Chinas Stärken
Jeder Versuch, China – und die Herausforderung, die es für westliche Werte darstellt – zu verstehen, muss mit einer ehrlichen Auflistung seiner Stärken beginnen.
Wenn im Westen über China gesprochen wird, klingt es oft nach einem Nullsummenspiel.
Auf absehbare Zeit werden die Vereinigten Staaten und China die beiden größten Mächte der Welt sein. Wenn es diesen beiden Mächten nicht gelingt, eine Art modus vivendi zu finden, werden wir bei jeder Aufgabe scheitern, die internationale Zusammenarbeit erfordert – vom Eindämmen der Gefahren Künstlicher Intelligenz bis zum Erhalt der Umwelt. Ein offener Krieg zwischen den beiden Nationen könnte sich rasch zu einem Auslöschungsereignis für die Menschheit auswachsen. Und natürlich ist etwa jeder sechste Mensch Bürger Chinas – was bedeutet, dass jeder, dem das Schicksal von über einer Milliarde Menschen am Herzen liegt, hoffen muss, dass es dem Land gut geht.
Gleichzeitig lässt sich Chinas Aufstieg nicht betrachten, ohne zumindest teilweise zu fragen, was er für den Westen bedeutet. Da sich China in rasantem Tempo weiterentwickelt, ist es unvermeidlich – und vielleicht sogar zu begrüßen –, dass das Land eine größere Rolle auf der Weltbühne spielt. Doch wenn China wirtschaftlich und militärisch immer dominanter wird, stellt das nicht nur die globale Vorherrschaft des Westens in Frage; es dürfte auch seine Werte untergraben. In einem „chinesischen Jahrhundert“ wären Werte wie Meinungsfreiheit und Institutionen wie die liberale Demokratie weltweit wahrscheinlich in Gefahr. Will der Westen verstehen, wie er seine Werte angesichts wachsender Konkurrenz aus China bewahren kann, muss er zunächst die Stärken und Schwächen des Landes begreifen – und vielleicht sogar überlegen, ob es sich lohnt, manches, was dort gut funktioniert, nachzuahmen.
Mit diesen Fragen im Hinterkopf habe ich auf meiner letzten Reise nach Shanghai über den Zustand von Chinas Gesellschaft und Wirtschaft nachgedacht. Während ich durchs Land reiste, begann ich, eine – zugegeben unvollständige und subjektive – mentale Liste von Beobachtungen zu erstellen.
Hier also, als erster Teil, meine Liste der wichtigsten Stärkequellen Chinas. Falls Ihnen diese ein zu rosiges oder allzu unkritisches Bild des Landes zu zeichnen scheint, sollten Sie – wie ein Dozent im Grundstudium einmal zu einem Freund von mir sagte, der so besorgt war, seinen Termin zu verpassen, dass er unaufhörlich die Türklingel drückte – die Tugend der Geduld kultivieren: Ich verspreche, dass die Liste der Schwächen, die ich im zweiten Teil dieser kleinen Serie vorstellen werde, ebenso umfassend ausfallen wird.
Größenordnung
Der durchschnittliche Chinese ist keineswegs besonders wohlhabend. Sortiert man alle Länder der Welt nach ihrem BIP pro Kopf, landet China irgendwo im Mittelfeld – etwas wohlhabender als Malaysia oder die Dominikanische Republik, etwas ärmer als Russland oder Kasachstan.1
Der Unterschied zwischen China und diesen anderen Volkswirtschaften ist offensichtlich: Größenordnung. China hat derzeit eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen. Die Vereinigten Staaten haben 340 Millionen. Damit die Gesamtgröße der US-Wirtschaft mit der Chinas Schritt halten kann, muss das BIP pro Kopf der USA viermal so hoch sein. Würde es auf „nur“ das Doppelte sinken, wäre die US-Wirtschaft insgesamt nur noch etwa halb so groß wie die Chinas.
