David Brooks über … Yascha Mounk
David Brooks im Gespräch mit Yascha Mounk über die Taschenbuchausgabe von The Identity Trap
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Yascha Mounk ist Gründer und Chefredakteur von Persuasion. Sein aktuelles Buch The Identity Trap erscheint am 23. September als Taschenbuch mit einem neuen Nachwort.
David Brooks ist Kolumnist bei der New York Times und schreibt außerdem für The Atlantic. Er kommentiert regelmäßig im PBS Newshour. Sein jüngstes Buch trägt den Titel How To Know A Person: The Art of Seeing Others Deeply and Being Deeply Seen.
In diesem Gespräch sprechen Yascha Mounk und David Brooks darüber, wie Yaschas persönliche Geschichte sein Denken prägt, welche ideengeschichtlichen Wurzeln hinter der Identitätssynthese stehen – und wie die Demokraten eine Vision entwickeln können, die Wähler begeistert.
Das Transkript wurde gekürzt und zur besseren Verständlichkeit leicht bearbeitet.
Mounk: Ich weiß, das ist sehr ungewöhnlich. Eigentlich solltest du sagen: „Yascha Mounk, willkommen zu meinem Podcast“, denn du hast freundlicherweise zugestimmt, mich heute zu der Taschenbuchausgabe meines letzten Buches zu interviewen. Vielen Dank dafür.
Brooks: Es ist mir ein Vergnügen, den Spieß mal umzudrehen. Ich werde den „Fight“ in The Good Fight bringen und versuchen, in der nächsten Stunde so viele Auseinandersetzungen wie möglich mit dir zu führen. Aber es freut mich, den zweiten Jahrestag von The Identity Trap zu feiern – ein Buch, das ich wirklich genossen habe. Bevor wir dazu kommen, möchte ich dich aber ein wenig nach deiner intellektuellen Prägung fragen. Denn wenn ich dein Programm höre – was ich ständig tue – erfahre ich immer viel über die geistige Entwicklung von Cass Sunstein oder Jonathan Haidt oder von diesem Nobelpreisträger in Wirtschaft, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Aber über deine habe ich noch nichts gehört. Deshalb würde ich dich gern fragen – du kommst ja offensichtlich aus Deutschland, aber ich habe dich auch über Polen sprechen hören, und ich weiß, dass deine Familie ein Haus in Italien hat –, wie deine persönliche Geschichte mit deinen intellektuellen Interessen zusammenhängt.
Mounk: Ich habe eine ganz konkrete Erinnerung daran, wie ich den Fall der Berliner Mauer im Fernsehen sah. Ich war damals sieben Jahre alt. Das Merkwürdige ist nur: Ich bin als Kind sehr oft umgezogen, weil meine Mutter Musikerin ist – Dirigentin – und wir immer dann die Stadt wechselten, wenn sie ein neues Orchester übernahm. Und die Wohnung, in der ich mich erinnere, den Mauerfall gesehen zu haben, bezogen wir erst, als ich etwa neun war. Ich muss also nicht das Ereignis selbst, sondern wohl eine Dokumentation gesehen haben, die mir damals zum ersten Mal die Berliner Mauer in Begriffen erklärte, die ich als Kind verstehen konnte. Ich war schlicht zu jung, um wirklich zu begreifen, was das bedeutete.
Aber natürlich komme ich aus einer Familie mit einer langen und komplizierten Geschichte mit dem Kommunismus. Meine Großeltern, die in Schtetln um Lwiw in der Ukraine geboren wurden und den größten Teil ihres Erwachsenenlebens in Polen verbrachten, bevor sie 1968 aus dem Land vertrieben wurden, waren als Jugendliche Kommunisten geworden. Sie setzten ihre Hoffnungen und Ambitionen darauf, durch den Kommunismus eine bessere Welt aufzubauen. Und sie lebten lange genug – leider, und zum Glück zugleich –, um erkennen zu müssen, dass sich diese Hoffnung als völlig verfehlt herausgestellt hatte.
Als jemand, der in Deutschland aufwuchs, verstand ich, dass der Mauerfall etwas Aufregendes war, dass das Land nun wiedervereinigt war und dass ein böses politisches System zusammenbrach. Aber zugleich bekam ich durch meine Familie wohl auch ein Gefühl der Traurigkeit mit, dass dieses Projekt, das einst Befreiung versprochen hatte, sich in der Realität als so unterdrückerisch erwiesen hatte.
Das Merkwürdige ist: Wie viele jüdische Nachkriegskinder in Deutschland bin ich Jude und Deutscher – schlicht, weil ich dort geboren und aufgewachsen bin. Aber meine Familie ist nicht deutsch, sondern osteuropäisch. Als der Krieg begann, lebte der größte Teil meiner Familie in Polen oder noch weiter östlich. Der Grund, warum zum Beispiel mein Großvater mütterlicherseits überlebte, während die meisten seiner Geschwister starben, war, dass er als Kommunist nach Kriegsbeginn nach Osten ging und den Krieg in der Sowjetunion überstand. Die meisten Verwandten, die in ihrer Heimat blieben, wurden während des Krieges ermordet.
Ich erinnere mich, dass ich schon als Kind an Politik interessiert war. Mit 13 wollte ich in die SPD eintreten, wurde aber belehrt, dass man mindestens 14 sein müsse. Man sagte mir auch, man könne das Geburtsjahr leicht „anpassen“ – also machte ich mich ein Jahr älter, um aufgenommen zu werden. So war ich wahrscheinlich das jüngste Parteimitglied überhaupt, weil ich eigentlich jünger war, als erlaubt. Ich verstand früh, was viele Menschen weltweit begreifen – aber vielleicht weniger Amerikaner –, dass Geschichte das persönliche Leben tief prägt. Sie bestimmte das Leben meiner Urgroßeltern und Großeltern im Zweiten Weltkrieg, aber auch das meiner Eltern, die als junge Studenten in Warschau lebten, als 1968 eine große antisemitische Welle durch Polen ging und die meisten der verbliebenen Juden aus dem Land vertrieben wurden.
Eigentlich wollte ich aber Theater machen. Ich besuchte viele Aufführungen, spielte als Jugendlicher selbst Amateurtheater, inszenierte Stücke, als ich in Cambridge studierte, und arbeitete anschließend in Deutschland als Regieassistent. Doch ich mochte dieses Milieu aus vielerlei Gründen nicht und floh sozusagen zurück an die Universität – das war der Anfang meines Weges in die Wissenschaft und später in den Journalismus.
