Warum wir auch Intoleranz tolerieren müssen
Journalisten berufen sich immer wieder auf Karl Poppers „Paradoxon der Toleranz“ um Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu rechtfertigen. Das ist schlichtweg falsch.
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Yascha
Die Meinungsfreiheit steht unter Beschuss.
In den Vereinigten Staaten fordern Regierungsbeamte zunehmend Social-Media-Unternehmen auf, bestimmte Formen schädlicher „Fehlinformationen“ zu zensieren – und haben dabei nun das implizite Einverständnis des Obersten Gerichtshofs. In Europa wurden umfangreiche Einschränkungen der Hassrede genutzt, um Menschen, die unpopuläre Aussagen machen, mit Gefängnisstrafen zu bedrohen. In Kanada sieht ein von der Regierung unterstützter Gesetzentwurf vor, politische Meinungen, die als Unterstützung für Völkermord ausgelegt werden könnten, mit lebenslanger Haft zu bestrafen.
Viele Argumente gegen die Meinungsfreiheit zeigen keinerlei intellektuelle Raffinesse. Sie entspringen einfach von der unbestreitbaren Tatsache, dass viele Menschen dumme oder widerwärtige Dinge im Internet sagen, und führen zu dem verständlichen, wenn auch fehlgeleiteten Wunsch, dass jeder, der solche Dinge äußert, zum Schweigen gebracht werden sollte. Doch jene, die mit einem Hauch von Raffinesse für Einschränkungen der Meinungsfreiheit argumentieren, greifen zunehmend auf eine Idee eines Philosophen zurück, dessen Werke sie sonst sorgfältig ignorieren: Karl Poppers „Paradoxon der Toleranz“.
Bezugnahmen auf Poppers Paradoxon der Toleranz wurden erstmals in den frühen 2010er Jahren beliebt, als einige Progressive von der ihrer Meinung nach ineffektiven moralischen Überlegenheit der Obama-Regierung enttäuscht waren. Wie Sally Kohn damals in der Washington Post schrieb, sei es ein Fehler, Toleranz als Tugend zu betrachten: „Toleranz hält sich an die Regeln, während Intoleranz schmutzig spielt. Das Ergebnis sind wiederholte K.-o.-Schläge gegen Liberale, die sich für erhaben halten, weil sie offen sind, die aber politisch und ideologisch schlicht naiv sind.“ Kohn argumentierte mit einem Zitat, das sie von Popper übernahm – „Unbegrenzte Toleranz führt zum Verschwinden der Toleranz“ –, um ihrem Wunsch, dass die Demokraten einen härteren Kurs einschlagen, einen Anstrich von Autorität zu verleihen: „Um das derzeitige politische Klima in Poppers Begriffen zu beschreiben,“ schrieb sie, „werden Liberale durch ihre eigene Toleranz entwaffnet.“
Der Verweis auf Popper wurde noch gebräuchlicher, nachdem Donald Trump fünf Jahre später ins Amt kam, insbesondere nach der berüchtigten Unite the Right-Demonstration in Charlottesville bei der ein Rechtsextremist in eine Menschenmenge fuhr und eine Gegendemonstrantin tödlich verletzte. Kommentatoren griffen nun auf das Paradoxon der Toleranz zurück, um zu begründen, dass es legitim sei, die Versammlungen von Menschen mit extremen politischen Ansichten zu verbieten. Ein Artikel in Quartz, veröffentlicht nach den tödlichen Protesten, wurde zum Paradebeispiel dieses Genres: „Weiße Suprematisten hoffen wirklich sehr, dass Sie diesen Artikel nicht weiterlesen. Sie wollen nicht, dass Sie vom Paradoxon der Toleranz erfahren, weil sie dann eine mächtige Waffe im Kampf für eine rassistischere Gesellschaft verlieren würden.“ Nach einer charakteristisch vereinfachten Darstellung von Poppers Gedankengut schloss der Artikel mit der direktesten Formulierung der zugrunde liegenden Motivation: „Ihr Herz weiß, wann uneingeschränkte Toleranz die falsche Antwort ist. Hören Sie auf Ihr Herz. Und lernen Sie dann das Paradoxon der Toleranz auswendig, damit Kopf und Herz im Einklang handeln können.“
Diese Rechtfertigung für Zensur ist mittlerweile tief in den politischen Diskurs eingedrungen – und hat sogar global an Bedeutung gewonnen. In den letzten Jahren haben deutsche Autoren sie genutzt, um für ein Verbot der Alternative für Deutschland (AfD) zu plädieren, einer populistischen Partei, die in Umfragen bei fast 20 Prozent der Stimmen liegt. Der französische Rundfunk hat sie herangezogen, um zu argumentieren, dass rechtsextreme Proteste verboten werden sollten. Eine brasilianische Zeitschrift verwies darauf, um zu fordern, dass Holocaustleugner strafrechtlich verfolgt werden sollten.