Nun ist für viele Zwecke das BIP pro Kopf die aussagekräftigere Zahl. Die meisten Menschen interessiert mehr, wie wohlhabend sie selbst sind, als die Gesamtgröße der nationalen Wirtschaft. Aber es gibt auch viele Bereiche, in denen die Größenordnung zählt. Die schiere Größe einer Volkswirtschaft macht einen enormen Unterschied für ihre Verhandlungsmacht, etwa im Handel. Sie ist ein starker Indikator militärischer Stärke. Und aus beiden Gründen verschafft sie einem Land auch politisches Gewicht.
Es gibt zudem das Argument, dass Größe das Wirtschaftswachstum stützen kann. Viele Länder haben in der Phase ihres schnellsten Aufschwungs ihre Infrastruktur komplett umgebaut. Weil China so groß ist, hat dieser Prozess des Umbaus das Land zum Weltmarktführer in den relevanten Technologien gemacht. In Bereichen von Elektroautos bis Hochgeschwindigkeitszügen hat der riesige Binnenmarkt Chinas Unternehmen erlaubt, sich an die Spitze zu setzen.
Koordination
China ist nicht nur eines der größten Länder der Welt; in China ist die Macht auch weit stärker zentralisiert als in anderen großen Staaten.
Der Gegensatz zu den USA ist besonders ausgeprägt. Die Vereinigten Staaten sind eine Demokratie mit weitreichenden „Checks and Balances“, also eine Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle. Bevor ein Bundesgesetz in Kraft treten kann, muss es eine ungewöhnlich hohe Zahl an Vetopunkten überwinden.2 Die Macht ist zudem regional in einem Maß verteilt, das selbst im Vergleich zu anderen föderalen Staaten wie Deutschland außergewöhnlich ist – einzelne Bundesstaaten haben das Recht, Steuern zu erheben und Straftaten nach ihren eigenen Gesetzen zu verfolgen.
Der Vergleich zu Indien ist ebenfalls aufschlussreich. Unter Narendra Modi ist die politische Macht in bedenklichem Maße konzentriert worden. Es hat beispielsweise einen realen Abbau von „Checks and Balances“ gegeben, wobei zentrale Institutionen wie das Oberste Gericht zunehmend politisiert wurden. Doch die Macht Delhis bleibt dennoch stark eingeschränkt. Die indischen Bundesstaaten genießen weiterhin echte Autonomie. Die indische Gesellschaft ist tief gespalten durch Religion, Kaste, Ethnie und Sprache. Und vor allem ist die staatliche Handlungsfähigkeit vergleichsweise gering, was es den Entscheidungsträgern in der Hauptstadt erschwert, ihren Willen im ganzen Land durchzusetzen.
Auch ein so riesiges Land wie China weist natürlich beträchtliche sprachliche und kulturelle Unterschiede auf. Doch die Machthaber in Peking sehen sich weit weniger Beschränkungen gegenüber als jene in Washington oder Delhi. Die Autorität der Kommunistischen Partei Chinas ist oberstes Gebot. Gerichte, Zeitungen und zentrale Unternehmen folgen politischen Vorgaben. Lokale Parteifunktionäre haben bisweilen etwas Spielraum für Experimente und machen Chinas Provinzen – um Louis Brandeis zu paraphrasieren – zu Laboren effizienter Autokratie; doch wenn sie einen Befehl aus Peking erhalten, gehorchen sie – oder werden rasch abgesetzt. Und natürlich ist die chinesische Bevölkerung weit homogener als die jedes anderen Landes vergleichbarer Größe: Über 90 Prozent gehören der Han-Ethnie an, und Mandarin ist nahezu im gesamten Staatsgebiet die primäre Unterrichtssprache.
All dies erlaubt es Chinas Führung, die enorme Größe des Landes zur Verfolgung einheitlicher Ziele zu nutzen. Vielleicht am sichtbarsten ist das in der Industriepolitik. Wenn politische Entscheidungsträger in Peking beschließen, massiv in den Bau, in Infrastruktur, in Elektroautos oder in künstliche Intelligenz zu investieren, können sie die dafür nötigen Ressourcen mühelos mobilisieren.
Infrastruktur
Man erkennt stets daran, dass ein Land im Aufstieg begriffen ist, dass alles neu wirkt. In China ist das zweifellos der Fall.
