In Europa werden Menschen wirklich für ihre Meinung eingesperrt
Von Deutschland bis Großbritannien werden Bürger inzwischen routinemäßig für ihre Online-Aussagen ins Visier genommen.
Stell dir folgendes Szenario vor.
Die Innenministerin eines Landes, das sich selbst als Demokratie versteht, zeigt Dutzende Bürger bei der Polizei an, weil sie während ihrer Amtszeit kritische Aussagen über sie gemacht haben. Viele von ihnen werden zu saftigen Geldstrafen oder sogar Gefängnisstrafen verurteilt.
Aus Protest veröffentlicht ein Journalist ein satirisches Meme. Es zeigt ein echtes Foto der Innenministerin, auf dem das Schild in ihrer Hand digital so verändert wurde, dass darauf – frei erfunden – steht: „Ich hasse Meinungsfreiheit.“
Und um den Punkt noch einmal richtig zu unterstreichen, zeigt die Innenministerin den Journalisten bei der Polizei an. Er wird tatsächlich strafrechtlich verfolgt und bekommt nach einem kurzen Prozess eine auf sieben Monate zur Bewährung ausgesetzte Gefängnisstrafe.
Würdest du sagen, dass dieses Land ein Problem mit Meinungsfreiheit hat?
Wenn ja, dann solltest du dir ernsthafte Sorgen darüber machen, was in den letzten Jahren in Europa passiert ist. Denn – wie du wahrscheinlich schon direkt erkannt hast – dieses Szenario ist nicht ausgedacht; es beschreibt die wahren Umstände eines aktuellen deutschen Gerichtsverfahrens. Und dieser Fall ist weitaus weniger ein Ausreißer, als viele ansonsten gut informierte Beobachter glauben.
Die Politikerin, um die es geht, ist Nancy Faeser.
Während ihrer mehr als drei Jahre im Amt hat die Sozialdemokratin mehrfach Bürger bei der Polizei angezeigt, weil sie sie in sozialen Medien kritisiert hatten. Und sie ist damit keineswegs eine Ausnahme; andere Mitglieder der scheidenden Regierung von Olaf Scholz sind bei der Jagd auf Kritiker noch aggressiver vorgegangen.

Robert Habeck, ein führender Kopf der Grünen, hat seit seinem Amtsantritt als Vizekanzler 2021 über 800 Strafanzeigen initiiert. Eine davon richtete sich gegen einen Rentner, der eine Parodie auf eine allgegenwärtige Werbung der deutschen Shampoofirma „Schwarzkopf Professional“ getwittert hatte – mit Habecks Gesicht (und seiner prächtigen Haarpracht) unter dem Slogan „Schwachkopf Professional“.
Die Polizei ließ es sich nicht nehmen, um sechs Uhr morgens die Wohnung des Rentners zu durchsuchen, sein iPad zu beschlagnahmen und ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten.
Manche Amerikaner würden jetzt sagen: So neu ist das doch gar nicht. Nach amerikanischen Maßstäben sind Deutschlands Einschränkungen der Meinungsfreiheit schon lange schockierend streng. Wie eine Freundin der Familie vor etwa zwanzig Jahren erfahren musste, kann selbst ein vergleichsweise harmloser Streit unter vier Augen zu einem langwierigen Gerichtsprozess führen.
Damals war sie Klavierlehrerin an der lokalen Musikhochschule, eine sanftmütige Dame, die schon weit über sechzig war. Auf dem Weg zur Arbeit wurde sie von einem Auto auf eine Weise geschnitten, die sie als gefährlich empfand – und zeigte dem Fahrer den Mittelfinger. Ein paar Stunden später stand der Fahrer am Tor ihrer Hochschule und verlangte, dass sie sich ausweise. Am Ende wurde sie von einem Gericht wegen „Beleidigung“ schuldig gesprochen und musste umgerechnet Tausende Dollar an Geldstrafe zahlen.
Seitdem ist es nur schlimmer geworden. In den letzten zehn Jahren haben eine ganze Reihe neuer Gesetze die Einschränkungen der Meinungsfreiheit noch weiter verschärft. Zuerst verpflichtete ein Gesetz – benannt, als wolle man jedes Klischee über die deutsche Sprache als schwerfällig und bürokratisch bestätigen – das Netzwerkdurchsetzungsgesetz große Social-Media-Plattformen dazu, mutmaßlich illegale Inhalte, von Hassrede bis zu persönlichen Beleidigungen, zügig zu löschen.
