Wir alle leben wieder in einem Dorf
Wie die sozialen Medien die Freiheiten des Stadtlebens zerstört haben.
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In den vergangenen Wochen musste ich immer wieder an eines der zugleich banalsten und, vielleicht, tiefgründigsten Internet-Skandale der letzten Zeit denken.
Sie erinnern sich an die Szene: Eine Kamera bei einem Coldplay-Konzert zeigt Fans im Publikum, während Sänger Chris Martin zu jedem ein paar freundliche Bemerkungen macht. Dann schwenkt das Bild auf ein attraktives Paar mittleren Alters, das sich zärtlich umarmt – der Mann hält die Frau von hinten, beide wiegen sich im Takt der Musik. Doch als sie plötzlich auf der großen Leinwand erscheinen, beginnt eine perfekt choreografierte Panik. Die Frau, erschrocken, schlägt die Hände vors Gesicht und dreht sich weg. Der Mann wirft sich nach links, hinaus aus dem Kamerabild. Eine jüngere Frau, die hinter ihnen sitzt und offenbar weiß, was gerade passiert, kommt ins Bild – ihr Gesichtsausdruck ist eine poetische Mischung aus Entsetzen und Schadenfreude. „Oh, was ist das?“, kommentiert Martin trocken. „Entweder haben die eine Affäre – oder sie sind einfach sehr schüchtern.“
Das Internet brauchte nicht lange, um Martins erste Vermutung zu bestätigen. Der Mann war der CEO eines Tech-Unternehmens, in seiner Branche bekannt, aber kein Prominenter. Die Frau war die Personalchefin desselben Unternehmens – offiziell also Chief People Officer. Beide wurden binnen Stunden öffentlich an den Pranger gestellt und traten wenig später zurück. Der kurze Clip ihrer innigen Umarmung – und ihres jähen Auseinanderweichens – wurde inzwischen von Dutzenden, vielleicht Hunderten Millionen Menschen weltweit gesehen.
Über diesen Vorfall ist viel geschrieben worden. Doch der Aspekt, der mich am meisten beschäftigt, wurde kaum erwähnt: Die Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in vieler Hinsicht geprägt vom Aufstieg der Großstädte – und von der relativen Anonymität, die sie ihren Bewohnern boten. Diese Anonymität eröffnete Freiräume: Sie erlaubte, sich von den engen Normen kleiner Städte und Dörfer zu lösen, aber auch, Dinge zu tun, die andere als unmoralisch empfanden. Doch diese Kultur endete irgendwann in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts. Denn selbst wenn man glaubt, mitten unter 60.000 Menschen in einem riesigen Stadion unsichtbar zu sein, kann die Macht der sozialen Medien einen heute innerhalb von Minuten einem weltweiten Publikum ausliefern.
Im wörtlichen Sinne wachsen die Städte weiter, und die Welt wird immer urbaner. Im kulturellen – oder, wenn man so will, im geistigen – Sinn aber ist die urbane Zwischenzeit der Menschheitsgeschichte vorbei. Wir alle leben wieder in einem Dorf.
Die Nachkriegs-Ausnahmeerscheinung
In letzter Zeit habe ich viel darüber nachgedacht, dass die Nachkriegswelt – die wir lange für den Normalzustand entwickelter Demokratien hielten – sich im Rückblick als eine kurze historische Ausnahme erweist.
Nehmen wir die Wirtschaft. Nordamerika und Westeuropa erlebten in den Jahrzehnten nach 1945 einen außergewöhnlichen Wachstumsschub. Ein großer Teil der Bevölkerung erhielt erstmals Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung wie Antibiotika, konnte sich Haushaltsgeräte wie Kühlschränke und Waschmaschinen leisten – und besaß zum ersten Mal ein eigenes Auto. Selbst die Lebenserwartung stieg innerhalb weniger Jahrzehnte deutlich an. Trotz der erheblichen politischen Turbulenzen jener Zeit, die wir im Rückblick oft unterschätzen, verschaffte all das den Institutionen der liberalen Demokratie ein Maß an „Output-Legitimität“, wie sie es wohl so bald nicht wieder erreichen werden.
Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch in anderer Hinsicht machen: Viele der Faktoren, die in den Nachkriegsjahrzehnten zu einer vergleichsweise stabilen Welt beitrugen, erweisen sich heute als Produkte einer außergewöhnlichen Epoche. Das weitverbreitete Bekenntnis zu den grundlegenden Regeln und Normen des demokratischen Spiels etwa galt lange als Kennzeichen reifer Demokratien – und schien dauerhaft gesichert. Doch mit dem Verblassen der Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus und der gleichzeitigen Anschauung des Versagens kommunistischer Systeme schwand auch die Bindung vieler Bürger an die liberale Demokratie. Wie ich schon in meiner frühen wissenschaftlichen Arbeit beschrieben habe, blickt inzwischen ein erheblicher Teil der Bevölkerung mit tiefem Misstrauen auf unser politisches System.
Auch die Nachkriegszeit brachte den Aufstieg einer vergleichsweise geordneten öffentlichen Sphäre hervor – einer Sphäre, in der Menschen sich oft über Fakten einig waren, selbst wenn sie über Meinungen stritten, und in der Redaktionen großer Medienhäuser noch definieren konnten, was als vernünftig galt. Diese Ordnung schien Ergebnis tiefgreifender gesellschaftlicher Entwicklungen zu sein: steigende Alphabetisierung, nahezu flächendeckender Schulabschluss, wachsende Zahl an Hochschulabsolventen. Doch auch dieses Phänomen entpuppt sich als Produkt der besonderen Bedingungen jener Zeit – einer Ära, in der Medienkonzerne von einem geografischen Zentrum aus in die Peripherie sendeten, während die technischen Voraussetzungen dafür, dass heute jeder Einzelne seine Meinung über soziale Medien Millionen anderer mitteilen kann, noch nicht existierten.
In den vergangenen Tagen habe ich über eine weitere Entwicklung nachgedacht, die wir lange für wegweisend hielten, die sich aber ebenfalls als kurze Nachkriegsanomalie entpuppt hat: eine bestimmte Kultur persönlicher Freiheit, ermöglicht durch das Leben in der Stadt. Denn wie sich zeigt, war das städtische Leben – mit seiner Freiheit von sozialer Kontrolle und kollektiver Enge – nur ein kurzer Zwischenakt in der Geschichte der Menschheit. Angetrieben durch soziale Medien ist das Dorf zurückgekehrt – seiner Wärme beraubt, befeuert von der Grausamkeit der Menge.
Der Käfig der Normen
Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte lebte die überwältigende Mehrheit der Menschen entweder in umherziehenden Jäger- und Sammlergruppen oder in kleinen, sesshaften Gemeinschaften, die Ackerbau betrieben. Diese beiden frühen Formen menschlicher Organisation unterschieden sich in vielerlei Hinsicht – Anthropologen haben sie ausführlich beschrieben. Doch sie hatten eines gemeinsam: Beide bildeten kleine Gemeinschaften, in denen sich fast alle Mitglieder kannten und das Verhalten jedes Einzelnen einer ständigen sozialen Kontrolle unterlag.
Diese soziale Überwachung erfüllte über Jahrtausende eine wichtige Funktion. Thomas Hobbes argumentierte in seinem Leviathan bekanntlich, dass wir eine zwingende politische Ordnung brauchen, um die dunkleren Seiten der menschlichen Natur im Zaum zu halten. Ohne ein Gewaltmonopol des Staates, so seine Warnung, würden schon kleine Konflikte zwischen Individuen rasch eskalieren und einen „Krieg aller gegen alle“ entfesseln, in dem das Leben „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ wäre. Doch wie Daron Acemoglu und James Robinson in Gleichgewicht der Macht: Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft hervorheben, deuten die besten ethnografischen Befunde darauf hin, dass solches Chaos weit seltener ist, als Hobbes annahm. In Wahrheit werden die meisten ländlichen Gesellschaften, in denen staatliche Autorität schwach oder gar nicht vorhanden ist, von einem strengen „Käfig der Normen“ beherrscht.
Traditionelle Gesellschaften neigen dazu, ausgefeilte und oft höchst repressive Verhaltensregeln zu entwickeln. Selbst ohne Polizei oder Gerichte gelingt es ihnen erstaunlich gut, diese moralischen Gebote durchzusetzen. Da jeder jeden kennt und das Dorfleben kaum Raum für Geheimnisse lässt, werden Verstöße rasch entdeckt. Und weil Menschen in solchen Gemeinschaften stark auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind – und die Angst vor sozialer Ächtung tief in ihrer evolutionären Prägung verankert ist –, wirken die Mechanismen des Ausschlusses fast ebenso abschreckend wie ein modernes Strafgesetz.