Noch vor wenigen Jahrzehnten verfügte China über null Kilometer Hochgeschwindigkeitsstrecke. Heute liegen weit über die Hälfte aller Hochgeschwindigkeitsbahnkilometer der Welt in diesem Land. Als ich kürzlich in China war, fiel mir auf, wie neu und riesig die Bahnhöfe sind und wie schnell und pünktlich die Züge verkehren – nicht nur in einer bekannten Metropole wie Shanghai, sondern auch in einer viertklassigen Stadt wie Yiwu.
Der Vergleich mit zwei Ländern, die ich gut kenne, ist aufschlussreich: Die Vereinigten Staaten verfügen praktisch über null Kilometer echter Hochgeschwindigkeitsstrecke.3 In Deutschland hat sich der Zustand der Züge im vergangenen Jahrzehnt stark verschlechtert. Vor diesem Hintergrund wirkt Chinas riesiges Hochgeschwindigkeitsnetz noch beeindruckender – und Züge sind in vielerlei Hinsicht eher die Regel als die Ausnahme.
Alle großen Städte in China haben in den vergangenen Jahren weitreichende öffentliche Verkehrsnetze aufgebaut. Die meisten Flughäfen des Landes sind neu, großzügig und effizient. Städte, deren Namen den meisten Westlern völlig unbekannt sind, haben beeindruckende Skylines bekommen. Dutzende Hektar Ackerland sind in funktionale – wenn auch mitunter deprimierend austauschbare – Stadtviertel verwandelt worden.
Arbeitsmoral
Es ist schwer, darüber zu schreiben, ohne ins Klischee zu verfallen. Und ehrlich gesagt dürfte ein großer Teil des Unterschieds zwischen China und anderen Ländern eher mit dem jeweiligen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun haben als mit angeblichen Eigenheiten des „östlichen Geistes“ oder der „konfuzianischen Weltanschauung“. Doch ganz gleich, welche Erklärung man bevorzugt – klar ist: Die meisten Menschen in China arbeiten heute deutlich härter als die meisten Menschen in den Vereinigten Staaten oder Westeuropa.
Die extrem hohen Arbeitserwartungen in vielen chinesischen Unternehmen werden oft mit „996“ zusammengefasst: Die meisten Beschäftigten sollen von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends im Büro sein, von Montag bis Samstag. Urlaub ist zudem äußerst knapp bemessen. Gesetzlich stehen Beschäftigten nach fünf Jahren im Unternehmen lediglich fünf bezahlte Urlaubstage pro Jahr zu; nach fünfzehn Jahren sind es zehn Tage. Für viele Bürger ist das chinesische Neujahr die einzige Gelegenheit, längere Zeit frei zu nehmen und Familie oder Verwandte zu besuchen, wenn diese weit entfernt wohnen.
Auch das Bildungssystem ist extrem wettbewerbsorientiert. Amerikanische Highschool-Schüler gehen in der Regel von etwa 8 Uhr morgens bis etwa 15 Uhr nachmittags zur Schule, Montag bis Freitag; wer ehrgeizig ist, macht vielleicht jeden Tag ein bis zwei Stunden Hausaufgaben. Chinesische Oberschüler hingegen sind meist von etwa 7 Uhr morgens bis 17 oder 18 Uhr in der Schule; es ist nicht ungewöhnlich, dass sie täglich drei oder vier Stunden mit Hausaufgaben verbringen. Und obwohl es an Wochenenden in der Regel keinen formalen Unterricht gibt, besuchen viele an Samstagen und Sonntagen Lerngruppen oder private Nachhilfeschulen.
Das Ergebnis ist, dass die 高考 (Abschlussprüfung der Oberstufe) weitaus schwieriger und intensiver ist als jedes amerikanische Pendant. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies am Schwierigkeitsgrad der – meist obligatorischen – Englischprüfung. In den Vereinigten Staaten hat das College Board kürzlich angekündigt, die Lesetexte im SAT, dem amerikanischen Studierfähigkeitstest, drastisch zu kürzen: Anstatt Schülern Texte von etwa 600 Wörtern vorzulegen und ihnen dazu einige Fragen zu stellen, sollen die Texte künftig nur noch etwa 150 Wörter lang sein, zu denen lediglich eine einzige Frage gestellt wird.
