibt es Ausnahmen. Einige meiner Freunde sind sehr skeptisch gegenüber der Evolutionsbiologie und haben eine soziologische Ausbildung. Sie bevorzugen kulturelle Erklärungen – und selbst sie sind vom Verhalten ihrer eigenen Kinder überrascht. Natürlich sind das keine statistisch signifikanten Fallzahlen, aber trotzdem interessant.
Einer der kraftvollsten Texte zur Gleichstellung der Geschlechter stammt von John Stuart Mill – The Subjection of Women. Darin argumentiert er sehr eindringlich gegenüber seinen Zeitgenossen, dass sie jede Menge Annahmen darüber haben, wie Frauen seien und wozu sie fähig seien – dass diese Annahmen aber auf Beobachtungen beruhen, die in einer Gesellschaft gemacht wurden, in der Frauen durch Gesetze und soziale Normen systematisch davon abgehalten wurden, an bestimmten Tätigkeiten teilzunehmen. Wir wissen also gar nicht wirklich, was Frauen sind und wozu sie fähig sind – wir haben sie nur unter sehr engen Bedingungen erlebt.
Was mir bisher nicht so klar war – und was mir erst durch Ihre Argumentation auffällt –, ist, dass wir heute in Gesellschaften leben, die zwar nicht vollkommen gleich, aber deutlich egalitärer sind als früher. Frauen sind heute rechtlich und in vielen Fällen auch sozial deutlich stärker befähigt. Und das erlaubt uns, ein Stück weit besser zu beobachten, wie Frauen tatsächlich sind. Wenn sich also zeigt, dass bestimmte Geschlechterunterschiede heute in Schweden stärker ausgeprägt sind als in Ägypten – etwa in Bezug auf Berufswahl –, dann liefert uns das Erkenntnisse, die John Stuart Mill im 19. Jahrhundert noch gar nicht haben konnte.
Lehmann: Ja, und ich finde, man sollte diese Unterschiede begrüßen. Wenn man sich heute an modernen Universitäten umsieht, stellt man fest, dass in Medizin, Psychologie und allen Berufen, die mit Menschen zu tun haben, Frauen in der Überzahl sind. Und das ist nichts Schlechtes. Es ist überhaupt nichts Schlechtes daran, dass Frauen in fürsorgliche Berufe gehen möchten und sich vielleicht weniger für Informatik interessieren. Eines der Probleme, die ich mit dem Feminismus der zweiten Welle oder dem Mainstream-Feminismus habe, ist die Vorstellung, dass alles, was männlich ist, automatisch der Goldstandard sei.
Aus meiner Sicht ist es nicht schlimm, wenn sich Karrierepräferenzen oder Lebenswege von Frauen unterscheiden. Oder wenn sie beim beruflichen Aufstieg nicht ganz so wettbewerbsorientiert sind, wenn sie in Spitzenpositionen nicht mehr verdienen als Männer – das ist nicht notwendigerweise etwas Negatives. Wir sind in die Falle getappt zu glauben, dass der männliche Lebensweg der Maßstab aller Dinge sei – und jede Abweichung davon minderwertig. Ich halte das für vollkommen falsch. Man könnte das auch komplett umdrehen und sagen: Der weibliche Lebensweg, die weiblichen Präferenzen, sind der wahre Goldstandard – und mit den Männern stimmt etwas nicht. Ich glaube das natürlich nicht. Ich denke einfach, dass wir unterschiedlich sind und unterschiedliche Präferenzen haben – aus unterschiedlichen, evolutionär gewachsenen Gründen. Aber ich wehre mich entschieden gegen diese Vorstellung, dass Frauen, nur weil sie etwas anderes tun, entweder unterdrückt oder minderwertig seien.