Mit anderen Worten: Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte lebte der größte Teil der Menschheit in ständiger Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung. Das Landleben hatte viele Vorteile. Im besten Fall bot es ein echtes Gemeinschaftsgefühl, ein dichtes soziales Netz vertrauter Menschen und gegenseitige Unterstützung – von der Kindererziehung bis zum Scheunenbau. Doch der Käfig der Normen, der diese Kooperation ermöglichte, hatte einen hohen Preis: Er schränkte die persönliche Freiheit massiv ein – wie wohl jedes Mitglied einer ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheit, ja jeder Mensch mit ungewöhnlichen Vorlieben oder Meinungen, bestätigen könnte.
Das städtische Zwischenspiel
Was uns letztlich aus dem Käfig der Normen befreite, war nicht in erster Linie ein Wandel moralischer Überzeugungen, ein Rückgang der Religiosität oder gar der Widerstand derer, die unter ihm litten – sondern die Urbanisierung.
Sie verlief im Wesentlichen in vier Phasen. Die erste und langsamste brachte eine kleine Zahl mittelgroßer Städte hervor, die nur einen winzigen Teil der Gesamtbevölkerung beherbergten, aber eine überproportionale Rolle bei der Entstehung der modernen Welt spielten.1
Die zweite Phase, die mit der Industriellen Revolution einsetzte, führte zur raschen Entstehung größerer städtischer Ballungsräume. Zwar lebte dort in fast allen Ländern weiterhin nur eine Minderheit der Bevölkerung, doch begann diese Entwicklung, den Einfluss des Käfigs der Normen auf das gesellschaftliche Leben zu schwächen.2
Die dritte Phase, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte, brachte ein explosionsartiges Wachstum der Städte mit sich: In Ländern wie Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten lebte erstmals in der Geschichte die Mehrheit der Menschen in urbanen Räumen – und die relative Anonymität des Stadtlebens schien sich als dauerhafte Lebensform zu etablieren.
Die vierte Phase schließlich, die um 1950 begann, weitete diesen Prozess auf ärmere Regionen der Welt aus. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen lebt seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts die Mehrheit der Menschheit in Städten. Die urbane Zukunft schien global geworden.
Viele zentrale Elemente der Nachkriegskultur gingen unmittelbar aus dieser strukturellen Transformation hervor. Die sexuelle Befreiung etwa hatte fast ebenso viel mit der Möglichkeit zu tun, nicht länger das Stigma des „Scharlachroten Buchstabens“ zu tragen, wie mit der Erfindung der Pille. (Bezeichnenderweise hatte Boston, der Schauplatz von Nathaniel Hawthornes berühmtem Roman, Mitte des 17. Jahrhunderts weniger als 2.500 Einwohner.) Verhütungsmethoden waren – wenn auch weit weniger zuverlässig – schon vor der bahnbrechenden Erfindung der Pille weit verbreitet. Doch Sex vor der Ehe setzte auch die Freiheit von den gesellschaftlichen Konsequenzen solcher „unsittlichen“ Handlungen voraus – Konsequenzen, die früher den beruflichen Ruin des Mannes oder den Ausschluss der Frau vom Heiratsmarkt bedeuten konnten.
Andere kulturelle Umbrüche erzählen eine ähnliche Geschichte. Homosexualität etwa war in der überwältigenden Mehrheit ländlicher Gesellschaften verboten und wurde bestraft. Deshalb zog es jene Schwulen und Lesben, die über ihr Leben einigermaßen selbst bestimmen konnten, in die relative Anonymität größerer Städte. Dort – in Metropolen wie San Francisco, London, Köln oder Chengdu – begann das schwule Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufzublühen. Und dort entstand auch die Bewegung für die Rechte Homosexueller, in einer Zeit, in der sich die Einstellungen der meisten Bürger westlicher Demokratien im Laufe weniger Jahrzehnte von offener Feindseligkeit zu weitgehender Akzeptanz wandelten.