Das bedeutet, dass chinesische Oberschüler in ihrer Englischprüfung heute wahrscheinlich einen schwierigeren Test in einer Fremdsprache ablegen als Amerikaner beim SAT in ihrer Muttersprache.
Technologie
Während einer kürzlichen Hitzewelle in Europa starben Tausende Menschen – unter anderem deshalb, weil ihre Wohnungen keine Klimaanlage hatten. Selbst in den Krankenhäusern des Kontinents gibt es oft keine Klimaanlage. Das Problem liegt nicht nur im Alter vieler historischer Gebäude oder in mangelnden öffentlichen Investitionen; es ist auch ideologisch bedingt. Trotz wachsender Belege dafür, dass fehlende Klimatisierung ernsthafte negative Folgen hat – von stark verschlechterter Schlafqualität bis hin zu deutlich geringerer Produktivität – lehnen viele Europäer Klimaanlagen ab: entweder, weil sie als unvereinbar mit langjährigen Traditionen gelten, als schädlich für die Umwelt oder schlicht als irgendwie „zu amerikanisch“.
Beispiele für eine vergleichbare Zurückhaltung, eine Technologie einzuführen, die das Leben von Millionen Menschen verbessern würde, finden sich in China nur schwer. Das gilt auch im Bereich der Hochtechnologie. Die langjährige westliche Überzeugung, dass nur Demokratien an der Spitze wissenschaftlicher Forschung oder in den Zukunftsindustrien stehen können, hat sich in den vergangenen Jahren als falsch erwiesen. China ist heute weltweit führend in Bereichen wie Solarenergie und Batteriefertigung, scheint im Bereich der künstlichen Intelligenz konkurrenzfähig zu sein (wie die Einführung von DeepSeek gezeigt hat) und verfügt über Universitäten, die – anders als in Kontinentaleuropa – zu den besten der Welt zählen.
Was mich jedoch auf meiner Reise durch China wirklich beeindruckt hat, war die Geschwindigkeit, mit der neue Technologien in den Alltag integriert werden. Selbst die schäbigsten kleinen Familienläden wickeln ihre Geschäfte inzwischen fast ausschließlich über elektronische Zahlungen ab. In den meisten Restaurants können Gäste per QR-Code bestellen und bezahlen – das Warten, bis sich ein Kellner oder eine Kellnerin blicken lässt, entfällt. Mit derselben App lässt sich in nahezu jeder größeren Stadt der öffentliche Nahverkehr nutzen. Fahrdienst-Apps und Lieferdienste sind allgegenwärtig. Und wenn der Handy-Akku leer ist, kann man sich für ein paar Cent an einer nahegelegenen Station ein Ladegerät ausleihen und es an einem beliebigen Ort wieder zurückgeben.
Auch größere technologische Umstellungen finden rasch Akzeptanz. Die meisten Taxis in Shanghai sind inzwischen elektrisch. Als ich die Fahrer fragte, wie zufrieden sie mit ihren Wagen seien, fiel das Urteil gemischt aus; viele fahren günstige Modelle, die ihnen gelegentlich ernsthafte Probleme bereiten. Gewöhnt an die farbigen Flüche und die generelle Veränderungsskepsis von Taxifahrern in Städten wie Paris, London oder Washington, war ich neugierig, ob auch Shanghaier Fahrer E-Autos ablehnen würden. Zu meiner Überraschung äußerten sich fast alle begeistert über den Wechsel.
Hochmodernismus
China ist keine Planwirtschaft. Das Land hat schon vor langer Zeit die starreren Formen der zentralen Planung aufgegeben. Aber vermutlich ist es das letzte große Land der Welt, das noch den Geist dessen bewahrt, was James C. Scott als „Hochmodernismus “ bezeichnet hat: den Glauben daran, dass ehrgeizige, weitsichtige Technokraten die Ressourcen des Staates mobilisieren können, um zentrale Aspekte der Gesellschaft oder der Wirtschaft zu „rationalisieren“.