Mounk: Wenn man die Frage nach dem „Unbeschriebenen Blatt“ über die Geschlechterunterschiede zwischen Männern und Frauen hinaus erweitert, fällt mir auf, wie wenig Menschen eigentlich die Bedeutung und Aussagekraft von Zwillingsstudien verinnerlicht haben. Es ist wirklich auffällig – in ganz unterschiedlichen Bereichen – wie stark der Verwandtschaftsgrad Ergebnisse vorhersagt. Man sieht zum Beispiel, dass Zwillinge, die getrennt voneinander aufgewachsen sind, sehr ähnliche Lebensverläufe haben, obwohl sie in völlig unterschiedlichen Haushalten groß wurden. Umgekehrt sieht man, dass Geschwister, die nicht genetisch verwandt sind – etwa Halbgeschwister oder adoptierte Kinder –, obwohl sie im selben Haushalt aufgewachsen sind, sehr unterschiedliche Lebensverläufe haben. Natürlich gilt hier wieder der Unterschied zwischen dem Durchschnitt und den Ausreißern. Aber im Schnitt haben getrennt aufgewachsene Zwillinge in den meisten relevanten Lebensbereichen deutlich ähnlichere Ergebnisse als genetisch nicht verwandte Geschwister, die zusammen aufgewachsen sind. Und das stellt für mich vieles grundsätzlich infrage, was ich mit 16 oder 18 für selbstverständlich gehalten hätte – inklusive sozialpolitischer Annahmen, die mir damals deutlich attraktiver erschienen.
Lehmann: Ja, ich bin immer wieder überrascht. Ich glaube eigentlich, dass ich den Einfluss der Genetik längst akzeptiert habe – und dann kommt wieder eine neue Studie, die mich trotzdem erstaunt. Ich habe vor ein paar Monaten eine gelesen – ich weiß leider nicht mehr, wer die Autorinnen und Autoren waren –, in der es um Kindheitserinnerungen ging. Wenn man zum Beispiel in ein AA-Meeting geht und dort Menschen befragt, die sich von ihrer Alkoholsucht erholen, geben rund 70 Prozent an, eine missbräuchliche Kindheit erlebt zu haben. Diese Studie war ziemlich neuartig – ich hoffe, ich gebe sie korrekt wieder –, aber wenn man diese Gruppe vergleicht mit einer Kontrollgruppe von anderen trockenen Alkoholikern oder sogar mit den Geschwistern der Alkoholiker, stellt man fest: Die Geschwister erinnern sich nicht an eine missbräuchliche Kindheit. Wenn man genetische Einflüsse mit einberechnet, scheint es so zu sein, dass bestimmte Menschen – möglicherweise durch eine genetische Disposition zu Neurotizismus oder etwas Ähnlichem – negative Erfahrungen stärker erinnern als andere, obwohl sie im selben Umfeld aufgewachsen sind. Und genau diese Veranlagung – ob es nun Neurotizismus ist oder etwas anderes – sagt sowohl die Neigung zu negativen Erinnerungen als auch zu Alkoholismus voraus. Immer wieder erscheint neue Forschung, die dieses sehr populäre kulturelle Narrativ widerlegt: nämlich, dass wir ausschließlich durch unsere Kindheitserfahrungen geformt werden – sei es durch Traumata oder unser soziales Umfeld. Ich denke, Gene spielen eine viel größere Rolle, als wir kulturell bereit sind zu akzeptieren.
Mounk: Das ist absolut faszinierend. Natürlich gibt es Haushalte, in denen alles wunderbar ist, mit Eltern, die immer alles richtig machen – aber wahrscheinlich gibt es davon sehr, sehr wenige. Und es gibt auch extrem missbräuchliche Haushalte – in denen wahrscheinlich jede Person, ganz gleich wie sie psychologisch veranlagt ist, die Misshandlung wahrnimmt und ihr Leben lang schwer darunter leidet. Aber statistisch gesehen gehören die meisten Haushalte wohl zu keiner dieser beiden Kategorien. Die Mehrheit der Eltern liebt ihre Kinder, sorgt sich um sie, macht aber auch viele Fehler – auf die eine oder andere Weise. Und wenn man sich das einmal klar macht, ist es eigentlich gar nicht so kontraintuitiv. Ich hätte es aber nicht vermutet, bevor Sie mir diese Studie erzählt haben: Dass es im Mittelfeld Menschen gibt, die sich auf das Positive konzentrieren und sagen: Mein Vater war toll. Ja, manchmal wurde er unangemessen wütend, ja, er hat Fehler gemacht – aber im Großen und Ganzen war er gut zu mir. Und andere, mit einer anderen psychologischen Veranlagung, erinnern sich vielleicht vor allem an diese Ausrutscher – und genau das wird dann zur prägenden Erinnerung ihrer Kindheit. Wir hatten kürzlich Emily Oster im Podcast, und eines der Themen war genau das: Eltern überschätzen konstant, wie stark sie ihre Kinder prägen, und wie sehr jede kleine Entscheidung alles verändert. Und was hier besonders spannend ist: Wenn genetische Unterschiede dazu führen, dass ein Kind sich besonders stark auf negative Erfahrungen konzentriert – dann wird es auch in einer durchschnittlich guten Kindheit etwas finden, woran es sich festhält. Es gibt einfach keine Möglichkeit, in 18 Jahren (oder in 30 oder 40 Jahren) nie in einen Konflikt mit dem eigenen Kind zu geraten. Andererseits: Wenn das Kind eine psychologische Veranlagung zur Resilienz hat, dann wird es auch dann klarkommen, wenn man als Elternteil ein paar Mal versagt oder den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird.