Doch es war ein vereinfachter Zeichentrickfilm, der eine einfache und verdrehte Version von Poppers „Paradoxon der Toleranz“ ins öffentliche Bewusstsein brachte. Mit einer Mischung aus Originalzitaten Poppers und irreführenden Paraphrasen suggeriert dieser Zeichentrickfilm, dass in einer Gesellschaft, die intolerante Ansichten toleriert, „die Toleranten zerstört werden – und mit ihnen die Toleranz.“ Deshalb müsse jede Bewegung, die „Intoleranz und Verfolgung predigt, gesetzlich verboten werden.“ Denn, so Popper angeblich, „erfordert die Verteidigung der Toleranz, dass wir die Intoleranten nicht tolerieren.“
In seiner ursprünglichen Version sind die Bösewichte in diesem Zeichentrickfilm Nazis. Doch Argumente gegen Meinungsfreiheit werden oft von politischen Bewegungen übernommen, die ihre eigenen Bösewichte identifiziert haben. So begannen auch andere Autoren und Intellektuelle bald, Poppers Logik zu nutzen, um strenge Einschränkungen von Meinungen zu rechtfertigen, die ihnen persönlich missfielen. Im Daily Telegraph schrieb Philip Johnston, dass „fundamentalistischer Islam nicht vernünftig diskutiert werden kann, weil er sich selbst als absolute Wahrheit betrachtet“ – was Poppers Rechtfertigung für Zensur besonders relevant mache. Der britische Akademiker Matt Goodwin nutzte dieselbe Logik in Bezug auf muslimische Einwanderer aus Pakistan: „Die Ära, in der Großbritannien gegenüber Menschen tolerant war, die uns nicht tolerieren, muss enden.“ Während der ursprüngliche Zeichentrickfilm popularisierte, dass liberale Gesellschaften gegenüber Nazis intolerant sein sollten, nutzte eine spätere Abwandlung dieselbe Logik, um zu argumentieren, dass intolerante Formen des Islams in westlichen Gesellschaften nicht geduldet werden sollten.
Menschen mit völlig unterschiedlichen politischen Überzeugungen und Zielen berufen sich heutzutage auf das Werk eines Philosophen, dessen Bücher sie vermutlich nie gelesen haben. Doch trotz all ihrer Unterschiede haben sie zwei Dinge gemeinsam: Erstens verzerren sie den Kern von Poppers Denken. Und zweitens haben sie eine tiefe und gefährliche Verwirrung darüber geschaffen, welche Freiheiten liberale Demokratien ihren Mitgliedern gewähren sollten – selbst denen, deren Ansichten als wenig tolerant wahrgenommen werden.
Popper befürwortete keine Zensur
(Wenn Sie mehr an einer inhaltlichen Argumentation gegen Zensur interessiert sind als daran, was Popper tatsächlich sagte, können Sie diesen Abschnitt gerne überspringen.)