Scott war diesem Hochmodernismus gegenüber freilich höchst kritisch eingestellt und zeigte in anschaulichen und überzeugenden Details, wie solche „Pläne zur Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen scheiterten“ (um den Untertitel seines einflussreichsten Buches Seeing Like a State zu zitieren). Und die Denkweise des Hochmodernismus birgt zweifellos Risiken für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft – etwa wenn Anweisungen aus Peking dafür sorgen, dass übermäßig viele Ressourcen in bestimmte Branchen wie den Bausektor fließen. Doch ein angemessenes Bewusstsein für die zahlreichen Fallstricke des Hochmodernismus sollte uns nicht davon abhalten, anzuerkennen, dass er dem Land auch ermöglicht hat, erstaunliche Leistungen der Selbsttransformation zu vollbringen.
Ein Beispiel ist die Sprache. Die Vielfalt an Sprachen und lokalen Dialekten, die in China gesprochen werden, ist – wie ich kürzlich erläutert habe – enorm. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es sehr wahrscheinlich, dass zwei zufällig ausgewählte chinesische Bürger nicht miteinander hätten kommunizieren können.4
Das ändert sich nun rasant. Mit wenigen Ausnahmen ist Mandarin heute die primäre Unterrichtssprache für nahezu jedes Kind, das in China zur Schule geht. In den meisten Provinzen ist es Schülern sogar verboten, auf dem Schulgelände lokale Dialekte oder Sprachen zu sprechen – selbst untereinander. Auf diese Weise schafft Peking zumindest für die jüngeren Bürger etwas, was Jahrtausende chinesischer Geschichte nicht hervorgebracht haben: eine echte lingua franca.
Die gleichen Prinzipien des Hochmodernismus werden – oft noch weit strenger – eingesetzt, um separatistische Bestrebungen in abgelegenen Provinzen wie Tibet zu unterdrücken. Es gibt gute moralische Gründe, an einigen dieser Methoden Anstoß zu nehmen. Doch man kann zugleich moralisch über eine solche Rücksichtslosigkeit beunruhigt sein und anerkennen, dass die Haltung, die solche Maßnahmen möglich macht, aus rein strategischer Sicht zu den echten Stärken des Landes gehört.
Nationalstolz
Die Amerikaner sind tief gespalten, wenn es um die Rolle geht, die Patriotismus in ihrem Land spielen sollte. Viele Europäer halten Nationalismus nach wie vor für eine rückwärtsgewandte Ideologie, die besser im 20. Jahrhundert geblieben wäre. In Indien sind die Menschen so stark durch ihre Identitäten geteilt, dass regionale, kastenspezifische oder religiöse Loyalitäten oft Vorrang vor nationalem Stolz haben. Die meisten Chinesen hegen solche Zweifel oder Spaltungen nicht. Sie schätzen ihre jahrtausendealte Kultur, empfinden tiefe Verbitterung darüber, dass ihr Land im 19. und 20. Jahrhundert eine Reihe von Demütigungen durch Ausländer – sowohl westliche als auch japanische – erleiden musste, und sind unverblümt stolz darauf, nun an ihren vermeintlich rechtmäßigen Platz als globale Führungsmacht zurückzukehren.