Ich würde gern ein bisschen das Thema wechseln, denn ich finde es bemerkenswert, dass Sie sich mit Quillette eine Leserschaft aufgebaut haben – basierend auf einer wissenschaftsorientierten, evidenzbasierten Auseinandersetzung mit einigen dieser unorthodoxen Themen, über die wir auch heute gesprochen haben. Daraus entstand bei vielen vermutlich die Erwartung, dass Sie während der Pandemie eher skeptisch gegenüber bestimmten COVID-Maßnahmen eingestellt sein würden. Es waren ja unsichere Zeiten. Gleichzeitig wollten Sie aber auch bewusst ein falsches Bild korrigieren – insbesondere das, das viele auf der amerikanischen Rechten von Australien hatten: als wäre es eine Art autoritärer Staat gewesen, in dem man wegen kleinster Regelverstöße direkt ins Gefängnis gekommen sei. Sie haben sich auch sehr deutlich zu den Gefahren geäußert, die von Donald Trump und von bestimmten Aspekten seiner Regierung ausgingen. Was glauben Sie, hat Sie zu einer konsequenten Verteidigerin jener philosophisch liberalen Werte gemacht, die – so denke ich – Sie und ich teilen? Warum sind Sie nicht dem Mechanismus der „audience capture“ verfallen, wie es bei einigen anderen Stimmen in diesem Bereich der Fall war – Sie stimmen mir da vermutlich zu?
Lehmann: Das ist eine ziemlich umfassende Frage. Wenn wir bei COVID anfangen: Während der Pandemie gab es zwei Dinge, die bei mir und meinem Publikum zu Irritationen geführt haben. Zum einen war Australien in einer besonderen Lage – wir waren zu Beginn relativ gut vor der Pandemie geschützt, weil Australien nun einmal eine Insel ist. Die Regierung hat es geschafft, COVID im ersten Jahr weitgehend aus dem Land fernzuhalten. Es gab also sehr strikte Quarantänebestimmungen für Einreisende. Diese Politik war tatsächlich recht populär. Die Australier waren froh, ihren Alltag leben zu können, ohne sich ständig Sorgen machen zu müssen – während Einreisende für etwa eine Woche in Hotelzimmern unter Quarantäne gestellt wurden. Natürlich war das langfristig nicht realistisch – das Virus würde irgendwann ins Land kommen, man konnte es nicht ewig draußen halten. Und ja, die australische Regierung hat einiges falsch gemacht. Aber wie wir alle wissen, ist eine Pandemie eine Ausnahmesituation. Die Gesundheitsbehörden müssen mit neuen Informationen umgehen und ihre Politik laufend anpassen. Dabei passieren Fehler.
Ich finde, die Gesundheitsbehörden haben – zumindest in meinem Bundesstaat New South Wales – einen ganz vernünftigen Job gemacht. In Victoria dagegen ist man meiner Meinung nach bei den Lockdowns deutlich zu weit gegangen, als das Virus in die Gemeinschaft gelangte. Das habe ich nicht unterstützt. Ich bin mit Teilen meines Publikums und mit bekannten rechten Influencern auf Twitter aneinandergeraten, weil sie COVID zu einem Kulturkampfthema gemacht haben. Sie beschrieben Australiens Quarantänemaßnahmen als totalitär. Es gibt abgelegene indigene Gemeinden im Northern Territory, die besonders anfällig für neue Viren sind. Die Gesundheitsbehörden haben einige dieser Gemeinschaften in Quarantäneeinrichtungen gebracht, um sie zu schützen. Figuren wie Maajid Nawaz und Tim Pool haben das dann so dargestellt, als wurden Menschen in Lager verschleppt. Nawaz behauptete, indigene Australier würden gegen ihren Willen geimpft – was schlicht falsch war. Tim Pool, der Millionen Follower auf Twitter hat, verglich die Quarantäneeinrichtungen im Northern Territory mit Konzentrationslagern.