Diese Entwicklungen schienen lange unaufhaltsam, ja unvermeidlich. Um das Jahr 2000 hätten die meisten Sozialwissenschaftler wohl argumentiert, der Rückgang sozialer Kontrolle über das moralische Verhalten der Gemeinschaftsmitglieder sei Ausdruck eines tiefgreifenden Einstellungswandels, der durch den Modernisierungsprozess ausgelöst wurde. So sprach der renommierte Soziologe Ronald Inglehart von einem Aufstieg „postmaterialistischer“ Werte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Da Menschen zunehmend in der Lage waren, sich die materiellen Grundlagen eines Wohlstandslebens zu sichern, richteten sie ihren Blick auf höhere Ziele – Selbstverwirklichung, Sinn, persönliche Entfaltung. Dies spiegelte sich in einer Liberalisierung der Weltanschauungen, die sich, so glaubte man, allmählich von den Wohlhabendsten auf die breite Mehrheit ausbreiten würde.
Wenn all das zutraf, lag die Annahme nahe, dass die relative Freiheit des städtischen Lebens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch künftigen technologischen Veränderungen standhalten würde. Man konnte sich vielleicht vorstellen, dass ein Rückfall in „materialistische“ Werte eintreten würde, wenn die Stadtbevölkerung rapide schrumpfte, wirtschaftliche Not zurückkehrte oder ein großer Krieg den Fokus wieder auf Überleben und Stammesloyalität lenkte. Doch technologische Fortschritte, die Menschen größere Ausdrucksmöglichkeiten und stärkere Vernetzung versprachen, so glaubte man damals, würden den Siegeszug postmaterialistischer Werte nur beschleunigen. Die Zukunft, so waren Inglehart und die meisten seiner Zeitgenossen überzeugt, würde immer toleranter werden.
Wie wir heute wissen, war diese Annahme hoffnungslos naiv.
Die strukturelle Transformation der sozialen Mediensphäre
Der Prozess der Urbanisierung schreitet zu Beginn des 21. Jahrhunderts unvermindert voran. Jahr für Jahr lebt ein größerer Teil der Weltbevölkerung in Städten. Länder wie China, die noch vor wenigen Jahrzehnten fast ausschließlich ländlich geprägt waren, sind heute überwiegend urban.
Doch parallel dazu hat sich ein anderer, noch tiefgreifenderer Wandel vollzogen, der die Kultur unserer Zeit auf fundamentale Weise verändert hat. In einer seltsamen historischen Ironie fiel ausgerechnet jenes Jahrzehnt, in dem erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten lebte, mit der Erfindung einer Technologie zusammen, die dafür sorgt, dass wir moralisch gesehen wieder in die Strukturen des Dorflebens zurückgekehrt sind: den sozialen Medien.
Soziale Medien haben zweifellos viele Vorteile.3 Doch sie haben auch zwei zentrale Effekte, die die Anonymität des Stadtlebens aufheben – und den Käfig der Normen unter modernen Bedingungen zurückbringen. Erstens schaffen sie die Gefahr, dass jeder, der gegen eine gesellschaftliche Norm verstößt, massenhafter öffentlicher Beschämung ausgesetzt wird – selbst dann, wenn die betreffende Norm weit verbreitet verletzt wird und der Verstoß an sich geringfügig ist. Zweitens verwandeln sie jede Gemeinschaft mit engen sozialen Verbindungen in ein digitales Dorf, in dem Überwachung und Normdurchsetzung auch ohne nationale Öffentlichkeit möglich sind.
Das „Coldplay-Paar“ ist ein perfektes Beispiel für diese Dynamik. Eheliche Treue ist selbstverständlich eine Tugend – doch sie wird tagtäglich von Millionen Menschen auf der ganzen Welt verletzt. Und wer als heimliches Paar ein Konzert mit Zehntausenden von Besuchern besucht, muss natürlich damit rechnen, dass viele sie sehen; doch, so die Logik des städtischen Lebens, darf er vernünftigerweise hoffen, dass keiner dieser Menschen weiß, wer sie sind – oder sich überhaupt dafür interessiert. Es ist also leicht nachvollziehbar, warum das Coldplay-Paar annahm, während seines Ausflugs anonym zu bleiben – und damit den sozialen Konsequenzen seines Fehltritts zu entgehen.
