Die Macht-Theorie der Meinungsfreiheit
Gerade weil so viele bei der Meinungsfreiheit inkonsequent sind, ist das Recht auf freie Rede heute wichtiger denn je.
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Es sind düstere Zeiten für die Meinungsfreiheit in Amerika.
Die Angriffe der Trump-Regierung auf die freie Rede nehmen viele Formen an – und sie verschärfen sich rapide. In den vergangenen Wochen haben führende Republikaner gefordert, Dutzende Menschen wegen Äußerungen über das Attentat auf Charlie Kirk zu entlassen (von denen viele tatsächlich falsch oder gefühllos waren). Brendan Carr, Kommissar der Federal Communications Commission, setzte den US-Sender ABC massiv unter Druck, Jimmy Kimmel aus dem Programm zu nehmen – und erklärte sogar, man könne „das auf die leichte oder die harte Tour regeln“. Die Regierung und ihre Verbündeten drohen wiederholt, die Visa von Nicht-Staatsbürgern – darunter Studierende wie auch Journalisten – zu entziehen, die sich politisch missliebig äußern. Präsident Donald Trump selbst ruft derweil das Justizministerium öffentlich dazu auf, gegen seine politischen Gegner vorzugehen, und macht unmissverständlich klar, dass der Preis für mangelnde Loyalität eine Strafverfolgung mit der vollen Macht des Bundesstaats sein kann.
Mitten in diesem Vorgehen gegen die Prinzipien des First Amendment ist es bemerkenswert zu beobachten, wie angebliche Konservative nun einige der fehlgeleitetsten progressiven Rechtfertigungen für Einschränkungen der Meinungsfreiheit übernehmen. In den vergangenen zehn Jahren hatten viele Linke argumentiert, ihre Forderung, Menschen zu entlassen, die progressive Empfindlichkeiten verletzen, sei keine „Cancel Kultur“, wie Konservative behaupteten, sondern eine Form von „Konsequenzen Kultur“. Jeder Amerikaner, so das Argument, könne sagen, was er wolle – nur eben nicht erwarten, frei von den natürlichen Konsequenzen seiner Äußerungen zu bleiben.
So verteidigte etwa der Schauspieler LeVar Burton 2021 die Entscheidung des Nachlasses von Dr. Seuss, einige seiner Bücher nicht mehr zu drucken, und nannte die Cancel Kultur einen „Irrtum“. „Ich glaube, wir leben in einer Konsequenzen Kultur, und … Konsequenzen erfassen endlich jeden in der Gesellschaft“, sagte er in der Sendung The View – und machte deutlich, dass er dies für eine positive Entwicklung hielt: „Es gibt derzeit gute Zeichen in unserer Kultur.“
Bis vor Kurzem hatte Trump derartige Folgen zu Recht als Bedrohung der Meinungsfreiheit bezeichnet: „Menschen aus ihren Jobs zu drängen, Andersdenkende zu beschämen und totale Unterwerfung von allen zu verlangen, die anderer Meinung sind“, erklärte er 2020, „ist unserer Kultur und unseren Werten völlig fremd und hat in den Vereinigten Staaten keinen Platz.“ Doch in den vergangenen Wochen haben einflussreiche Figuren der MAGA-Rechten exakt jene Argumente wiederholt, mit denen die Linke einst die Cancel Kultur zu rechtfertigen suchte. Nancy Mace, republikanische Abgeordnete des Kongresses, erklärte: „Meinungsfreiheit bedeutet nicht Freiheit von Konsequenzen.“ Und der älteste Sohn des Präsidenten, Donald Trump Jr., griff Burtons Argument nahezu wörtlich auf: „Sie verlieren ihre Jobs nicht wegen der Cancel Kultur, sondern wegen der Konsequenzen Kultur“, twitterte er.
Tatsächlich erleben wir derzeit eine jener merkwürdigen Phasen, in denen Ideologen – getrieben von den parteipolitischen Interessen des Augenblicks – die Seiten wechseln, wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Das gilt für die Rechte, die plötzlich nach Vorwänden sucht, um ihr angebliches Bekenntnis zum First Amendment aufzugeben; ebenso aber für die Linke, die dessen Bedeutung verspätet wiederzuentdecken scheint.
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Als Kimmel am 23. September triumphal auf die Bildschirme zurückkehrte, hielt er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Meinungsfreiheit. „Diese Show ist nicht wichtig“, sagte er zu seinem Publikum. „Wichtig ist, dass wir in einem Land leben dürfen, das eine Show wie diese überhaupt zulässt.“ Ein edler Gedanke. Doch man wünschte sich, einige derjenigen, die Kimmel nun verteidigten, hätten in der Vergangenheit ein ebenso konsequentes Bekenntnis zur Meinungsfreiheit gezeigt. So bezeichnete etwa Tim Walz Kimmels Suspendierung als „Verhältnisse wie in Nordkorea“ – hatte aber selbst zuvor erklärt, „es gibt kein Recht auf freie Rede, wenn es sich um Fehlinformationen oder Hassrede handelt“.