Brooks: Ich wollte immer Theater machen. Als Kind wollte ich Dramatiker werden – Clifford Odets, der linke Bühnenautor, war mein Vorbild. Aber ich war emotional nicht offen genug dafür. Also, nun bist du US-Bürger – was hat dich dazu bewegt, über den Atlantik zu gehen? Fühltest du dich hier wohler, dachtest du, hier sei das Feld größer, oder war es eher Zufall?
Mounk: Ich landete in England, um meinen Bachelor zu machen – teils aus Neugier, teils aus Flucht. Ich habe mich in Deutschland nie ganz zu Hause gefühlt. Außerdem gab es dort keine wirklich selektiven Universitäten. Zufällig ging ich in den letzten beiden Schuljahren auf eine englischsprachige Schule. Ich wollte ein Abenteuer, ein anderes Land entdecken, woanders leben. Die USA schienen mir damals unerreichbar weit weg und unerschwinglich. In England hingegen kosteten die Studiengebühren nur tausend Pfund im Jahr – für meine Familie machbar. So kam ich nach Cambridge und studierte dort Geschichte.
Ich habe einige Verwandte in New York und war mit 15 zum ersten Mal dort – und bin danach fast jedes Jahr wieder hingefahren. Von dem Moment an, als ich in New York ankam, habe ich mich in die Stadt verliebt und wusste, dass ich hierherkommen wollte. Ironischerweise kam ich dann über ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes – also im Grunde ein Regierungsstipendium – für ein Jahr als „student-at-large“, einer Art Gaststudent, nach Columbia.
Ich bewarb mich anschließend für die Promotion an der Columbia University und wollte eigentlich bleiben. Aber das Programm für politische Theorie, für das ich mich beworben hatte, befand sich damals in einem schlechten Zustand. Einer meiner sehr wohlmeinenden Betreuer sagte mir: „Schau, du bist in Harvard angenommen worden, geh nach Harvard. Unser Programm ist gerade nicht in guter Verfassung.“ Also verbrachte ich die Promotionsjahre in Cambridge, Massachusetts, oder irgendwo sonst im Bundesstaat – aber nahm mindestens alle zwei Wochen den Chinatown-Bus nach New York, wenn nicht noch öfter. Heute lehre ich an der Johns Hopkins University, unterrichte teils Bachelor Studenten in Baltimore, teils Master- und Doktoranden in Washington, D.C. – aber ich lebe größtenteils in New York, weil das die Stadt ist, die ich am meisten liebe.
Brooks: Respekt – ich bin selbst New Yorker und würde dort leben, wenn meine Frau es zuließe. Aber diesen Kampf habe ich verloren. Als du in Harvard warst: Gab es da einen intellektuellen Mentor, den wir kennen könnten, der deine Sichtweisen geprägt hat?
Mounk: Mein Doktorvater war Michael Sandel, ein sehr bekannter politischer Philosoph. Er hielt lange Zeit die größte Vorlesung in Harvard, „Gerechtigkeit“, die ziemlich berühmt war. Michael ist Kommunitarist, aber er investierte nicht immer so viel in Gemeinschaft. Ich sah ihn weniger als die anderen Mitglieder meines Komitees – manchmal rief er mich für 15 oder 20 Minuten zu einem Gespräch, das war’s dann für ein ganzes Semester. Aber er war ein guter Betreuer. Manche Professoren bombardieren ihre Doktoranden mit Leselisten von 50 Büchern für jede Fußnote. Michael las, was ich ihm schickte, und sagte: „Schau, du versuchst, ein Buch zu schreiben, nicht eine Dissertation. Diese Frage musst du beantworten. Hier verlierst du dich in eine interessante Richtung, die für das Gesamtprojekt aber nicht hilfreich ist.“ Nach 15 Minuten mit ihm hatte ich einen klaren Weg vor Augen – und so konnte ich meine Dissertation so schreiben, dass sie sich relativ leicht in ein Buch verwandeln ließ.
Ich weiß nicht, wie stark er mich inhaltlich beeinflusst hat. Wir sind nicht in allem einer Meinung. Er ist Kommunitarist und gibt zumindest vor, kein Liberaler zu sein. Ich bezeichne mich dagegen mit Stolz als philosophischen Liberalen. Aber er hat mir geholfen, meine Dissertation so zu schreiben, wie ich es ohne ihn nicht geschafft hätte. Und er hat mir einiges über Didaktik beigebracht – wie man etwa eine große Vorlesung so hält, dass sie zugleich unterhaltsam ist und die Studenten ins Gespräch bringt, miteinander diskutieren lässt.
Viele Betreuer denken, die Zielgruppe einer Dissertation seien die vier Komiteemitglieder und vielleicht drei weitere Experten. Michael dagegen sagte von Anfang an: „Schreib etwas, das interessant ist. Versuch, tausend, fünftausend oder zehntausend Menschen zu erreichen – nicht fünf.“ Er ermutigte mich, das Projekt wie ein Buch zu denken, nicht wie eine Ansammlung unanfechtbarer Fußnoten. Das ist eine Fähigkeit, die ein guter Lektor haben muss – und die man sich als Doktorand bei der Wahl des Betreuers wünschen sollte. Gefährlich sind diejenigen, die endlos über Ideen reden, aber keinen Sinn für die Struktur eines Projekts haben, das am Ende kohärent ist und auch Leser findet.
Brooks: Wenn ich mit Akademikern über Schreiben für ein breiteres Publikum spreche, lautet mein erster Rat: Versucht nicht, alle möglichen Einwände vorwegzunehmen. Akademiker wollen immer ein wasserdichtes Argument bauen. Stattdessen sollte man den Punkt einfach klar in den Raum stellen und die Einwände auf sich zukommen lassen. Das ist dramatischer, klarer – man will die Leser ja nicht bevormunden, sondern sie zum Denken anregen.
Mounk: Ja, genau. Akademiker haben im Kopf immer diesen einen Typen, der sie im Studium am meisten gehasst hat und jetzt Professor an einer anderen Uni ist. Was würde er wohl dazu sagen? Wenn das dein inneres Publikum ist, wirst du niemals spannend und klar kommunizieren können.
Brooks: Kommen wir zu deinem Buch The Identity Trap, das im September 2023 erschienen ist. Mich hat das überrascht, denn wir leben seit 2013, 2014 mit diesem ideologischen System, das du „Identitätssynthese“ nennst – früher sprachen wir von „Identitätspolitik“. Es war allgegenwärtig, aber hatte keine richtige Ideengeschichte, bis du sie zehn Jahre später aufgeschrieben hast.