Doch die sozialen Medien haben die Struktur der Öffentlichkeit grundlegend verändert – und damit die stillschweigende Annahme der Anonymität, die wir aus dem städtischen Zeitalter geerbt haben, gefährlich gemacht. Wenn ein Videoclip nur fesselnd genug ist, kann er zwei Konzertbesucher binnen Stunden aus der relativen Unbekanntheit reißen und ihre Bilder millionenfach auf Smartphones rund um die Welt verbreiten. Und wenn ihr Fehlverhalten so einem globalen Publikum vorgeführt wird, schützt sie die Alltäglichkeit ihres Vergehens nicht vor Entlassung, Spott und sozialer Ächtung. Auf diese Weise ermöglichen soziale Medien eine zufällige, stochastische Durchsetzung des Käfigs der Normen: Zwar kommen die meisten Menschen die meiste Zeit ungestraft davon, doch jeder lebt mit der Angst, dass gerade sein Verstoß – ob schwerwiegend oder banal – zufällig ins grelle Licht der Weltöffentlichkeit gerät.
Wenn wir darüber nachdenken, wie soziale Medien uns die Anonymität des Großstadtlebens rauben, denken wir meist an spektakuläre Fälle wie das Coldplay-Paar. Doch so aufsehenerregend sie sind, täuschen sie über das eigentliche Ausmaß des Phänomens hinweg. Der Großteil der sozialen Dramen spielt sich auf viel kleinerer Bühne ab. Tag für Tag erleiden Tausende Menschen auf der ganzen Welt harte soziale Sanktionen – in ihrer Schule, auf dem Campus, in der Nachbarschaft –, weil ein Post in sozialen Medien nicht von Millionen, sondern von Hunderten oder Dutzenden gesehen wurde.
Heute werden Disziplin und Strafe meist in der Halbdunkelheit unserer weitverzweigten sozialen Netzwerke vollstreckt. So wie soziale Medien nahezu totale Kommunikation ermöglichen, schaffen sie auch nahezu totale Überwachung – ein Panoptikum, allwissender als alles, was sich Jeremy Bentham je ausmalte oder Michel Foucault je fürchtete.
Ein Käfig, viele Regeln
Dörfer unterschieden sich seit jeher stark in den Normen, die sie ihren Bewohnern auferlegten. Die meisten waren patriarchalisch geprägt, einige wenige matriarchalisch. In den meisten galt strikte Monogamie, vorehelicher Sex wurde geächtet; in anderen waren alternative Formen von Sexualität und Ehe üblich. In den meisten Dörfern wurde Homosexualität missbilligt und verfolgt, in wenigen Formen war sie in gewissem Maße toleriert.
Wenn ich also sage, dass das kurze städtische Zwischenspiel zu Ende geht und wir zu den moralischen Zwängen des Dorflebens zurückkehren, meine ich damit nicht, dass sämtliche kulturellen Veränderungen der letzten zwei Jahrhunderte verschwinden werden. Der Inhalt des Käfigs der Normen kann sich stark verändern, auch wenn seine Form gleich bleibt. Und während in vielen Teilen der Welt – vom ländlichen Indien bis zum urbanen China – soziale Medien häufig zur Durchsetzung konservativer sexueller Moralvorstellungen dienen, war mir die Beschwörung von Der Report der Magd als Metapher für die Vereinigten Staaten schon immer fehl am Platz: Die Vorstellung, ein Amerika, dessen prägende Kulturfiguren Donald Trump, Taylor Swift, Beyoncé und LeBron James heißen, könne sich in eine Theokratie verwandeln, ist denkbar abwegig.
Auch in dem globalen Dorf, in dem wir uns heute wiederfinden, unterliegen nicht alle denselben Normen. Schon früher unterschieden sich die Sitten von Dorf zu Dorf deutlich – und ebenso unterschiedlich sind heute die Regeln, deren Bruch in einer Gemeinschaft leicht zur sozialen Ächtung führen kann.
Doch was der digitale Käfig der Normen mit seinem analogen Vorgänger gemeinsam hat, ist der zugrunde liegende Mechanismus von Disziplinierung und Bestrafung. Der Inhalt der Normen, denen man sich zu fügen hat, mag letztlich willkürlich sein – unverändert bleibt, dass sie zutiefst zwanghaft wirken und dass jeder tatsächliche oder vermeintliche Verstoß so hohe soziale Kosten nach sich zieht, dass die meisten sich lieber konform verhalten.