Lässt das traurige Schauspiel, wie Lager im großen Kulturkampf um die Meinungsfreiheit die Seiten wechseln, darauf schließen, dass niemand wirklich an die Prinzipien glaubt, auf denen sie beruht? Und bedeutet das wiederum, dass Meinungsfreiheit etwas für Narren ist – ein Wert, den nur die hoffnungslos Naiven ernst nehmen?
Die Meinungsfreiheit ist kaum das einzige Feld, in dem die Politik Parteigänger zu Heuchlern macht.
Wenn die Demokraten an der Macht sind, verteidigen sie das Recht der Exekutive, den Klimawandel oder die Studienverschuldung zum nationalen Notstand zu erklären, während die Republikaner lautstark die Bedeutung begrenzter Regierung beschwören. Sobald die Republikaner wieder an der Macht sind, pochen sie auf das Recht der Exekutive, Notstände in Fragen der Einwanderung oder der nationalen Sicherheit auszurufen – und plötzlich erinnert sich die Linke an die Wichtigkeit wirksamer Kontrollmechanismen gegenüber der Regierung. Ähnliche Beispiele lassen sich leicht aus anderen Bereichen der Politik finden, in denen Demokraten und Republikaner zuverlässig die Seiten wechseln, je nachdem, wer regiert – etwa bei ihren angeblichen Überzeugungen zum legislativen Filibuster oder bei den Argumenten, warum es legitim sein könnte, den Supreme Court personell zu erweitern. Allen diesen Fällen ist eines gemeinsam: Wie bei der Meinungsfreiheit folgen die Mächtigen völlig anderen Anreizen als die Machtlosen.
In den vergangenen zehn Jahren herrschte unter Progressiven wie Konservativen gleichermaßen die stillschweigende Annahme, die Linke habe die nationale Kultur nun fest im Griff. Als Universitäten Sprachregelungen einführten, Professoren raffinierte Verteidigungen der „Konsequenzen Kultur“ formulierten und Studierende die Verwaltung aufforderten, die „anstößige“ Rede ihrer Kommilitonen zu zensieren, teilten sie alle dieselbe unausgesprochene Überzeugung: dass diejenigen, die letztlich entscheiden, wer sprechen darf – und wer nicht –, ihre politischen Grundüberzeugungen teilen würden.
Das war unmoralisch: Progressive warfen in dem Moment ein zentrales Prinzip über Bord, das alle Mitglieder einer freien Gesellschaft schützen soll – sobald sie glaubten, es diene nicht länger ihren eigenen Interessen. Und es war zutiefst kurzsichtig: Zu glauben, man werde auf Dauer bestimmen, welche Art von Rede sanktioniert wird, zeugt von einer bemerkenswerten Blindheit gegenüber der politischen Realität in den Vereinigten Staaten.
Dass der Bruch der Linken mit der Meinungsfreiheit irgendwann auf sie selbst zurückfallen würde, war nicht nur absehbar – es wurde weithin vorhergesehen, von mir und vielen anderen. Tatsächlich habe ich in meinem letzten Buch, Im Zeitalter der Identität Der Aufstieg einer gefährlichen Idee, das lange vor Trumps Rückkehr ins Weiße Haus erschien, genau vor dieser Gefahr gewarnt. Progressive „Autoren und Aktivisten scheinen davon auszugehen, dass die Zensoren, die die Grenzen des Sagbaren festlegen, irgendwie frei von jenen Lastern wären, die sie selbst verurteilen“, schrieb ich. „Das ist schlicht naiv. Zwar mögen Progressive in linksliberalen Institutionen oder Berufsgruppen Ideen zensieren können, die ihnen missfallen – doch eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt, unpopuläre Ansichten zu unterdrücken, wird mit derselben Wahrscheinlichkeit auch ihre eigenen Positionen zum Schweigen bringen.“
Ich bezeichne die Tendenz von Linken wie Rechten, je nach ihrer momentanen Stellung im kulturellen Machtgefüge ihre Haltung zur Meinungsfreiheit zu wechseln, inzwischen als die Macht-Theorie der Meinungsfreiheit.