Mounk: Das Erstaunliche ist, dass ich ursprünglich gar nicht so viel über die Ideengeschichte dieser Bewegung schreiben wollte. Mich interessierte vor allem, mich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, die in jenem Moment der amerikanischen Geschichte dominant, fast hegemonial waren. Aber mein Lektor drängte mich völlig zu Recht, auch die Geschichte dieser Ideen zu erzählen. Er wusste, dass Leser das spannend finden würden – und dass es die beste Möglichkeit wäre, diese Ideen fair und gründlich zu kritisieren. Also dachte ich: Gut, ich bin teilweise in Ideengeschichte ausgebildet. Ich habe in Cambridge politische Theoriegeschichte studiert, an Harvard war es ebenfalls Teil meiner Promotion. Also lese ich die besten ideengeschichtlichen Darstellungen dieser Strömung, fasse sie in einem Kapitel zusammen – und gehe dann zum Kern meiner Arbeit über, der philosophischen Kritik.
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Als ich mich eingearbeitet habe, fiel mir auf, dass es schlicht keine ernsthafte Ideengeschichte dieser Strömung gab. Obwohl sie an vielen Universitäten längst dominierte, hatte niemand sie als eigenständige Tradition begriffen, die es wert wäre, sich mit ihr auseinanderzusetzen – oder man scheute davor zurück. Ich wandte mich sogar an einen renommierten Ideenhistoriker, von dem ich annahm, dass er bestens Bescheid wüsste. Er sagte mir offen: „Wenn du diese Geschichte erzählen willst, um die Ideen womöglich kritisch zu betrachten – ich mag dich und respektiere dich, aber da will ich nicht mitmachen.“ Das fand ich sehr aufschlussreich. Also habe ich mich selbst durch Berge von Literatur gearbeitet und die Ideengeschichte zusammengesetzt.
Brooks: Lag das daran, dass dieser Historiker den Ideen der „Identitätssynthese“ zustimmte – oder war er nur zu eingeschüchtert, sie anzugehen?
Mounk: Wahrscheinlich eine Mischung. Ich glaube nicht, dass er ihnen völlig zustimmt, aber er hatte so etwas wie ein instinktives politisches Hygienebewusstsein: Wer zu stark auf diese Ideen eindrischt, riskiert schlechtes Karma. Und sicher spielte auch die Sorge eine Rolle – ich habe das im Vorwort des Buches und auch im neuen Nachwort zur Taschenbuchausgabe thematisiert –, dass Kritik an diesen Ideen den Rechten in die Hände spiele. Nach dem Motto: Hier stehen sich linke Identitätspolitik und rechter Populismus gegenüber, und selbst wenn man privat gewisse Zweifel hat, sollte man die besser für sich behalten. Denn öffentlich geäußert, öffnet man Trump und Co. nur das Tor.
Im Identity Trap argumentiere ich – und das wiederhole ich im neuen Nachwort –, dass genau das der falsche Ansatz ist. Seit den frühen 2010er-Jahren sieht man doch: So feindlich sich beide Strömungen politisch geben, in der Praxis stabilisieren sie sich gegenseitig. Je stärker die linke Identitätspolitik wird, desto mehr Auftrieb erhält der rechte Populismus – und je stärker der rechte Populismus, desto schwerer wird es, die identitätspolitische Linke zu kritisieren. Wie ich im Vorwort schrieb: Sie sind Yin und Yang, sie bedingen sich gegenseitig.
Die Lektüre war spannend, weil die frühen Denker viel subtiler und klüger waren als das Bündel an Parolen, zu dem die Ideologie später verkam. Michel Foucault etwa beschäftigte sich intensiv mit dominanten Narrativen im Westen, die er als unterdrückend empfand. Er warnte davor, an universelle Wahrheiten zu glauben oder Dinge objektiv zu klassifizieren – das sei immer irreführend. So war er sehr skeptisch gegenüber psychiatrischen Diagnosen und generell gegenüber normativen Urteilen. Für ihn steckte hinter all dem letztlich Macht – in Form von Diskursen.
Wenn man klassisch über Macht nachdenkt, würde ein kluger Oberstufenschüler sagen: Es gibt Kongress und Präsident, die beschließen Gesetze, und die werden mit Armee und Polizei durchgesetzt. Macht funktioniert also von oben nach unten. Foucault widersprach: Macht konstituiere sich ständig neu durch Diskurse – durch die Sprache, die wir verwenden, durch die Begriffe, mit denen wir einander ansprechen. Darin zeige sich die eigentliche Macht. Die Implikation war, dass nahezu jedes System am Ende ähnlich unterdrückend ist. Das Beste, worauf man hoffen kann, sind kurze Momente des Aufbegehrens, in denen Diskurse aufgebrochen werden – bis der nächste entsteht, der ähnlich unterdrückend ist. Deshalb war Noam Chomsky, als ich ihn vor ein paar Jahren im Podcast hatte, noch immer verblüfft, wie apolitisch und amoralisch Foucault ihm schon in ihrem berühmten Streitgespräch vorgekommen war.
Brooks: Bleiben wir bei Foucault. Kimberlé Crenshaw, eine der Begründerinnen der „Critical Race Theory“, hat es zugespitzt: Worte sind Taten. Wäre das, wenn man durch die liberale Tradition zurückgeht – zu John Stuart Mill und anderen –, eine bizarre Behauptung gewesen oder hätte man das akzeptiert?
Mounk: Liberale wären da sicher skeptisch gewesen. John Stuart Mill etwa meinte, der Staat dürfe Handlungen nur dann einschränken, wenn sie anderen schaden – das berühmte Schadensprinzip. Bloße Worte, die jemanden beleidigen oder verletzen, fielen für ihn nicht darunter. Die Idee, dass Worte Handlungen sind, tauchte zuerst in der Sprachphilosophie der 1950er- und 1960er-Jahre auf. Etwa in dem Sinn, dass ein Priester mit den Worten „Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau“ tatsächlich eine neue rechtliche Realität schafft.
Foucault – und dann vor allem Edward Said – gingen weiter. Für sie waren Worte die eigentliche Quelle sozialer Macht, nicht nur in Sondermomenten wie bei einem Priester. Said etwa argumentierte, dass der Westen den Osten kolonisieren konnte, weil er zuvor Bilder vom „orientalischen Geist“ in Umlauf brachte. Westliche Repräsentationen des „arabischen Geistes“ bildeten das Rückgrat für Unterdrückung. Daraus ergab sich die Vorstellung, dass der eigentliche politische Kampf nicht nur um Gesetze, sondern um Worte, Filme, Texte, kulturelle Repräsentationen geführt werde. Das erklärt auch, warum die Identitätssynthese in der Politik so stark Fuß fassen konnte: Wer Feministin ist, kämpft nicht nur für gesetzliche Rechte, sondern bloggt auch darüber, wie sexistisch eine Netflix-Serie ist – und sieht darin schon politische Aktion.