Ein Gespräch, das ich mit einem bekannten Risikokapitalgeber führte, der für seine nationalistischen Positionen bekannt ist, bietet einen extremen – wenn auch wohl nicht völlig untypischen – Einblick in diese Weltsicht. Er begann das Gespräch damit, sich mit der Stärke der chinesischen Armee zu brüsten, die (so seine Behauptung) jede andere Streitmacht der Welt problemlos schlagen könne. Die Gründe für ihre Stärke verortete er in einer Form von gemeinsamem ethnischen Stolz: „Wir Chinesen sind Han“, sagte er. „Wir sind ein Volk. Ihr Amerikaner kommt von überall her. Ihr seid keine echte Nation.“
Ein solcher Nationalismus kann leicht in die Irre führen. Der Risikokapitalgeber, mit dem ich sprach, überschätzt fast sicher die Stärke der chinesischen Armee, die von Korruptionsskandalen geplagt ist, und unterschätzt die Stärke der US-Armee, die trotz – oder vielleicht gerade wegen – der Vielfalt ihres Personals äußerst effizient ist. Doch dieser weit verbreitete Stolz auf die Nation macht den durchschnittlichen chinesischen Bürger deutlich eher bereit, Opfer für das eigene Land zu bringen. Eine aktuelle Umfrage in den Vereinigten Staaten ergab, dass die meisten Amerikaner im Kriegsfall nicht bereit wären, ihr Leben für ihr Land zu riskieren; ich bezweifle, dass – sollte eine solche Umfrage in China erlaubt sein – dort das gleiche Ergebnis herauskäme.
Sicherheit
China ist extrem sicher.
Viele Kommentatoren führen dies auf den tiefen Zugriff des Staates zurück. Mit allgegenwärtiger Überwachung und Polizei an praktisch jeder Straßenecke lohnt sich Kriminalität einfach nicht.
Dieses Argument klingt auf den ersten Blick plausibel. Als Politikwissenschaftler mit vergleichender Perspektive bin ich jedoch eher skeptisch. Schließlich gibt es in Ostasien eine große Vielfalt an politischen Systemen. Politisch haben Taiwan und das chinesische Festland, Südkorea und Nordkorea, Japan und die Mongolei nur sehr wenig gemeinsam. Und doch weisen sie alle erstaunlich niedrige Raten an Gewaltkriminalität auf. Das deutet für mich darauf hin, dass die Ursache eher kulturell als politisch bedingt ist.
Was auch immer der Grund sein mag – die Realität ist unumstößlich. Selbst als Ausländer, der sofort als Tourist auffällt, kann man sich in großen Metropolen frei bewegen, ohne ernsthafte Sorge, Opfer einer schweren Straftat zu werden. Und auch wenn es in letzter Zeit einige schockierende Vorfälle von Massenmorden nach dem Muster amerikanischer Schulschießereien gegeben hat, hat die Tatsache, dass es praktisch unmöglich ist, an eine Schusswaffe zu kommen, die Zahl der Todesopfer stark begrenzt.
Pragmatismus
Schließlich ist das chinesische System weitaus pragmatischer, als viele Außenstehende glauben.
China ist natürlich ein autoritäres Land, in dem die Macht stark konzentriert ist. Doch es wäre ein Fehler, es als totalitären Staat zu betrachten, in dem lokale Eigeninitiative völlig entmutigt und jede Form von Kritik sofort unterdrückt wird.
Bei meinen Besuchen hat es mich immer wieder überrascht, wie offen viele Menschen – von hochgebildeten Eliten bis hin zu Lieferfahrern – über echte Probleme sprechen, etwa die hohen Lebenshaltungskosten oder die Schwierigkeit, gut bezahlte Jobs zu finden. Wie eine faszinierende politikwissenschaftliche Literatur dokumentiert, gibt es sogar eine lange Tradition politischer Proteste. Wenn ein einzelner Bürger durch den Staat offenkundig ungerecht behandelt wird oder ein lokaler Beamter sich als besonders korrupt erweist, gehen die Menschen häufig auf die Straße, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Solange sie es vermeiden, die Autorität der Kommunistischen Partei direkt infrage zu stellen, und besonders sensible Themen wie Tibet umgehen, haben ihre Proteste durchaus Chancen auf Erfolg: Es scheint, dass die KP solche Unmutsbekundungen sorgfältig beobachtet, um die unfähigsten Beamten zu identifizieren und zu bestrafen.
Kultur
Das ist vielleicht der offensichtlichste Punkt auf der Liste, aber: China ist eine uralte Zivilisation mit den tiefen kulturellen Ressourcen, die zu einer so reichen Geschichte gehören.