Ein bizarr globales Dorf – ohne die Freuden des Landlebens
Dörfer haben durchaus Vorzüge, die ihre Schattenseiten bis zu einem gewissen Grad aufwiegen können.
Ich schreibe diese Zeilen in dem italienischen Dorf, in dem meine Familie seit zwanzig Jahren ein bescheidenes Haus besitzt. Wenn es in unserer Abwesenheit ein Problem gibt, haben wir Freunde vor Ort, die ohne Zögern helfen. Ich mache mir keine Sorgen vor Einbrechern, weil unsere Nachbarn jeden Fremden, der die Straße hinauf- oder hinuntergeht, bemerken und sich an ihn erinnern würden. Und wenn ich versuche, mir im nur hundert Meter entfernten Café einen Kaffee zu holen, brauche ich manchmal eine halbe Stunde, weil ich unterwegs mit so vielen Menschen ins Gespräch komme.
Einmal schlich sich, kurz bevor wir das Land verließen, eine Katze in unser Haus und wurde dort versehentlich eingeschlossen. Einige Tage später hörte ein Passant ihr klägliches Miauen – und eine regelrechte Rettungsaktion begann. Ein Nachbar hatte den Schlüssel zum Haus eines abwesenden Nachbarn, der den Schlüssel zum Haus eines weiteren abwesenden Nachbarn hatte, der wiederum den Schlüssel zu unserem Haus besaß. Nach einer halben Stunde war das arme Tier befreit und gefüttert.
Die Wiederverdorfung der Welt bringt also ein doppeltes Problem mit sich: Sie raubt uns die wichtigsten Vorzüge des städtischen Lebens, ohne uns jene Vorteile zu bieten, die das Dorfleben einst auszeichneten. Wenn bei Ihnen zu Hause ein Rohr bricht, werden die Menschen, die Ihr Verhalten online überwachen, die Überschwemmung nicht aufhalten. Wenn jemand gerade versucht, in Ihr Haus einzubrechen, werden die, die Ihre „Canceln“ fordern, weil Sie gegen die ungeschriebenen Regeln der Schach- oder Strickgemeinschaft verstoßen haben, nicht die Polizei rufen. Und wenn Sie einmal niedergeschlagen sind, werden Ihre Facebook-Freunde und TikTok-Follower Ihnen kaum zufällig auf dem Weg zur Bar begegnen – um Sie mit einem kurzen Plausch aufzuhalten, wie es in einem lebendigen Dorf so leicht die Einsamkeit vertreibt.
Wie über weite Strecken der Menschheitsgeschichte leben wir also wieder alle in einem Dorf. Doch diesmal ist es ein digitales Dorf – eine bizarre, überdrehte Variante des Originals, erfüllt von den schnellen Urteilen und harten Strafen des Landlebens, aber schmerzlich leer seiner Freuden.
Schätzungen zufolge lebten selbst um das Jahr 1800 weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung in Städten.
Die bemerkenswerte Ausnahme bildet das Vereinigte Königreich, das vermutlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Übergang zu einer mehrheitlich städtischen Bevölkerung vollzog.
Beispielsweise vernetzen soziale Medien Angehörige von Minderheiten, die früher oft isoliert waren. Wer eine seltene Behinderung hat, ein ungewöhnliches intellektuelles Interesse verfolgt oder eine Nischensexualität auslebt, findet heute viel leichter Gleichgesinnte. Das ermöglicht Menschen, die früher der Missbilligung oder Diskriminierung der Mehrheit ausgesetzt waren, Gemeinschaft aufzubauen und Selbstvertrauen zu gewinnen. Anfangs schien genau das eine Herausforderung für den Käfig der Normen zu sein, der durch zwei Jahrhunderte Urbanisierung bereits weit geöffnet worden war. Doch das Gegenteil ist eingetreten – denn andere Wirkmechanismen der sozialen Medien, die unsere kulturelle Ordnung viel stärker verändern, haben sich letztlich als ausschlaggebend erwiesen.
Dieser Text wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.