Brooks: Wie weit gehst du bei der These mit, dass Worte Taten sind? Einerseits könnte man sagen: Wenn Worte Handlungen sind, lassen sie sich leicht regulieren. Andererseits – wenn Hillary Clinton „basket of deplorables“ (Korb der Erbärmlichen) sagt, fühlen sich viele entmachtet. Wie präzise ist diese Behauptung?
Mounk: Das ist eine gute Frage. Natürlich gibt es Kontexte, in denen das zutrifft. Eine der seltsamen Paradoxien des Poststrukturalismus ist ja: Er sagt, wir hielten Institutionen für objektiv und ihre Standards für wissenschaftlich legitimiert, aber in Wahrheit ginge es immer um Macht. Und der politische Erfolg dieser Strömungen bestätigt das gewissermaßen selbst. Heute vertraue ich einem Pulitzer oder einem Oscar weniger als noch vor 20, 30 Jahren, weil klar ist, wie politisiert diese Institutionen geworden sind. In manchen Wissenschaften sieht man, welchen Einfluss ideologische Gruppen haben können – schwer, das zu leugnen.
Aber: Man muss unterscheiden zwischen einer deskriptiven und einer normativen Ebene. Deskriptiv stimmt es, dass Macht, Ideologie und Eigeninteresse tief in menschliches Verhalten eingreifen. Institutionen wie Peer Review können das nur teilweise abfedern. Normativ aber brauchen wir klare Grenzen: Wer anderen körperlich schadet, muss bestraft werden. Wer Bomben legt, Leute verprügelt oder einschüchtert, gefährdet die Gesellschaft. Aber wir sollten Menschen erlauben, sich zu äußern – sonst verlieren wir die Fähigkeit zur kollektiven Selbstkorrektur. Worte können Handlungen sein, ja. Aber wir müssen auf der Unterscheidung bestehen, die schon im Kinderspruch steckt: „Stöcke und Steine können mir die Knochen brechen, aber Worte tun mir nichts.“
Brooks: So habe ich das nie empfunden, wenn mich in der Schule ein Mädchen abserviert hat. Da haben Worte ganz schön wehgetan.
Wie sehr hängt dieser Fokus auf Sprache einfach damit zusammen, dass Progressivismus sich von einer proletarisch geprägten Bewegung zu einer akademisch geprägten verschoben hat? Ein Gewerkschafter in einer Autofabrik sieht Worte kaum als Taten – in der Uni aber sind Worte alles, was man hat.
Mounk: Genau das ist eine der großen Verschiebungen unserer Zeit. Man sieht es auch am Wahlergebnis von 2024. The Economist zeigte in einer Grafik, dass Kamala Harris’ Wählerkoalition sozioökonomisch fast identisch mit der von Bob Dole 1996 war. Thomas Piketty spricht von der „Brahmanisierung“ der Linken: Heute ist ein guter Prädiktor für linke Politik, ob man studiert hat.
Das erklärt, warum Sprache im akademischen Milieu so wichtig wurde. Einerseits ist das wirkmächtig – man denke nur an den Sommer 2020. Andererseits führt es Aktivisten dazu, sich auf Nebenschauplätze zu verbeißen, die kaum echten Wandel bringen. Wer all seine Energie darauf verwendet, dass man nicht „Obdachlose“ sagt, sondern „Menschen mit Obdachlosigkeitserfahrung“, schreckt Mitstreiter ab – und hat den Betroffenen damit noch nicht geholfen.
Bei meiner Recherche zur Ideengeschichte hatte ich eine Art Aha-Moment: Mir war klar, dass diese Ansätze dem philosophischen Liberalismus widersprechen und nicht die Fortsetzung der Bürgerrechtsbewegung sind, sondern im Konflikt mit deren Grundprinzipien stehen. Aber bei der Lektüre von Derrick Bell oder Kimberlé Crenshaw wurde deutlich: Das war von Anfang an so gemeint. Bell, Bürgerrechtsanwalt in den 1960ern, zweifelte bald am Integrationskurs. In seinem ersten großen Aufsatz schrieb er, Brown v. Board of Education sei vielleicht ein Fehler gewesen – vielleicht wäre es besser, schwarze Schulen separat, aber wirklich gleichwertig auszustatten. „We shall overcome“ (Wir werden eines Tages überwinden) verspottete er als kitschiges Symbol, das man ablegen müsse.
Die Botschaft war: Neutrale Institutionen und Rechtsnormen seien bloß ein Trick, um den rassistischen Status quo zu verschleiern. Deshalb habe sich Amerika nie wirklich verändert – Verbesserungen seien nur Tarnungen subtilerer Formen von Rassismus. Aus dieser Denkschule stammt letztlich der Slogan von Ibram X. Kendi, der 2020 so viel Aufmerksamkeit bekam: Es gibt kein „nicht rassistisch“. Man ist entweder „rassistisch“ oder „antirassistisch“ – und Letzteres heißt, sich hinter eine sehr konkrete Agenda von Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion (DEI) zu stellen.
Brooks: Der Historiker George Marsden hat einmal über Martin Luther King geschrieben: Die Kraft von Kings Rhetorik speiste sich aus seiner Überzeugung, dass Gut und Böse in das Naturrecht des Universums eingeschrieben sind. Segregation ist nicht nur manchmal falsch, sondern immer falsch – sie ist Sünde. Von diesem Glauben an Naturrecht zum Gegenteil zu gelangen – das hat, zugegeben, eine gewisse Kühnheit. Mich erstaunt, wie dramatisch sich selbst auf der Linken vorherrschende Sichtweisen umgekehrt haben. Wir reden viel darüber, wie sehr Donald Trump die Republikanische Partei verändert hat. Aber auch bei den Progressiven, die ich an der Ostküste kenne und in den Institutionen, in denen ich mich bewege, gab es einen tiefen Wandel der geistigen Grundlagen – ich will nicht sagen: der Demokratischen Partei insgesamt, aber doch dieser Milieus.
Mounk: Mich verblüfft generell, wie sehr die Ideen, mit denen ich im politischen Mainstream – besonders auf der Linken – aufgewachsen bin, in den letzten 25 Jahren aus dem Fenster geflogen sind. Ich war im Jahr 2000 achtzehn. Damals galten Sätze wie „Es gibt nicht diese oder jene Rasse, sondern nur die Menschheit“ oder „Ich strebe eine Gesellschaft an, in der Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung weit weniger bedeuten als heute, in der sie weder Lebenschancen noch Identität bestimmen“ als linke Positionen. Heute gelten sie mancherorts als rechts, mitunter sogar als anstößig. Der Gedanke, es gebe nur die menschliche Gattung, tauchte auf diesen unsäglichen Listen von „Mikroaggressionen“ amerikanischer Universitäten auf. Ich will deren Bedeutung nicht überhöhen, aber sie zeigen: Was ich einst für Kern meines linken Weltbilds hielt, wird auf Teilen der Linken verteufelt. Ich weiß, viele sagen das. Aber ich habe nicht die Linke verlassen – dieser Teil der Linken hat mich verlassen.