Ich habe ihm auf Twitter widersprochen – woraufhin er mich als Nazi bezeichnete. Er hat das Thema weiter hochgekocht, YouTube-Videos gemacht, in denen es darum ging, dass ich angeblich Konzentrationslager verteidige. Und so wurde ich dann zu „Concentration Camp Claire“. Es ist dieses YouTube-zentrierte, rechtsgerichtete Influencer-Ökosystem. Ich war tatsächlich für eine gewisse Zeit eine regelrechte Hassfigur. Ich wurde monatelang auf Instagram getrollt, Leute nannten mich Nazi. Es war für mich bizarr – jahrelang warf man mir vor, ich sei eine Eugenikerin und Nazi, weil ich sagte, Genetik existiert und beeinflusst menschliches Verhalten. Und plötzlich war ich wegen COVID für Leute von rechts ein Nazi. Das war wirklich merkwürdig.
Dann kam es zum Bruch mit Teilen meines Publikums, die skeptisch gegenüber den mRNA-Impfstoffen waren – die ich für ein Wunder halte. Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ich habe genug wissenschaftliche Grundbildung, um die Ergebnisse einer randomisierten kontrollierten Studie zu lesen. Pfizer veröffentlichte ihre RCT mit einer enormen Stichprobengröße. Ich habe sie gelesen und gesehen, dass es keine unerwünschten Wirkungen in der Experimentalgruppe im Vergleich zur Placebogruppe gab. Also dachte ich: Diese Impfung ist nicht gefährlich. Sie ist kein Risiko. Und dann kamen Leute wie Bret Weinstein und redeten ununterbrochen über Ivermectin. Ich fragte: Wo ist die große RCT, die zeigt, dass Ivermectin wirkt und sicher ist? Ich fand keine. Es gab keine solche Studie. Für mich war das ein reines Evidenzproblem.
Die Evidenzlage zugunsten der Impfstoffe war stark – die für andere Interventionen wie Ivermectin dagegen sehr schwach. Aber überraschend viele Leute in meinem Publikum – aus der politischen Mitte und von rechts – konnten diese Einschätzung nicht akzeptieren. Es musste einfach sein, dass man skeptisch gegenüber mRNA-Impfstoffen war. Das Ganze wurde so stark politisiert. Wenn man nicht skeptisch war, galt man sofort als Teil des linken Establishments oder der „COVID-Elite“. Das war völlig verrückt. Ich verstehe bis heute nicht wirklich, was da passiert ist.
Mounk: Ja, ich habe damals einige der Angriffe auf Sie mitbekommen. Als Außenstehender sieht man vermutlich immer nur einen Bruchteil von dem, was die betroffene Person wirklich abbekommt – aber was ich gesehen habe, war schon übel. Es tut mir leid, dass Sie das durchmachen mussten. „Concentration Camp Claire“ hat fast einen gewissen Klang – das erinnert mich an einen meiner Lieblingsfilme, To Be or Not to Be, in dem ein Schauspieler ganz amüsiert darüber ist, dass man ihn „Concentration Camp Ehrhardt“ nennt. Sie stehen also in guter Lubitsch-Tradition, was schwarzen Humor angeht.
Ich habe auf Ihre Frage vorhin auch keine endgültige Antwort, aber ich glaube, es ist treffend, wenn man sagt, dass große Teile der Welt sich vom jeweils „aktuellen Ding“ vereinnahmen lassen – so wie das in einem Meme hieß, das vor ein paar Jahren recht populär war. Es gibt einfach einen sehr großen Teil der Bevölkerung, einschließlich vieler Eliten, der immer für das aktuelle Ding ist.