Das Gesetz verhängte derart hohe Strafen gegen soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook, dass diese im Zweifel lieber zu viel als zu wenig zensierten, um weiterhin im Land operieren zu dürfen.
Als Wladimir Putin seine Möglichkeiten ausbauen wollte, die politische Opposition in Russland an den Rand zu drängen, übersetzte er klugerweise zentrale Passagen des deutschen Gesetzes ins Russische – und wehrte Kritik an seinem Vorgehen gegen die Meinungsfreiheit damit ab, dass er doch bloß westliche Demokratien nachahme.
Dann schuf die scheidende Mitte-Links-Regierung Deutschlands eine neue Regelung, die Politiker unter besonderen Schutz stellt. Laut § 188 des deutschen Strafgesetzbuches drohen jedem, der eine kritische Bemerkung über eine politische Figur macht, die er nicht belegen kann, verschärfte Strafen – bis hin zu einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren.
Genau dieses Gesetz rufen große deutsche Politiker heute routinemäßig an, um die Polizei dazu zu bringen, Bürger strafrechtlich zu verfolgen – von gutgläubigen Kritikern bis zu gewöhnlichen Social-Media-Trollen. So auch im Fall des Mannes, der die harmlose Parodie der Shampoo-Werbung mit Habeck gepostet hatte.
Deutschlands Geschichte hat dem Land ein besonders zwiespältiges Verhältnis zur Meinungsfreiheit eingebracht. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs erfand sich Deutschland als „wehrhafte Demokratie“ neu – eine Demokratie, die besonderen Wert darauf legt, extremistische Kräfte mit den Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen.
Infolgedessen war es eines der ersten europäischen Länder, das offen radikale Äußerungen wie Hassrede oder die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellte.
Doch heute ist Deutschland längst kein Ausreißer mehr in Europa; im Gegenteil: Selbst Länder, die sich lange etwas auf ihre liberalen Traditionen zugutehielten, sind dem deutschen Vorbild gefolgt – und machen es nun erschreckend einfach, Bürger zu verhaften, die schockieren oder provozieren.
Ende Januar standen sechs Polizisten vor der Haustür von Maxie Allen und Rosalind Levine in Hertfordshire, Großbritannien.
Nachdem sie kurz mit dem Ehepaar – in Anwesenheit ihrer kleinen Tochter – gesprochen hatten, nahmen sie die beiden in Polizeigewahrsam, wo sie unter dem Verdacht, „böswillige Mitteilungen“ verschickt zu haben, acht Stunden lang festgehalten wurden.
Die Gründe für die Verhaftung von Allen und Levine sind schlichtweg erstaunlich.
Unzufrieden mit der Grundschule ihrer Tochter, hatten sie in einer WhatsApp-Gruppe für Eltern Fragen zum Auswahlprozess eines neuen Schulleiters gestellt.
Als die Schulleitung von der Kritik erfuhr, meldete sie Allen und Levine bei der örtlichen Polizei – die daraufhin prompt ein halbes Dutzend Beamte losschickte, um sie zu verhaften.
Da Großbritannien keine kodifizierte Verfassung besitzt, gibt es dort kein Pendant zum First Amendment der Vereinigten Staaten. Aber der Schutz der Meinungsfreiheit hat im Common Law immer eine wichtige Rolle gespielt, und Großbritannien war lange stolz auf seinen Ruf als Heimat des freien Denkens.
Als ich selbst als Teenager zum ersten Mal nach London reiste, spazierte ich zum Speaker’s Corner im Hyde Park und lauschte fasziniert einer Parade von Spinnern, Predigern und Extremisten, die vor amüsierten Schaulustigen ihre Argumente vortrugen.
Doch die Zeiten, in denen Briten frei und ohne Angst vor einer Gefängnisstrafe sagen konnten, was sie dachten, sind längst vorbei.
Es begann, wie in vielen europäischen Ländern, mit Gesetzen gegen Hassrede.
1986 führte Großbritannien ein Verbot ein, „bedrohliches oder beleidigendes Material zu veröffentlichen, das zur Aufstachelung zu Rassenhass bestimmt ist“ – mit harten Gefängnisstrafen, aber immerhin einer vergleichsweise klaren Definition dessen, was verboten war.
Das änderte sich 2003 mit der Verabschiedung des Communications Act.
Laut Abschnitt 127 kann heute jeder, der eine Nachricht über ein öffentliches Kommunikationsnetzwerk sendet, mit bis zu sechs Monaten Gefängnis bestraft werden, wenn diese als „grob beleidigend“, „unanständig, obszön oder bedrohlich“ oder als „falsch und absichtlich störend oder belästigend“ eingestuft wird.