Brooks: Du beginnst das Buch mit Geschichten, die mir 2020/21 wieder hochkamen: Ärzte fragen bei einer Operation nach der „Rasse“, weil OP-Termine danach verteilt werden; Kindergärten, die Kinder nach Ethnien trennen. Eine Mutter will ihre Tochter in eine andere Klasse versetzen lassen, die Schulleiterin sagt: „Nein, sie muss zur schwarzen Lehrerin.“ Tochter schwarz, Mutter schwarz, Schulleiterin schwarz – und doch wird Segregation plötzlich zur Norm. Meine Frage: Es ist 2025. Wie viel davon ist vorbei?
Mounk: Das ist noch offen. Die verrücktesten Ideen sind aus der Mode gekommen. Ich habe The Identity Trap geschrieben, um die damals stärksten Argumente ernsthaft zu widerlegen – aber die extremsten Thesen wurden zurückgerudert, ohne dass je jemand die Debatte geführt oder einen Irrtum eingeräumt hätte. Bemerkenswert viele Kommentatoren – teils sehr etablierte, vielleicht auch ein oder zwei deiner Kollegen –, die 2020 diese Ideen missionarisch verbreiteten, sagen heute: „Das ist doch absurd. Das hat niemand ernsthaft geglaubt.“ Doch: Ihr habt es geglaubt. Ihr habt es geschrieben. Ich halte sie nicht für Lügner – viele erinnern sich heute schlicht nicht mehr daran, dass sie vor fünf Jahren aus genau diesem Gesangbuch predigten. Insofern ist der radikalste Flügel unter dem Gewicht seiner Widersprüche kollabiert. Es herrscht peinliche Verlegenheit – und ein gutes Stück Selbsttäuschung –, weil viele so tun, als hätten sie das nie vertreten.
Jetzt wirkt unter der Oberfläche weiterhin einiges nach, vor allem bei Jüngeren. Etwa die Sorge vor „kultureller Aneignung“: Der Gedanke, dass man, wenn man sich die Kulturen und Traditionen seiner Mitbürger in unseren kosmopolitischen Städten aneignet, nicht eine der großen Leistungen des 21. Jahrhunderts feiert, sondern einen schwer benennbaren Schaden verursacht, vor dem man sich hüten müsse – dieser Gedanke lebt fort.
Natürlich sorgt mich, dass Trump zu einem guten Teil dank dieser Ideen gewählt wurde und den Kampf dagegen zum Markenzeichen seiner Regierung gemacht hat. Statt echte ideologische Nötigung – etwa an Universitäten – zu begrenzen, versucht er, Institutionen zu schwächen oder ihnen seine eigene Orthodoxie aufzuzwingen. Nicht: Raum für freie akademische Debatte schaffen. Sondern: Wir sagen euch jetzt, welche Ideen verboten und welche erwünscht sind. Das treibt Teile der Linken wieder zurück in die Identitätsfalle – wie schon unter Trump I. Man sieht es täglich: Kritik an Teilen der Linken gilt erneut als Nestbeschmutzung, als Hilfe für „die andere Seite“. Die schrillsten, gedankenärmsten Stimmen gewinnen wieder Gewicht – Hauptsache, irgendwer „steht auf“ gegen Trump. So schnell wie der Stimmungswechsel von 2023 auf 2025 kam, kann das Pendel zurückschlagen.
Eine sinnvolle Deutung dieses Moments wäre: Wir brauchen eine neue Ordnung, ein neues Gleichgewicht, das die zentralen Einsichten des philosophischen Liberalismus für das 21. Jahrhundert fruchtbar macht. Stattdessen hat Trumps Wahl das Pendel noch weiter ausschlagen lassen – und in den nächsten Jahren könnte es erneut in die Gegenrichtung ausschlagen. Das sagen inzwischen selbst Mainstream-Demokraten. Tim Walz meinte vor ein paar Monaten: Das Problem sei nicht ein falsches Verständnis von DEI oder zu viel „Wokeness“, sondern dass man Wokeness und DEI nicht entschlossen genug verteidigt habe. 2028 könnten wir also zwischen einem verhärteten MAGA-Lager und einer Renaissance jener Ideen wählen müssen.
Brooks: „Kamala Harris ist für they/them, Präsident Trump ist für dich“ – das war die Quintessenz dessen, wie wir diesem Mann de facto erneut zum Sieg verholfen haben. Und ja: Diese Ideen haben die Demokraten, den Progressivismus, daran gehindert, eine neue Erzählung zu finden. Zu viel davon basiert auf dem Schema Unterdrücker vs. Unterdrückte – aus dem kommt man schwer heraus.
Mounk: Das finde ich spannend. Ich denke da an Thomas Kuhn und Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Kuhn fragte, warum überholte Paradigmen oft viel länger fortleben, als sie sollten. Selbst wenn sie Anomalien häufen, halten gerade ältere Gelehrte daran fest. Teils biografisch erklärbar: Wer Karriere und Ruhm in ein Paradigma investiert hat, lässt es schwer los. Vor allem aber braucht es ein neues Paradigma. Es genügt nicht zu sehen, dass Newton nicht alles erklärt. Solange du nicht eine andere Sprache und ein anderes Modell hast, mit dem du die Fallgeschwindigkeit des Apfels beschreiben kannst, bleibst du bei dem, was in 98 Prozent der Fälle „ausreichend“ funktioniert. Paradigmen sterben erst, wenn es ein neues gibt, das das Alte erklärt und die Anomalien besser erfasst.
Vielleicht ist genau das das Dilemma der Demokraten: Man schämt sich für manche „woken“ Parolen; Abgeordnete verschicken viel seltener E-Mails mit Begriffen wie „Latinx“ als vor fünf Jahren. Aber man weiß nicht, wie man ohne das identitäre Raster über Politik sprechen soll. Das neue Paradigma fehlt. Bis es da ist, bleibt man stumm oder ungeschickt. Das ist weniger schlimm, als eine unpopuläre Sprache aktiv zu forcieren – aber politisch immer noch ein großes Problem.