Karl Popper stellte das Paradoxon der Toleranz in einer Fußnote zu Kapitel 7 seines 1945 veröffentlichten Buches Die offene Gesellschaft und ihre Feinde vor und kehrte dann für den Rest seines Lebens kaum noch zu diesem Thema zurück. Hier ist die Gesamtheit dessen, was er dazu sagte:
Das weniger bekannte Paradoxon der Toleranz: Uneingeschränkte Toleranz muss zum Verschwinden der Toleranz führen. Wenn wir uneingeschränkte Toleranz selbst gegenüber den Intoleranten ausüben, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaft gegen den Angriff der Intoleranten zu verteidigen, dann werden die Toleranten zerstört, und mit ihnen die Toleranz. – Mit dieser Formulierung impliziere ich allerdings nicht, dass wir immer intolerante Philosophien unterdrücken sollten; solange wir ihnen mit rationalen Argumenten begegnen und sie durch die öffentliche Meinung in Schach halten können, wäre Unterdrückung sicherlich äußerst unklug. Aber wir sollten das Recht beanspruchen, sie, falls nötig, auch mit Gewalt zu unterdrücken; denn es kann leicht passieren, dass sie nicht bereit sind, sich auf rationaler Ebene mit uns auseinanderzusetzen, sondern damit beginnen, jegliche Argumentation zu verwerfen; sie könnten ihren Anhängern verbieten, rationalen Argumenten zuzuhören, weil diese angeblich irreführend sind, und sie lehren, auf Argumente mit Fäusten oder Pistolen zu antworten. Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht beanspruchen, die Intoleranten nicht zu tolerieren. Wir sollten fordern, dass jede Bewegung, die Intoleranz predigt, sich außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten die Aufstachelung zu Intoleranz und Verfolgung als kriminell betrachten, genauso wie wir die Aufstachelung zu Mord, Entführung oder zur Wiederaufnahme des Sklavenhandels als kriminell betrachten sollten.
Diese Fußnote ist, ehrlich gesagt, nicht so klar wie sie sein könnte. Die Zitate, die von denen genützt werden, die sich auf Popper berufen, um Zensur zu rechtfertigen, stammen aus genau diesem Abschnitt. Doch ebenso enthalten ist eine Vielzahl von Einschränkungen und Vorbehalten, die das Gegenteil suggerieren – wie etwa Poppers Betonung, dass wir intolerante Philosophien im Allgemeinen nicht unterdrücken sollten, was seine vermeintlichen Anhänger gerne übersehen. Glaubte Popper also wirklich, dass das Paradoxon der Toleranz erfordert, die Meinungsäußerungen jedes Intoleranten zu verbieten?
Um zu verstehen, was Popper sagte, müssen wir verstehen, wer er war und was er zu erreichen versuchte. Popper wurde 1902 in eine wohlhabende jüdische Familie in Wien geboren. Als Jugendlicher schloss er sich dem revolutionären Sozialismus an und machte eine Lehre als Möbelbauer. Doch nach und nach entfremdete er sich vom orthodoxen Marxismus seiner Zeitgenossen, schloss die Schule verspätet ab und widmete sich dem Studium der Wissenschaftsphilosophie. Mit einer politischen Weitsicht, die vielen seiner Zeitgenossen tragischerweise fehlte, bemühte er sich verzweifelt, Österreich nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland zu verlassen, und sicherte sich 1937 schließlich eine Stelle an einer Universität in Neuseeland. Nach dem Krieg zog er an die neugegründete London School of Economics, wo er den Rest seiner angesehenen Karriere verbrachte.
Poppers wichtigste philosophische Errungenschaft lag in seiner Prägung unseres Denkens über Wissenschaft. Noch heute betrachten viele die Wissenschaft als ein festgelegtes System von Methoden, um die Wahrheit bestimmter Behauptungen zu beweisen. Wenn Menschen in sozialen Medien darauf bestehen, dass wir „der Wissenschaft glauben“ sollen, nehmen sie stillschweigend an, dass es sichere Erkenntnisse gibt, die wissenschaftlich denkende Menschen niemals bezweifeln würden. Doch Popper argumentierte, dass der Kern der wissenschaftlichen Methode nicht in einer Reihe von Verfahren liegt, die uns Gewissheit über die Welt verschaffen, sondern in einer Haltung, die jede Annahme kritisch hinterfragt. Für ihn ist Wissenschaft ein Prozess, bei dem Hypothesen aufgestellt werden um dann zu versuchen, diese zu widerlegen. Was eine Theorie wissenschaftlich macht, ist ihre Falsifizierbarkeit – die Tatsache, dass sie durch empirische Beweise widerlegt werden kann. Und der Grund, warum wir unseren derzeitigen wissenschaftlichen Überzeugungen vorläufig Glauben schenken sollten, liegt darin, dass es uns trotz aller Versuche bisher nicht gelungen ist, sie zu widerlegen.