Chinesische Restaurants – von Gourmettempeln bis zu einfachen Nudelstuben in der Nachbarschaft – gehören zu den besten der Welt. Es gibt eine lange und lebendige Tradition chinesischer Poesie und Kalligraphie. Die bildenden Künste erleben einen Aufschwung. Klassische Musikaufführungen in den großen Städten können es inzwischen mit denen jeder westlichen Metropole aufnehmen. Und angesichts der Größe des Landes ist China zunehmend in jedem noch so ausgefallenen kulturellen Bereich vertreten: Shanghai hat einige der raffiniertesten Kaffeeläden, einige der modischsten Streetwear-Marken und einige der engagiertesten Cosplay-Szenen der Welt.
Diese Stärken sind real und von großer Bedeutung. Angesichts der vielen Vorteile, die China auf seiner Seite hat, wäre es töricht, das Land zu unterschätzen. Wer weiterhin behauptet, autoritäre Staaten seien unfähig zu innovieren oder der Aufstieg des Landes werde sich als Illusion erweisen, weigert sich, seine Ansichten angesichts sehr starker Belege zu überdenken.
Doch viele dieser Stärken haben natürlich auch eine ausgeprägte Kehrseite. Die Möglichkeit, dass einige wenige Personen in Peking weitreichende Entscheidungen für das ganze Land treffen können, führt zu enormer wirtschaftlicher Verschwendung, wenn diese Führungskräfte Fehlentscheidungen treffen. Eine beeindruckende Arbeitsmoral kann schnell zu Burn-out führen oder zu einer Kultur, die äußere Zeichen von Fleiß höher bewertet als die eigentliche Innovationsarbeit. Hochmodernistische Pläne können zwar echte Leistungen vollbringen, wie etwa die Schaffung einer gemeinsamen Verkehrssprache, bergen aber auch das Risiko, uniforme Vorgehensweisen durchzusetzen, die schlecht an lokale Gegebenheiten angepasst sind. Ein gesunder Patriotismus, der eine riesige Nation eint, kann sich in einen übermäßig selbstbewussten Chauvinismus verwandeln, der im Inland Ressentiments schürt und potenzielle Verbündete im Ausland entfremdet.
Falls Sie also befürchten, ich hätte die rosarote Brille auf, seien Sie unbesorgt: Im nächsten Teil dieser zweiteiligen Serie werde ich meine Eindrücke von Chinas größten Herausforderungen und Schwächen mit derselben Tiefe und Offenheit teilen.
Dies basiert auf dem nominalen BIP. Doch auch wenn eine Anpassung an die Kaufkraftparität die Lücke zwischen China und den reichsten Ländern wie den Vereinigten Staaten deutlich verringert, ändert sie an diesem Vergleich nicht allzu viel, da auch andere Länder mit mittlerem Einkommen durch diese Anpassung gewinnen. Betrachtet man das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf, liegt China etwas über Thailand und Turkmenistan, aber etwas unter Georgien und der Dominikanischen Republik.
In Neuseeland genügt eine einfache Mehrheit des einseitigen Parlaments, damit ein Gesetz verabschiedet wird. In den Vereinigten Staaten erfordert dies eine Mehrheit im Repräsentantenhaus, die Zustimmung von drei Fünfteln aller Senatoren, die Unterschrift des Präsidenten und zumindest das stillschweigende Einverständnis des Obersten Gerichtshofs.
Ja, Amtrak behauptet zwar, dass der Acela als Hochgeschwindigkeitszug zählt. Aber mal ehrlich: Während meiner Zeit in China fuhr ich mit dem Zug von Shanghai nach Nanjing. Die Strecke ist etwa 185 Meilen lang und dauert eine Stunde. Das entspricht in etwa der Entfernung zwischen New York und Baltimore, das auf dem Weg nach Washington, D.C., an der schnellsten Bahnstrecke Amerikas liegt. Der Acela braucht für dieselbe Distanz jedoch deutlich mehr als zwei Stunden.
Wenn ihre regionalen Sprachen zu unterschiedlich gewesen wären, hätten sie theoretisch versuchen können, sich schriftlich zu verständigen – nur wäre höchstwahrscheinlich mindestens einer von ihnen Analphabet gewesen.
Dieser Text wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.