Brooks: Einverstanden. Ruth DeFries hat Kuhns Paradigmenwechsel auf Politik übertragen: „Ratchet–Hatchet–Pivot–Ratchet“. Kultur löst ein Problem (Ratchet), die Erzählung nutzt sich ab, man zerlegt sie (Hatchet), findet eine neue (Pivot) – und dreht wieder hoch (Ratchet). Jonathan Rauch schrieb in Persuasion: Postmodernismus sagt, Wahrheit sei nicht objektiv, sondern sozial konstruiert. Trump fährt mit dem LKW durch diese Lücke: Ihr wollt keine Wahrheit? Ich liefere euch keine Wahrheit. Man sagt oft, Trump betreibe Identitätspolitik für Weiße. Auch das ist eine ursprünglich linke Idee: Gesellschaft als Machtkampf zwischen Gruppen – Unterdrücker und Unterdrückte. Diese Erzählung erzählt Trump ebenfalls.
Mounk: Das stimmt teilweise – und dahinter steckt noch etwas Tieferes. Zunächst: Wir waren stolz, Rauchs Essay zu veröffentlichen – großartig wie immer. Mir erscheint ein Großteil der Politik als zivilisatorische Übung. Evolutionsbedingt sind wir darauf gepolt, die Eigengruppe zu bevorzugen und die Fremdgruppe zu benachteiligen: enorme Hilfsbereitschaft und Mut für Familie und „Stamm“, Gleichgültigkeit, teils Grausamkeit gegenüber Außenstehenden. Moderne liberale Ordnung – und andere erfolgreiche Gesellschaftsentwürfe – versucht, diese Instinkte zu lenken und ihr destruktives Potenzial zu begrenzen.
Rechtsethnischer Nationalismus und linke Identitätspolitik rechtfertigen diese Basisinstinkte – nur aus entgegengesetzten Richtungen. Rechts heißt es: Diese Weicheier wollen, dass ihr alle Menschen gleich liebt – Unsinn. Zählt eure Gruppe: Weiß, Deutsch, Japanisch – der Rest ist egal. Die Mehrheit darf durchregieren. Links heißt es: Deine wahre Identität ergibt sich aus der Schnittmenge von Hautfarbe, Kultur, Religion, Sexualität. Die edelste Politik ist der Kampf für deine Gruppe – mit emanzipatorischem Vokabular verbrämt, aber im Kern die Einladung, den evolutionären Reflexen nachzugeben.
In der Praxis gibt es Ähnlichkeiten. Manche Rechte eignen sich bewusst nützliche Elemente der Identitätssynthese an – etwa die radikale Wahrheitsskepsis. Dennoch bleiben es historisch unterschiedliche Traditionen. Rechtspopulistischer Ethnonationalismus ist älter als die Identitätssynthese; er nutzt vielleicht Campus-Vokabular, speist sich aber aus anderem. Darum ist The Identity Trap im Kern ein Buch über die Linke – nicht, weil mir rechte Bewegungen keine Sorgen bereiten (darüber habe ich in The People vs. Democracy und The Great Experiment ausführlich geschrieben), sondern weil es sich um verwandte, aber getrennte Phänomene handelt.
Wer den Liberalismus angreift, wird ähnliches behaupten: Universalwerte seien bloß Fassade; Liberalismus habe keinerlei Fortschritt gebracht. Das verband schon Marxisten und die heutige „woke“ Linke. Der wesentliche Unterschied: Marxisten denken in Klassen – und sie hatten eine Utopie am Ende. Eine klassenlose Gesellschaft, in der Kinder von Bourgeoisie und Proletariat Teil eines gemeinsamen, universalen Subjekts sind. Die Identitätssynthese kennt diese Utopie nicht. Der Satz „Ich will ein Amerika, in 100, 200, 500 Jahren, in dem Hautfarbe oder sexuelle Orientierung keine Rolle mehr spielt“ – der klingt in diesen Kreisen nicht verheißungsvoll, sondern wie eine Provokation.
Brooks: Der Marxismus war christlicher, als es auf den ersten Blick scheint. Er endet mit einer Eschatologie, einer Vision vom Land, in dem Milch und Honig fließen, in dem der Löwe beim Lamm liegt – etwas, das dieser Ansatz nicht hat. Jetzt stelle ich dir eine völlig unfaire Frage, an der ich selbst vor zwei Stunden gescheitert bin. Aber du bist nun mal „Mr. Liberalismus“, also traue ich mich, sie dir zu stellen. Ich habe mit einem demokratischen Abgeordneten zu Mittag gegessen, und wir sprachen – wie man das eben so tut – darüber, was die Demokraten sagen müssten, um das Repräsentantenhaus zurückzuerobern. Mein Argument war: Das ist eigentlich nicht seine Aufgabe. Wenn es einen historischen Umbruch gibt – und ich glaube, wir stecken gerade mitten in einem solchen – dann vollzieht er sich so ähnlich, wie du es in deinem Buch beschreibst. Einige Intellektuelle entwickeln gewagte Ideen, diese Ideen setzen sich im Mainstream durch und werden schließlich von Politikern aufgegriffen. Das war offensichtlich bei der Identitätssynthese so, und ich würde sogar sagen, auch bei MAGA. Wir kennen heute eine ganze Reihe von Denkern, die die Grundlagen für MAGA gelegt haben. Ich sagte also: Von Politikern, die ständig in Ausschüssen sitzen und Spenden sammeln, kann man nicht erwarten, dass sie das leisten. Wir sollten nicht erwarten, dass Chuck Schumer eine neue gesellschaftliche Vision entwirft. Er ist damit beschäftigt, Chuck Schumer zu sein. Aber mein Gesprächspartner drehte den Spieß natürlich um und sagte: Hey, Mr. Writer, MAGA ist eine Form von Identität, von „Wer du bist“. MAGA vermittelt, wie ein guter Mann, wie eine gute Frau aussieht. MAGA gibt dir ein Gefühl von gerechter Teilhabe. MAGA gibt dir ein Gefühl von Zugehörigkeit. Und die Demokraten können dem nicht mit ein paar Steuervergünstigungen kontern. Sie brauchen eine viel größere Vision – und genau die haben die Verfechter der Identitätssynthese immerhin geliefert. Also: Du bewegst dich in liberalen Kreisen, bist vielleicht einer der führenden Liberalen in unserem Land. Hast du eine Idee, wie man den Liberalismus so attraktiv und überzeugend machen kann, dass er in einem Land, das ihn in den vergangenen Jahren ziemlich unsexy fand, wieder ankommt?