Der Schwerpunkt auf Skepsis und freiem Denken, der Poppers wissenschaftliches Verständnis prägte, durchdrang auch sein politisches Denken. Er war zutiefst besorgt darüber, dass viele seiner Zeitgenossen auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin der Ansicht waren, der Liberalismus sei anachronistisch. Diese Denker argumentierten, dass liberale Demokratien wahrscheinlich von anderen politischen Systemen überholt werden würden – einschließlich Faschismus und Kommunismus –, die ihren Herrschern wesentlich mehr Macht einräumen. Nur durch die Übernahme totalitärer Methoden – sei es in Form von Propaganda und Zensur oder staatlicher Kontrolle über die Produktionsmittel – könnten diese Systeme in Schach gehalten werden, so ihre Behauptung. Doch diese Argumentation, warnte Popper in der Einleitung zu Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, sei falsch: „Demokratie ist nicht gezwungen, um den Totalitarismus zu bekämpfen, dessen Methoden zu kopieren und damit selbst totalitär zu werden.“
Für Popper übersahen die damals beliebten „Historizisten “, die aus ihrer Interpretation der vermeintlichen Gesetze der Geschichte den bevorstehenden Untergang der Demokratie ableiteten, die Stärke liberaler Institutionen: „Nur die Demokratie erlaubt einen institutionellen Rahmen, der Reformen ohne Gewalt ermöglicht, und so die Anwendung der Vernunft in politischen Fragen,“ argumentierte er in der Offenen Gesellschaft. Um totalitäre Systeme wie Faschismus oder Kommunismus in Schach zu halten, müssen wir Institutionen bewahren, die offene Untersuchungen zulassen und allen Bürgern weitreichende Rechte gegenüber ihren Regierungen einräumen.
Die Sorge, zu viel Macht in die Hände der Herrschenden einer Gesellschaft zu legen, war für Popper auch zentral im Kapitel der Offenen Gesellschaft, in dem er das Paradoxon der Toleranz erläuterte. Seit Platons Zeiten, beklagte er, hätten sich politische Philosophen darauf konzentriert, die Frage zu beantworten, wer herrschen solle. Wird die Frage so gestellt, ist es unvermeidlich, dass Antworten wie „die Weisen“, „die Gläubigen“ oder „das Proletariat“ gegeben werden. Doch für Popper war selbst der beste Herrscher wahrscheinlich zu schlimmen Taten fähig, wenn seine Macht unkontrolliert bliebe. Die bessere Frage lautete für ihn: „Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass schlechte oder unfähige Herrscher daran gehindert werden, großen Schaden anzurichten?“ In seiner gesamten Arbeit machte Popper deutlich, dass seine Antwort auf diese Frage strikte Begrenzungen der Staatsmacht und ein besonderes Augenmerk auf das, was er „geistige Freiheit“ nannte, beinhaltete. 1
Diese Perspektive ist entscheidend, um Poppers berühmte Fußnote über das Paradoxon der Toleranz zu verstehen. Popper stellt zunächst klar, dass die Unterdrückung des „Angriffs der Intoleranten“ eine letzte Maßnahme sein sollte: „Solange wir ihnen mit rationalen Argumenten begegnen und sie durch die öffentliche Meinung eindämmen können, wäre Unterdrückung sicherlich äußerst unklug.“ Er fragt weiter, was mit einer „Bewegung, die Intoleranz predigt“, zu tun sei, aber anstatt anzunehmen, dass jede solche Bewegung von vornherein indiskutabel sei, deutet er an, dass es nur dann zulässig sei, diejenigen zu unterdrücken, die ihren Anhängern beibringen, „Argumente mit Fäusten oder Pistolen zu beantworten.“ Ebenso scheint Poppers Kriterium für den Zeitpunkt, an dem politische Reden strafrechtlich verfolgt werden sollten, eine gewisse Gewaltbereitschaft oder zumindest deren Androhung vorauszusetzen. Wenn Hetzprediger „zur Intoleranz und Verfolgung aufstacheln“, können sie eingeschränkt werden – eine deutlich engere Ausnahme, als jene annehmen, die sich auf Popper berufen. 2
Poppers Fußnote zur Toleranz wird in den Dienst einer Weltanschauung gestellt, die darauf besteht, Regierungen die Macht zu geben, zu entscheiden, welche Art von Rede als intolerant einzustufen ist und wie diejenigen, die solcher „falscher Gedanken“ beschuldigt werden, bestraft werden sollen. Doch der gesamte Kern von Poppers Werk legt nahe, dass er diese Weltanschauung abgelehnt hätte. Statt zu glauben, dass Demokratien zwangsläufig scheitern, wenn sie die Methoden des Autoritarismus nicht übernehmen, war er überzeugt, dass gerade das liberale Bekenntnis zu freier Untersuchung und zur Begrenzung der Staatsmacht ihnen hilft zu überleben.