Wie diese vage Sprache schon andeutet, sind diese Straftatbestände extrem schwammig formuliert.
Was als „unanständig“ oder „grob beleidigend“ gilt, liegt ganz im Auge des Betrachters.
Noch schlimmer wird es dadurch, dass britische Bürger wegen solcher Äußerungen vor sogenannten Magistrates’ Courts landen – Gerichten, die sich normalerweise um Bagatellen wie Ruhestörungen oder Trunkenheit in der Öffentlichkeit kümmern; in der Praxis entscheiden also oft schlecht ausgebildete Polizisten und Laienrichter ohne juristische Ausbildung darüber, was strafbar ist.
Es ist heute möglich – und sogar ziemlich üblich –, dass Briten wegen eines dummen Tweets für bis zu sechs Monate ins Gefängnis kommen, ohne je einen ausgebildeten Richter zu sehen oder ein Recht auf Geschworenenprozess zu haben. (Wenn Angeklagten unter dem Gesetz von 1986 noch höhere Strafen drohen, behalten sie immerhin einige dieser grundlegenden Verfahrensrechte.)
Durch diese weit gefassten Verbote und die Leichtigkeit ihrer Durchsetzung ist Großbritannien mittlerweile einer der europäischen Spitzenreiter darin, Menschen wegen ihrer Äußerungen strafrechtlich zu verfolgen – und sogar einzusperren.
Wie die Times of London kürzlich berichtete, „nahmen Beamte von 37 Polizeibehörden im Jahr 2023 insgesamt 12.183 Festnahmen [unter Abschnitt 127] vor.“
Das bedeutet, dass im Vereinigten Königreich durchschnittlich mehr als 33 Menschen pro Tag für das, was sie im Internet gesagt haben, verhaftet werden. 1
Viele dieser Menschen haben, wie Allen und Levine, überhaupt nichts falsch gemacht. In einem besonders erschreckenden Fall wurde eine 21-jährige Frau strafrechtlich verfolgt, weil sie einen Fußballspieler in den sozialen Medien mit dem N-Wort bezeichnet hatte – obwohl sie selbst dunkelhäutig ist. In einem anderen Fall geriet eine schottische Großmutter ins Visier drakonischer Gesetze, die faktisch Sprechverbotszonen rund um Abtreibungskliniken geschaffen haben. Die 74-jährige Rose Docherty hielt still ein Schild hoch, auf dem stand: „Zwang ist ein Verbrechen, hier zum Reden, nur wenn du möchtest“ – vier Polizisten nahmen sie daraufhin prompt fest. In einem weiteren Fall wurde ein 16-jähriges autistisches Mädchen in West Yorkshire von der Polizei überwältigt und verhaftet – unter dem Verdacht eines homophoben Hassverbrechens, weil sie gesagt hatte, ein Polizist sehe aus wie ihre „lesbische Oma.“ (Ihre geliebte Großmutter ist tatsächlich lesbisch.)
In anderen Fällen haben Menschen, die sich zweifellos moralisch verwerflich verhalten haben, Strafen erhalten, die in schockierender Weise außer Verhältnis zu ihrem Fehlverhalten stehen. In den hoch emotionalen Stunden nach dem Mord an drei jungen Mädchen bei einer Taylor-Swift-Party in Southport im Juli 2024 durch Axel Rudakubana zum Beispiel postete Lucy Connolly, die Ehefrau eines Lokalpolitikers der Konservativen Partei, einen Tweet, der eindeutig rassistisch ist: „Massenabschiebung jetzt, zündet meinetwegen alle verdammten Hotels voller dieser Bastarde an... Und wenn mich das zum Rassisten macht, was soll’s.“
Nach den Maßstäben des First Amendment in den USA würde ein solcher Tweet vermutlich als geschützte Meinungsäußerung gelten. Nach den strengeren und weniger klar definierten britischen Standards kann ein Tweet wie dieser jedoch schnell zu einer langen Gefängnisstrafe führen. Connolly wurde zu 31 Monaten Haft verurteilt.
Die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in Europa dürften in naher Zukunft noch weitreichender werden. In der Vereinbarung, die die Politik der kommenden Regierung festlegt, schreibt die Koalition, die Deutschland in den nächsten vier Jahren regieren soll, dass „die wissentliche Verbreitung falscher Behauptungen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt“ sei – ein unglaublich weit gefasster Maßstab, der potenziell alles kriminalisieren könnte, von gewöhnlichen Lügen bis hin zu kontroversen Aussagen, die die Regierung willkürlich als „Desinformation“ einstuft. In Polen hat das nationale Parlament kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das den Schutzbereich gegen „Hassrede“ deutlich ausweitet – auf Kategorien wie Alter oder Behinderung. Und zunehmend schreibt sogar die Europäische Union selbst ihren Mitgliedstaaten vor, ihre Bürger zu zensieren.