Mounk: Lass mich drei Punkte nennen, die hoffentlich eine echte Antwort ergeben. Erstens: Was ist die Aufgabe eines demokratischen Abgeordneten? Was ist vor allem die Aufgabe dessen, der die Demokratische Partei bei den Präsidentschaftswahlen 2028 vertreten wird? Ich glaube, es geht darum, eine neue politische Sprache zu sprechen, die zeigt, dass es einen Weg gibt, der weder in der identitätspolitischen Linken noch in der MAGA-Bewegung liegt und auch nicht in irgendeinem merkwürdigen Zwitterwesen, das zu 50 Prozent aus dem einen und zu 50 Prozent aus dem anderen besteht. Und ich glaube, es ist gar nicht so schwer zu erkennen, wie das aussehen könnte. Denn es gibt eine schweigende Mehrheit von Amerikanern, die – anders als die „Silent Majority“, von der Nixon in den 1970er Jahren sprach – inklusiv und tolerant ist und die man für ein anständiges Land gewinnen kann. Die Amerikaner glauben an den Kapitalismus, sie glauben an Märkte, an den Unternehmergeist, der das Land wohlhabender macht. Zugleich hassen sie Vetternwirtschaft. Sie finden es zutiefst unfair, wenn Großkonzerne und Hedgefonds-Manager keine fairen Steuern zahlen. Darauf lässt sich eine vernünftige Politik aufbauen.
In kulturellen Fragen erkennen die meisten Amerikaner die großen Beiträge von Einwanderern an. Sie wollen tolerant gegenüber sexuellen Minderheiten sein. Sie befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe, und sie glauben, dass es in einem freien Land selbstverständlich ist, wenn Menschen mit Geschlechtsdysphorie ihr Leben in einer anderen Geschlechtsrolle führen wollen. Gleichzeitig aber sind sie besorgt, wenn das Gefühl entsteht, dass das Land seine Grenzen nicht mehr kontrolliert und Politiker fast schon zur Einwanderung einladen. Und sie haben Bedenken, wenn Menschen, die die männliche Pubertät durchlaufen haben, im Frauensport antreten dürfen, oder wenn 13-Jährige vorschnell mit kaum erprobten Hormonbehandlungen und manchmal wenige Jahre später mit operativen Eingriffen konfrontiert werden, die sie dauerhaft unfruchtbar machen können. Ich denke, es ist möglich, für ein tolerantes Land zu kämpfen, das diese Realitäten anerkennt.
Politisch gesprochen glaube ich: Die erste Partei, die diesen Raum wirklich konsequent besetzt, könnte eine neue Ära der amerikanischen Politik prägen. Ich sehe die Aufgabe von Persuasion, von meinem Podcast, von meinen Schriften – und von vielen Liberalen in diesem Spektrum, auch von konservativen Liberalen wie dir – darin, das intellektuelle Fundament für diese Politiker zu legen. Es ist nicht Sache eines Kandidaten im Jahr 2028, das Rad neu zu erfinden. Aber wir müssen dafür sorgen, dass es die intellektuelle Infrastruktur gibt, dass dieser Kandidat weiß, welche Sprache er sprechen, auf welche Ideen er sich stützen soll. Das müssen wir in den nächsten Jahren unbedingt weiter aufbauen.
Mein zweiter Punkt ist das breitere Argument für den philosophischen Liberalismus. Unser Land hat viele Herausforderungen und Ungerechtigkeiten, auch solche, auf die die Linke zu Recht hinweist – ungleiche Chancen, das Erbe vergangener Unterdrückung, die Nachwirkungen der Sklaverei. All das ist real. Aber wir sollten auch stolz auf das sein, was wir erreicht haben. Wir sollten anerkennen, wie weit wir gekommen sind. Dies ist noch immer eine der besten Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit, um darin zu leben. Der Grad an Würde, Selbstbestimmung, Wohlstand, Unternehmertum und Entfaltungsmöglichkeiten, den die Menschen in den liberalen Demokratien des Westens haben, ist historisch beispiellos. Und das nicht trotz, sondern wegen der liberalen Prinzipien. Der universelle Anspruch des Liberalismus – dass deine Identität dich nicht festlegen darf – war das Leitstern-Prinzip, an dem wir unser Handeln immer wieder messen und uns ihm langsam annähern konnten.
Drittens: Liberalismus war immer ein Ideal, ein Anspruch, nie ein fertiger Zustand. Liberale haben nie gesagt: Das hier ist eine vollendete liberale Gesellschaft, die wir nur noch verteidigen müssen. Doch die Mischung aus Erfolgen und Versäumnissen kann uns zu defensiv machen. Sie kann uns verleiten, dem Volk zu misstrauen, Eliten von echter Teilhabe abzuschirmen oder Probleme kleinzureden, aus Angst, dass Gegner sie gegen uns verwenden. Der Liberalismus ist wieder einmal in einer Krise. Er erlebte eine nach dem Scheitern der Revolutionen von 1848, eine gewaltige in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg von Kommunismus und Faschismus. Und er steckt heute erneut in einer tiefen Krise. Wir müssen neu definieren, wie ein Liberalismus für das 21. Jahrhundert aussehen kann. Das erfordert Anpassungen und die Einsicht, dass das Weltbild, das ich als 18-Jähriger im Jahr 2000 hatte, nicht mehr trägt. Wir brauchen einen neuen Liberalismus, der 2025 und 2050 gerecht wird. Welche liberalen Denker und Autoren aus dieser Zeit in Erinnerung bleiben werden, entscheidet sich daran, wer am meisten dazu beiträgt. Das ist der Weg, über 2028 hinaus, um aus der Krise herauszukommen.
Brooks: Roger Scruton hat argumentiert, Liberalismus sei ein System, das auf Wahlfreiheit beruht. Aber um freie Entscheidungen treffen zu können, brauche man stabile Institutionen, die der Wahl vorausgehen. Und die zentrale konservative Wahrheit sei, dass Familie, Nachbarschaft, Gemeinschaft, Nation – diese Bündnisstrukturen – das Fundament des Liberalismus bilden. Und dass der Liberalismus in seiner extremsten, hyper-individualistischen Form begonnen habe, genau diese Institutionen auszuhöhlen.