Wir müssen beleidigende Ansichten tolerieren – aber keine gewalttätigen Handlungen
Die Autorität, auf die sich diejenigen berufen, die das Paradoxon der Toleranz zur Rechtfertigung von Zensur zitieren, ist, wie ich gezeigt habe, betrügerisch erlangt. Doch das klärt nicht die grundlegende Frage, wie liberale Gesellschaften mit Intoleranten umgehen sollten.
Sind tolerante Gesellschaften wirklich dazu verdammt, von den Intoleranten zerstört zu werden? Und falls ja, unter welchen Umständen dürfen liberale Gesellschaften sich berechtigt fühlen, sie zu unterdrücken – oder gar einzusperren? Der erste Schritt zur Beantwortung dieser Frage ist es, eine Unterscheidung, die in Poppers Fußnote implizit vorhanden ist, explizit zu machen.
Das Wort „intolerant“ kann sehr unterschiedliche Bedeutungen haben. Wenn wir über jemanden sprechen, der intolerant ist, denken wir vielleicht an jemanden, der sich weigert, sich an die Regeln der Gesellschaft zu halten. Vielleicht ist diese Person so wütend über die vermeintliche Unmoral der bestehenden Ordnung, dass sie bereit ist, mit gewaltsamen Mitteln dagegen vorzugehen, etwa durch Terroranschläge oder blutige Putsche. Oder sie hasst Mitglieder bestimmter Minderheitengruppen so sehr, dass sie bereit ist, sie auf offenkundig illegale Weise zu verfolgen – zum Beispiel, indem sie sie auf der Straße verprügelt oder ihre Gemeindezentren niederbrennt. Nennen wir diese Menschen die gewaltsam Intoleranten.
Es ist offensichtlich, dass keine tolerante Gesellschaft solche Intoleranz lange dulden könnte. Wenn eine demokratische Gesellschaft nicht bereit ist, ihre eigenen Gesetze gegen gewaltsam Intolerante durchzusetzen, verlieren diese Gesetze schnell ihre Bedeutung.
Doch das Wort „intolerant“ kann – und in zeitgenössischen politischen Debatten bedeutet es oft – etwas viel Begrenzteres. Wenn wir jemanden als intolerant bezeichnen, meinen wir oft, dass er eine negative Meinung über andere Gruppen hat. Diese Person könnte sexistisch, homophob oder rassistisch sein; sie könnte beleidigende Dinge über Mitglieder dieser Gruppen im Internet sagen oder sich weigern, sie in ihr Zuhause einzuladen. Aber sie schlägt nicht vor, die soziale Ordnung, die Mitgliedern dieser Gruppen gleiche Rechte gewährt, mit Gewalt zu stürzen, noch droht oder attackiert sie sie körperlich. Nennen wir diese Menschen die nicht-gewaltsam Intoleranten.
In einer freien Gesellschaft hat jeder von uns das Recht, die nicht-gewaltsam Intoleranten zu kritisieren und zu verurteilen. Wir können unsere eigene Vereinigungsfreiheit nutzen, um sie aus unseren Häusern und sozialen Clubs auszuschließen. Wir können sogar Gesetze erlassen, die sie daran hindern, die von ihnen abgelehnten Gruppen etwa im Geschäftsleben zu diskriminieren. Aber was wir nicht tun können, ohne einen Kernbestandteil unserer eigenen Werte aufzugeben, ist, sie für ihre Überzeugungen zu zensieren oder ins Gefängnis zu sperren.
Die vereinfachte Zeichentrickversion von Poppers Paradoxon behauptet, dass die Toleranten zerstört werden, wenn sie ihre Mitbürger tolerieren, die „Intoleranz predigen“. Doch die Geschichte der Vereinigten Staaten und zahlreicher anderer Demokratien weltweit beweist, dass dies schlicht nicht stimmt. Menschen haben schon lange öffentlich zutiefst intolerante Ansichten vertreten. Es gab schon immer andere, die sich so sehr darüber sorgten, dass sie Zensur forderten. Und dennoch sind die Ansichten über Minderheitengruppen in einer Vielzahl von Demokratien, die weitgehend freie Diskussionen über soziale und kulturelle Fragen zulassen, im Laufe der Zeit weniger vorurteilsbeladen geworden.