Diese Theorie besagt, dass die Linke – da sie derzeit keine der föderalen Institutionen kontrolliert und sich auch kulturell im Rückzug befindet – rasch die Bedeutung des First Amendment, des ersten Verfassungszusatzes zur US-Verfassung, der die Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit garantiert, wiederentdecken wird. Und sie sagt ebenso voraus, dass Donald Trump und seine Verbündeten, die sich lange als prinzipielle Verteidiger der Meinungsfreiheit inszeniert haben, nun im Lichte ihrer neu gewonnenen Macht schnell Gründe finden werden, warum diese Freiheitsrechte ausgerechnet für ihre politischen Gegner nicht gelten sollten.
Wenn diese Theorie stimmt, liegt eine scheinbar naheliegende Schlussfolgerung auf der Hand: Wenn so wenige Menschen die Meinungsfreiheit wirklich aus Prinzip verteidigen – und die meisten sie nur so lange hochhalten, bis sie selbst mächtig genug sind, um sie zu missachten –, dann erscheint es verführerisch, die ganze Sorge um das First Amendment als bloßes ideologisches Gerede abzutun. Über die Bedeutung der Meinungsfreiheit zu reden, so ginge die Erzählung, ist nur ein geschickter Trick, mit dem Zyniker den naiven Idealisten Sand in die Augen streuen – jenen wenigen, die tatsächlich noch an diesen Wert glauben.
Doch in anderen politischen Zusammenhängen, in denen Linke und Rechte je nach parteilichem Interesse die Seiten wechseln, ziehen wir keine derart zynischen Schlüsse. Ja, diejenigen, die gerade die Bedeutung von dem Checks and Balances System, welches für gegenseitige Kontrolle der Staatsgewalten sorgen soll, betonen, sind meist jene, die sich in diesem Moment in der Minderheit befinden. Aber daraus zu folgern, dass Begrenzungen der Macht des Präsidenten völlig belanglos seien – oder dass die amerikanische Republik gesünder würde, wenn man alle Bedenken über Gewaltenteilung als bloße Fantasie abtäte –, wäre absurd.
Dasselbe gilt für die Meinungsfreiheit. Zugegeben, sie konsequent zu verteidigen ist schwer – es ist von Natur aus einfacher, die Rechte derjenigen zu unterstützen, mit denen man übereinstimmt, als die Rechte derer, deren Ansichten man ablehnt. Und ja, viele derjenigen, die in den vergangenen Jahren – oder in den letzten Wochen plötzlich – am lautesten den Wert der Meinungsfreiheit beschworen haben, haben kein prinzipientreues Verhältnis zu dieser Idee gezeigt.
Dennoch bleiben die Prinzipien der Meinungsfreiheit eine unverzichtbare Grundlage jeder freien Gesellschaft. Gerade weil die Mächtigen stets der Versuchung erliegen werden, ihren Kritikern das freie Wort zu erschweren, brauchen wir Regeln und Normen, die jene schützen, die Anstoß erregen – und zwar vor Vergeltung. Und gerade weil es viele subtile Wege gibt, Rede einzuschüchtern, muss ein robuster Begriff von Meinungsfreiheit nicht nur bedeuten, dass man nicht ins Gefängnis kommt, weil man andere „beleidigt“, sondern auch, dass man darauf vertrauen kann, seinen Job oder seinen gesellschaftlichen Status nicht zu verlieren, wenn man es tut.
Zum Glück erkennen viele Menschen diesen Punkt. Die schamlose Heuchelei, der sich so viele politische Führungspersonen hingeben, sollte uns nicht blind machen für die Tatsache, dass es in unserer Kultur zahlreiche Stimmen gibt, die sich ernsthaft bemühen, dem anspruchsvollen Prinzip der Meinungsfreiheit auch dann treu zu bleiben, wenn es schwerfällt. Von Organisationen wie der Foundation for Individual Rights and Expression über Publikationen wie The Dispatch und Persuasion bis hin zu Autoren wie Jacob Mchangama und Jonathan Rauch gibt es viele Einzelpersonen und Institutionen, die sich – selbst in diesen erbittert polarisierten Zeiten – als verlässliche Verteidiger offener Debatten erwiesen haben.
Gerade in dunklen Zeiten ist es wichtig, die politische Realität nüchtern zu sehen, ohne in reflexhaften Zynismus zu verfallen. Eine realistische Sicht auf die Meinungsfreiheit besagt, dass viele sie nur so lange verteidigen, wie sie ihren Interessen dient – und sie fallen lassen, sobald sie ihre Macht einschränkt. Doch die zynische Schlussfolgerung, daraus ergebe sich, dass niemand ein prinzipientreues Bekenntnis zur Meinungsfreiheit haben könne, ist weit weniger klug, als sie scheint.
Dieser Text wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.