Einer meiner persönlichen Enttäuschungsmomente im Umgang mit Eliten – also Institutionen, die ich früher sehr geschätzt habe, für die ich hart gearbeitet habe, um dazuzugehören, etwa durch Studienplätze an Spitzenuniversitäten – war die Erkenntnis, dass ich dachte, dort würde man tiefgründige Menschen treffen, die selbstständig denken können. Und dann stellt man fest: Diese Institutionen folgen oft genauso stark dem „aktuellen Ding“ – auch wenn das mitunter in völlig irrationale Richtungen geht. Wenn man das erkennt und anspricht, beginnt ein bestimmter Weg. So war es bei mir, und vermutlich auch bei Ihnen. Man beginnt mit einer Meinungsverschiedenheit zu einem bestimmten Thema – und merkt, dass die Institutionen, die man eigentlich liebt und denen man vertraut hat, irgendwie vom Kurs abgekommen sind. Wenn man das dann öffentlich sagt, bekommt man plötzlich heftigen Gegenwind. Man wird angegriffen. Und irgendwann fängt man an, auch in anderen Bereichen genauer hinzuschauen – und stellt fest, dass es vielleicht auch dort eine gewisse Gedankenlosigkeit gibt.
Dann hat man plötzlich viele Unterstützer, deren erster Impuls immer darin besteht, die Gegenseite einzunehmen. Die – um im Meme-Sprech zu bleiben – einfach immer gegen das aktuelle Ding sind. Ganz gleich, was es ist: Sobald es einen breiten Konsens gibt, stellen sie sich automatisch dagegen. Aber das sind natürlich keine echten Verbündeten.
Ich denke – oder hoffe zumindest –, dass meine eigentlichen Verbündeten die Menschen sind, die sich um Evidenz bemühen. Die kein verschwörungstheoretisches Denken haben, aber sich zugleich die mühsam errungene Erkenntnis bewahrt haben, dass man Institutionen nicht blind vertrauen darf. Die Gesundheitsbehörden haben während COVID manches wirklich schlecht gemacht – aber auch vieles richtig. Man muss ein aktiv denkender Bürger sein, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Und ich glaube, genau das ist der Mechanismus, den wir da gesehen haben. Wenn man kritisch über das aktuelle Ding spricht, zieht man ein Publikum an, das teils wirklich selbständig denkt – und teils aus Leuten besteht, deren Reflex es ist, immer dagegen zu sein. Und ein Moment, in dem sich das Publikum spaltet oder man erkennt, wer wohin gehört, ist dann, wenn sich die Machtverhältnisse ändern. Plötzlich sagen die ewigen Gegenmenschen: Alles, was Donald Trump sagt, ist richtig. Und wie kannst du es wagen, ihn zu kritisieren?
Aber wenn man nicht einfach auf die Gegenseite springt, sondern wirklich unabhängig bleibt, sagt man: Nein, ich mache da nicht mehr mit. Ich will nicht Teil dieser Orthodoxie sein – und, wenn ich ehrlich bin, in mancher Hinsicht noch weniger Teil der vorherigen Orthodoxie. Vielleicht erklärt genau das Ihre jüngsten kritischen Äußerungen über Trump ein Stück weit. Wir müssen da gar nicht ins Detail gehen, aber vielleicht erzählen Sie uns ein bisschen, wie Sie das beobachten – aus Australien heraus. Sie haben ja diese interessante Insider-Außensicht auf den öffentlichen Diskurs. Sie haben eine große Stimme in den USA, Quillette ist heute im Kern ein amerikanisches Magazin, auch wenn viele Ihrer Mitarbeitenden in Australien sitzen, einige in Kanada, vielleicht auch in Großbritannien. Aber ich wette, die Mehrheit Ihrer Leser kommt aus den Vereinigten Staaten, und Sie veröffentlichen viel über die USA. Trotzdem leben Sie in Australien und sind keine Amerikanerin. Wie sehen Sie also unseren gemeinsamen Bekannten Donald Trump – und den aktuellen Zustand der amerikanischen Republik – aus dieser Insider-Außensicht?