In Westeuropa, Südamerika und großen Teilen Ostasiens sind die Einstellungen gegenüber sexuellen und ethnischen Minderheiten heute weitaus positiver als noch vor einigen Jahrzehnten. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als in den Vereinigten Staaten, einem Land, in dem die Einschränkungen der Meinungsfreiheit (glücklicherweise) besonders gering sind. Vor fünfzig Jahren glaubte die große Mehrheit der Amerikaner, dass sowohl gleichgeschlechtliche Sexualität als auch ethnisch gemischte Ehen zutiefst unmoralisch seien. Heute unterstützt die Mehrheit der Amerikaner die gleichgeschlechtliche Ehe und hält ethnisch übergreifende Ehen für völlig unproblematisch.
Mit anderen Worten: Die vereinfachte Zeichentrickversion des Paradoxons der Toleranz basiert auf einer konzeptionellen Verwirrung und einer empirischen Unwahrheit. Es handelt sich um eine konzeptionelle Verwirrung, weil sie sich weigert, die grundlegende Unterscheidung zwischen beleidigenden Worten und gewalttätigen Handlungen anzuerkennen. Und es ist eine empirische Unwahrheit, weil sie fälschlicherweise davon ausgeht, dass intolerante Ansichten – wenn sie nicht zensiert und ihre Vertreter bestraft werden – unweigerlich im Wettbewerb der Ideen Oberhand gewinnen würden.3
Ein selbstbewussterer Liberalismus
Die Idee, dass es ein Paradoxon sei, intolerante Ansichten zu tolerieren, ist ein Produkt von Angst und Selbstzweifel. Angesichts der politisch turbulenten Zeiten, in denen wir leben – wie etwa die Schlagzeilen über die bevorstehenden amerikanischen Wahlen oder die jüngsten Unruhen im Vereinigten Königreich zeigen –, ist es verständlich, dass diese Ängste gewachsen sind. Doch die Geschichte legt nahe, dass liberale Demokratien guten Grund haben, selbstbewusster an die Attraktivität ihrer Werte zu glauben. Wenn sie wirklich offene Debatten über sensible Themen zulassen, wird zwar viel Beleidigendes gesagt werden; aber die Argumente, die sich durchsetzen, sind bisher zumeist die toleranten – nicht immer, aber deutlich häufiger als unter jeder anderen Regierungsform.
Umgekehrt gilt: Wenn Gesellschaften anfangen, zu zensieren und auszuschließen, geschieht dies fast immer im Namen von Wahrheit, Toleranz oder Aufklärung. Doch die Personen, die entscheiden, wer zensiert oder ausgeschlossen werden soll, sind per Definition fast immer die Mächtigen, nicht die Marginalisierten. Und wie Popper erkannte, sind die Mächtigen seit Anbeginn der Geschichte sehr geschickt darin, sich selbst einzureden, dass sie die Freiheit verteidigen, während sie in Wahrheit an den Schrauben der Tyrannei ziehen. Seine anhaltende Warnung galt den „Propagandisten, die, oft in gutem Glauben, die Technik des Appells an moralische und humanitäre Gefühle für antihumanitäre, unmoralische Zwecke entwickelt haben.“
Achtzig Jahre später ist Poppers Argument für eine offene Gesellschaft, die den Mächtigen nicht erlaubt, zu bestimmen, welche Ideen wir öffentlich hinterfragen dürfen, so dringlich wie eh und je.
Hier geht es zum Originalartikel auf Englisch.