Mounk: Ich denke, viele der aktuellen postliberalen Argumente sind schwach. Sie nehmen all das Gute in unserer Gesellschaft nicht zur Kenntnis, zeigen nur auf die Probleme – viele davon gab es in jeder Gesellschaft – und schieben sie dann dem Liberalismus in die Schuhe. „Seht, wie schlimm Liberalismus ist – er hat Prostitution und moralischen Verfall hervorgebracht.“ Dabei gab es in katholischen Ländern des Mittelalters genauso viel Prostitution wie heute. Zu behaupten, das sei eine Folge des Liberalismus, ist absurd. Das stärkste postliberale Argument ist das, das du ansprichst: Freiheit ist ein hohes Gut, sie ist attraktiv, sie bringt Autonomie und blühende Gesellschaften hervor. Aber nur, solange es eine unsichtbare Grundlage von sozialer Ordnung gibt – stabile Familien, öffentliche Ordnung, moralische Selbstverständlichkeiten im Umgang miteinander, Verantwortungsbewusstsein für Kinder. All das stammt nicht aus der liberalen Tradition. Man könnte also sagen: Die frühen Erfolge liberaler Gesellschaften lebten von einem Kapital an vorliberalen Werten, das wir heute aufgezehrt haben. Wenn dieses Kapital aufgebraucht ist, wird die liberale Gesellschaft dysfunktional und chaotisch. Vielleicht ist Liberalismus zeitlich begrenzt.
Das ist eine ernste Herausforderung. Sie wird dadurch verschärft, dass viele Liberale – unausgesprochen – Perfektionisten waren, nicht politische Liberale. Sie wollten nicht nur, dass Institutionen neutral zwischen verschiedenen Auffassungen des Guten bleiben, sondern sie wollten ihre Vision der Gesellschaft durchsetzen. Religiöse Menschen wurden toleriert, aber für „seltsam“ gehalten, Konservative in Fragen der Sexualmoral wurden beschämt. Das war philosophisch ein Fehler, weil es den eigenen Ansprüchen des Liberalismus widerspricht. Und es war politisch ein Fehler, weil es viele Menschen entfremdet hat.
Die Lösung liegt darin, zum echten politischen Liberalismus zurückzukehren. Wir leben in zutiefst diversen Gesellschaften – schon die religiöse Vielfalt in Europa führte über Jahrhunderte zu Kriegen. Wir werden nie Konsens darüber haben, welche Moralvorstellung die richtige ist, also darf der Staat sie nicht erzwingen. Unsere Aufgabe ist es, die Bedingungen zu schaffen, dass jeder sein eigenes Lebensmodell verfolgen kann. Aber das lässt sich durchaus mit einer öffentlichen Kultur verbinden, die konservative Tugenden wie Disziplin, Gemeinsinn und Hilfsbereitschaft hochhält. Auch als jemand, der nicht aus einem konservativen oder religiösen Umfeld stammt, habe ich gelernt, wie wertvoll dieser Beitrag sein kann.
Das bedeutet nicht, die Prinzipien des Liberalismus aufzugeben. In einer Gesellschaft, die seine Grundsätze wirklich ernst nimmt, wird es immer genügend Menschen geben, die solche Tugenden weitergeben. Und trotz aller sozialen Probleme glaube ich nicht, dass die heutige Gesellschaft chaotischer ist als früher – im Gegenteil. Teenagerschwangerschaften sind seltener, Kriminalität ist seit 30 Jahren rückläufig, die Serienmörder-Ära war in den 1970ern. Die Vorstellung, damals sei alles geordnet gewesen und heute herrsche Chaos, überzeugt mich nicht. Aber dieses konservative Argument ist das stärkste, dem Liberale etwas entgegensetzen müssen.
Brooks: Zum Schluss will ich noch etwas zitieren, das Ivan Krastev, einer deiner früheren Gäste, gesagt hat “In jeder Revolution gibt es immer mehr als eine Revolution” – ich habe es in einer Kolumne aufgegriffen, weil es so treffend ist, um sich vor Augen zu führen, wie sehr sich Geschichte gerade wandeln könnte.
Mounk: Ivan Krastev liefert ständig Gedanken, die Horizonte öffnen. Er ist einer der wichtigsten Denker unserer Zeit, und in den USA ist er sträflich unbekannt. Die Demokratische Partei steckt nicht nur in einer Krise der Parolen oder der Politikprogramme, sondern in einer Krise ihres grundlegenden Verständnisses des eigenen Landes. Viele Abgeordnete, mit denen ich spreche, haben schon Mühe, ihr Land überhaupt treffend zu beschreiben.
Das hängt mit einem Weltbild zusammen, das bis vor kurzem dominant war und das ich vielleicht in meinem nächsten Buch genauer untersuchen will: die Vorstellung, Nationalismus sei das Phänomen des 20. Jahrhunderts und werde im 21. keine Rolle mehr spielen. Die Vorstellung, der Bogen der Geschichte sei lang, aber er neige sich zur Gerechtigkeit, und die Bürgerrechtsbewegung sei das Modell, das wir einfach immer wieder anwenden können – von einer Bewegung zur nächsten. Oder die Vorstellung, dass wir nach einer kurzen Pause der sozialen Mobilität durch Reagan und Thatcher bald wieder in einer Gesellschaft leben, in der alle aufsteigen können, wenn nur alle aufs College gehen. Und dass nur ein paar alte, weiße, ländliche „Verlierer“ nicht mitmachen wollen. Ich glaube, die Revolution, die die Republikanische Partei verwandelt hat, wird auch die Demokraten erfassen.
Wenn sie den Republikanern Paroli bieten wollen, brauchen sie ein „Feuer der Gewissheiten“. Sie müssen erkennen, dass viele Grundannahmen nicht mehr zu retten sind und auf den Müllhaufen der Geschichte gehören – nicht, weil die Werte falsch wären, sondern weil die alten Narrative obsolet sind. Ich selbst habe meine Werte seit meiner Jugend kaum verändert. Aber solange wir klingen, als wollten wir die Melodie von gestern weiterspielen, wirken wir weltfremd. Das gilt für die Demokraten, aber auch für Liberale allgemein. Revolutionen sind Momente, in denen eine alte Ordnung zerfällt. Wer in diesen Momenten Erfolg hat, erkennt die Obsoleszenz der alten Ordnung – und hat einen Plan für die neue. Viele von denen, die mir politisch nahestehen, haben nicht erkannt, dass wir mitten in einer Revolution stecken. Und selbst die wenigen, die es erkannt haben – mich eingeschlossen – haben noch keinen Plan, wie wir diese Chance nutzen können, um das Wertvolle unserer Ordnung zu retten und die Ideale des 21. Jahrhunderts einzulösen, statt sie wie im 20. Jahrhundert zu verraten.
Brooks: Ich will nur unterstreichen: In Zeiten wie diesen kann man gar nicht radikal genug denken. Vielleicht nicht radikal, aber mit viel Vorstellungskraft. Als ich jung war, war ich Reagan-Anhänger und arbeitete bei National Review. Aber Hayek, der 1947 die Mont Pelerin Society gründete, tat dies in einer Zeit, in der alle dachten, staatliche Zentralisierung sei die Zukunft. Und er schrieb sein Buch und sagte: Nein, ihr irrt euch alle. Und am Ende hatte er recht.
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Dieses Transkript wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.