Lehmann: Nun, ich beantworte das einfach mal aus der Perspektive unabhängiger Medien und auf Basis dessen, was ich in den letzten Jahren beobachtet habe. Ich wurde in einem Artikel in der New York Times erwähnt – ich glaube, das war 2019 – als Teil der sogenannten „Intellectual Dark Web“, ein etwas alberner Begriff, den Eric Weinstein geprägt hat. Dass ich dieser Gruppe zugeordnet wurde, hat mir während der COVID-Zeit ein Stück weit Ärger eingebracht, denn diese Gemeinschaft unabhängiger Medienschaffender – Leute wie Jordan Peterson, Eric Weinstein (nicht so sehr Sam Harris, der war der Außenseiter) –, also die Leute, die in diesem Artikel genannt wurden und dann alle im Joe Rogan Podcast auftauchten – aus diesem Kreis entstand eine ganze Kultur des Widerspruchs, so wie Sie das beschreiben, und diese entwickelte sich zu einer eigenen Subkultur mit einem riesigen Massenpublikum. Man kann sie nicht konservativ nennen, auch nicht liberal, aber vielleicht vage verschwörungsgläubig und auf jeden Fall reflexhaft widersprüchlich. Alles, was in der New York Times, der Washington Post oder auf CNN erschien, wurde sofort als verdächtig betrachtet, und das ganze Medienökosystem reagierte reflexhaft dagegen. Ich fand das epistemologisch genauso träge wie Menschen in der Wissenschaft, die empirische Erkenntnisse aus Psychologie oder Neurowissenschaft ablehnen. Es schien mir einfach keine ernsthafte Auseinandersetzung im Einzelfall zu sein – also genau das, was Sie sagen: sich Belege anzuschauen. Wir haben uns also von diesem Medienökosystem abgewendet, und das war mitunter schmerzhaft.
Was mich heute überrascht, ist, dass einige Leute, die in diesem Medienmilieu riesige Anhängerschaften aufgebaut haben, als mutige Wahrheitsverkünder und Anti-Establishment-Figuren, nun plötzlich einige der Maßnahmen und Handlungen von Donald Trump unterstützen, was ich einfach nur heuchlerisch und bizarr finde. Der einzige Weg, wie ich mir das erklären kann, ist, dass zwei Dinge zusammenkommen: psychologische und wirtschaftliche Gründe. Wenn man sich ein großes Publikum aufgebaut hat, das ideologisch in eine bestimmte Richtung tendiert, aber auch sehr engagiert und leidenschaftlich ist, dann ist es schwer, sich dagegen zu stellen. Es kann ziemlich unangenehm werden. Man muss mit dem eigenen Publikum streiten, bekommt wütende E-Mails, die Kommentarspalten füllen sich mit empörten Stimmen. Es kann wirklich schwierig sein. Wenn man Unternehmer ist und ein Medienunternehmen führt, ist es geschäftlich gesehen eine schlechte Idee, den eigenen Kunden zu sagen, dass sie falsch liegen. Das ist das Gegenteil dessen, was ein guter Geschäftsmensch tut.
Ich habe immer gedacht, dass es einen Konflikt gibt zwischen gutem Journalismus und gutem Unternehmertum. Man muss sich entscheiden, was man sein will. Und ich denke, viele Leute haben sich in der aktuellen politischen Lage dafür entschieden, gute Geschäftsleute zu sein – und eben keine guten Journalisten. Das erklärt ein Stück weit die Zurückhaltung, die Exzesse der aktuellen Regierung zu kritisieren, die noch einmal eine andere Größenordnung haben als die der ersten Trump-Regierung.
Mounk: Ja, das finde ich interessant. Es gab lange diesen Vorwurf gegenüber Leuten, die in irgendeiner Weise unorthodox unterwegs waren: Sie seien nur auf Geld aus, wollten irgendwie Karriere machen oder persönliche Träume verwirklichen. Ich finde, das unterschätzt sowohl die psychologischen als auch die finanziellen Kosten. Die wirklich Erfolgreichen – wie Joe Rogan – haben sicher gut verdient. Aber für fast alle anderen ist der Anreiz deutlich größer, im Mainstream zu bleiben und einfach das zu sagen, was alle Freunde auch sagen, als sich so weit aus dem Fenster zu lehnen. Das gilt finanziell und erst recht psychologisch. Wenn man sich einmal auf eigene Faust auf den Weg gemacht hat und das einigermaßen funktioniert, wenn man sich ein neues soziales Umfeld aufgebaut hat und eine gewisse Reichweite erlangt hat, dann ist es doppelt beängstigend, sich davon wieder zu distanzieren – finanziell und emotional. Ich frage mich, ob das bei manchen eine Rolle gespielt hat.