Einer der vielen Streitpunkte, die er mit Platon austrägt, ist, dass der ehrwürdige griechische Philosoph glaubte, Kinder seien die Zukunft des Staates, und es deshalb wichtiger sei, ihnen die „richtigen“ Ideen zu vermitteln, als ihnen die Freiheit zu geben, selbstständig zu denken. Dagegen hielt Popper: „Das scheint mir die Tür zum Totalitarismus weit zu öffnen. Das Staatsinteresse darf nicht leichtfertig angeführt werden, um die kostbarste aller Freiheiten zu gefährden – nämlich die intellektuelle Freiheit.“
Es gibt noch einen weiteren Grund, die gängigste Interpretation von Poppers Fußnote zurückzuweisen. Im nächsten Absatz stellt er das Paradoxon der Toleranz in den Kontext anderer Paradoxa, die seiner Meinung nach nicht unsere Verpflichtung gegenüber liberalen Institutionen schwächen sollten. Nach dem (scheinbaren) Paradoxon der Demokratie sollte eine Mehrheit der Wähler frei sein, für einen lebenslangen Diktator zu stimmen. Nach dem (scheinbaren) Paradoxon der Freiheit würde ein völliges Fehlen von Einschränkungen tatsächlich zu enormen Eingriffen in das Leben der Bürger führen, da eine anarchische Gesellschaft „den Tyrannen frei macht, die Schwachen zu versklaven“. Doch wie Popper zeigt, können all diese Paradoxa „leicht vermieden werden“, wenn wir die Argumente für liberale Institutionen richtig formulieren. Was Liberale fordern, ist ein Staat, in dem die Menschen wirklich Einfluss auf die Regierung haben; in dem Bürger unparteiisch behandelt werden; und in dem die Kernfunktionen des Staates, einschließlich der Sicherstellung öffentlicher Ordnung und Bildungschancen, nicht die Freiheit des Denkens und des Gewissens eines jeden Einzelnen beeinträchtigen. Dies, so schließt er, sind „die besten, wenn auch nicht unfehlbaren Mittel, um eine solche Regierung zu kontrollieren.“
Ein häufig vorgebrachtes Argument, das nahelegt, dass Toleranz gegenüber Intoleranz tatsächlich zum Untergang demokratischer Gesellschaften führen wird, ist die Geschichte des Aufstiegs des Dritten Reiches. Es ist schließlich kein Zufall, dass die vereinfachte Zeichentrickversion von Poppers Argument implizit auf den Fall der Weimarer Republik verweist.
Laut dieser Erzählung wurde die Weimarer Republik durch ihr übermäßiges Engagement für die Meinungsfreiheit geschwächt. Wenn Popper die jüngste Geschichte heranzog, um die Notwendigkeit einzuschränken, Intoleranz gegenüber Intoleranten zu tolerieren, musste er ein Versagen bei der Zensur nationalsozialistischer Propaganda im Sinn gehabt haben. Doch wie Popper (obwohl er weder in der Weimarer Republik noch im Dritten Reich gelebt hatte) wohl wusste, war die Wahrheit eine andere.
Die Weimarer Republik hatte ein theoretisches Bekenntnis zur Meinungsfreiheit. In der Praxis jedoch erlaubte die Verfassung weitreichende Zensur von Kultur und populären Medien. Wenn die öffentliche Sicherheit angeblich bedroht war, konnte sie sogar die Aussetzung grundlegender Freiheiten, einschließlich der Meinungsfreiheit, rechtfertigen.
Das schlechte Verhältnis der Weimarer Republik zur Meinungsfreiheit ist nicht nur ein theoretisches Problem. Wie Daniel Ben-Ami uns in Erinnerung ruft, ist es schlichtweg falsch zu glauben, dass Beamte nie versucht hätten, nationalsozialistische Propaganda zu zensieren; im Gegenteil, sie verboten wiederholt nationalsozialistische Zeitungen und andere Propagandaquellen. Doch wie immer, wenn diejenigen an der Macht entscheiden dürfen, was erlaubt und was verboten ist, verschoben sich die gesellschaftlichen Tabus mit den politischen Strömungen. Als die Nazis und andere rechtsextreme Nationalisten mehr Macht gewannen, wurde zunehmend linke politische Rede offiziell verboten – oder inoffiziell durch Gewalt unterdrückt.
Tatsächlich, wenn die Geschichte der Weimarer Republik überhaupt dazu herangezogen werden kann, die Logik des Paradoxons der Toleranz zu illustrieren, dann dadurch, dass sie ihre Unfähigkeit zeigt, Versuche der gewalttätig Intoleranten zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit einzudämmen. In den späteren Jahren der Weimarer Republik nutzten die Sturmabteilung und andere rechtsextreme Gruppen Gewalt und Einschüchterung, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Eine sympathisierende Justiz – die genau jene Art der Diskriminierung von Standpunkten praktizierte, die diejenigen fordern, die sich auf das Paradoxon der Toleranz berufen – weigerte sich, diesen offensichtlich illiberalen Taktiken ein Ende zu setzen.