Zum Schluss möchte ich Sie etwas fragen zu einem Begriff, über den ich in den letzten Monaten viel nachgedacht habe. James Lindsay – selbst auf einem interessanten Weg, viele Jahre lang ein scharfer Kritiker der woken Linken – ist eine Zeitlang, wie ich fand, etwas schrill geworden, aber hat in den letzten zwölf Monaten auch sehr deutlich die „woke Rechte“ kritisiert. Er hat diesen Begriff „woke right“ geprägt. Was er damit meint: Es gibt heute auf der Rechten eine Entsprechung zu vielen der Phänomene, die er auf der woken Linken bekämpft hat. Ich bin hin- und hergerissen, was den Begriff angeht. Einerseits benennt er zu Recht strukturelle Parallelen – über die wir heute viel gesprochen haben. Während COVID etwa: Wenn man gesagt hat, dass Impfstoffe Leben retten und wichtig sind, konnte man auch in diesen Kreisen angefeindet und ausgegrenzt werden, ganz ähnlich wie zuvor im linken Milieu. Es gibt also Tabus und Sanktionen auf beiden Seiten. Das spricht für einen Begriff wie „woke right“.
Andererseits habe ich Bedenken. Ich glaube, die menschliche Tendenz, sehr strenge Normen mit irrationalen, oft grausamen Mitteln durchzusetzen, ist viel älter und umfassender. Von den Hexenprozessen in Salem bis zur Kulturrevolution in China. „Wokeness“ ist für mich eine spezifische Ideologie – mit klarer intellektueller Herkunft, bestimmten Ideen und konkreten politischen Zielen. Und das unterscheidet sie von ähnlichen Mechanismen auf der Rechten. Ich fürchte, der Begriff „woke right“ lässt uns das aus dem Blick verlieren, was an der identitätspolitischen Weltanschauung der Woken intellektuell und ideologisch einzigartig ist. Wie sehen Sie das?
Lehmann: Ich finde, das ist eine sehr interessante Frage. Ich selbst verwende den Begriff nicht, weil ich Wokeness als eine hyperprogressive Ideologie verstehe, mit spezifischen Ansichten zu Geschlecht und Rasse. Wenn man diesen Begriff dann auf die Rechte überträgt – die diese Ansichten nicht teilt –, wird es, denke ich, eher verwirrend. Es ist kein Begriff, den ich benutze. Ich glaube, er stiftet mehr Verwirrung als Klarheit. Aber ich verstehe, warum er verwendet wird. Viele der Verhaltensweisen, die wir jetzt von rechts sehen – besonders in sozialen Medien –, sind identisch mit dem, was wir vor ein paar Jahren von links gesehen haben: Mobbing, das Kollektivverhalten gegen Abweichler, das Angreifen von Leuten, die ideologisch nur minimal abweichen, das Aufspüren von Häretikern und deren öffentliche Bestrafung.
Man sieht jetzt auch auf der Rechten diese Opfer-Inszenierungen. Menschen mit einer Art von Groll über die Diskriminierung weißer Männer in Amerika. Jetzt geht es um den Verlust von Industriearbeitsplätzen, um die zerstörte weiße männliche Arbeiterklasse. Diese Narrative sind nicht wirklich durch Daten gestützt, aber rundherum entsteht so ein Opferdiskurs. Und ich denke, dieses Signalisieren von Benachteiligung gewinnt an Bedeutung, weil man gesehen hat, dass es bei der Linken funktioniert hat.
Aber ich denke, es ist wichtig, sich klarzumachen: Dieses Verhalten – dieses mobartige Verhalten – ist die Norm. Es ist Teil der menschlichen Natur. Wir haben das schon immer getan. Es ist nichts Neues. Heute wird es durch soziale Medien nur sichtbarer und beschleunigt. Vor den sozialen Medien haben wir es analog gemacht: Wir sind zu öffentlichen Hinrichtungen gegangen, haben Leute mit fauligem Obst beworfen, die im Pranger standen. Das liegt in unserer Natur als Spezies – diese gruppenbezogene Grausamkeit. Und deshalb denke ich, man darf nicht glauben, dass dieses Verhalten aus einer bestimmten Ideologie stammt. Das Verhalten selbst ist tiefer verankert. Die Ideologie gibt ihm vielleicht eine bestimmte Form oder Gelegenheit, aber es wird immer da sein. Wir müssen wachsam bleiben.
Falls Sie meinen Podcast „The Good Fight” (auf Englisch) noch nicht abonniert haben, tun Sie das jetzt!
Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.
Besten Dank für dieses Gespräch. Es zeigt im besten Sinne, was es bedeutet konservativ zu denken: Die Triebkräfte der menschlichen Natur anzuerkennen und ihnen mit Vernunft zu begegnen. Die Linken leugnen diese Triebkräfte (Wokismus) und die Rechten lassen sie einfach ungebremst wirken (Trump et.al.).