Deutschlands Netzwerkdurchsetzungsgesetz diente als Vorbild für ein ähnliches Gesetz auf europäischer Ebene; um irgendwo in der EU operieren zu dürfen, müssen soziale Netzwerke jetzt Beiträge, die möglicherweise gegen eine der 27 Regelwerke zu Hassrede der Mitgliedsstaaten verstoßen könnten, zügig löschen. Gleichzeitig hat die Europäische Kommission kürzlich vorgeschlagen, „Hassrede“ in die kleine Liste der „EU-Straftaten“ aufzunehmen; auch wenn die EU Verstöße gegen solche Regeln nicht selbst verfolgt, verpflichtet sie ihre Mitgliedstaaten dazu, entsprechende Gesetze zu erlassen.
Europas Begeisterung für strenge und schwammig definierte Einschränkungen der freien Meinungsäußerung ist sowohl ein moralischer als auch ein praktischer Fehler.
Ein gewisses Maß an Uneinigkeit darüber, wo genau die Grenze zwischen bloß moralisch verwerflicher und strafbarer Rede verläuft, ist vielleicht unvermeidlich – selbst in Debatten, die auf der Gültigkeit des First Amendment basieren.
Und auch wenn ich persönlich an den universellen Wert des amerikanischen First Amendment glaube, ist es nachvollziehbar, dass andere Länder mit anderen politischen Traditionen eine etwas weiter gefasste Vorstellung davon entwickeln, was als Aufruf zur Gewalt gilt oder wann falsche Aussagen in den Bereich der üblen Nachrede übergehen.
Aber in der Praxis sind die europäischen Einschränkungen der Meinungsfreiheit längst weit über den Bereich vernünftiger Meinungsverschiedenheiten hinausgeschossen: Sie sind inzwischen so umfassend, dass alle klassischen Argumente über die Gefahren staatlicher Zensur voll und ganz auf sie zutreffen.
Philosophen haben traditionell für die Meinungsfreiheit plädiert, indem sie die positiven Dinge betonten, die sie ermöglicht.
Wie John Stuart Mill so schön formulierte, setzen Einschränkungen der Meinungsfreiheit immer die Unfehlbarkeit des Zensors voraus; und doch zeigt das Schicksal einiger der bedeutendsten Denker der Menschheitsgeschichte, von Sokrates bis Galileo Galilei, dass das, was heute als unumstößlich wahr erscheint, sich morgen als offensichtlich falsch herausstellen kann.
Es gibt, wie Mill anmerkte, sogar eine Gefahr darin, selbst solche Meinungen zu zensieren, die sich tatsächlich als falsch erweisen; wenn wir nicht in der Lage sind, demokratische Institutionen gegen ihre schärfsten Kritiker zu verteidigen, werden wir sie eher als tote Dogmen denn als lebendige Wahrheiten bewahren – und das wird, sobald solche Verbote aufgehoben werden, die Arbeit ihrer Gegner nur umso leichter machen.
Beide dieser Einsichten haben sich als hochrelevant für unsere eigene Zeit erwiesen.
Es ist verführerisch zu glauben, dass wir klüger und toleranter seien als die Zensoren, die Sokrates und Galileo verfolgten.
Aber während meiner eigenen Lebenszeit wurden Schwule und Lesben noch regelmäßig entlassen, wenn sie öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung standen, und große soziale Netzwerke wie Facebook und YouTube sperrten Beiträge, die nahelegten, dass COVID aus einem Labor stammen könnte.
Auch Mills Argument über „lebendige Wahrheiten“ erschien mir anfangs etwas abstrakt, als ich es als Student zum ersten Mal las.
Aber die Leichtigkeit, mit der Menschen quer durch das politische Spektrum, die sich lange zur liberalen Demokratie bekannt hatten, in den letzten Jahren bereit waren, ihre Grundwerte aufzugeben, zeigt, wie weitsichtig seine Sorge um die Schwäche „toter Dogmen“ war.
Trotzdem verstehe ich, warum die positiven Aspekte der Meinungsfreiheit in einer Zeit, in der die Demokratie in vielen Ländern ernsthaft bedroht ist, wie ein fernes Anliegen wirken können.
Wiegt die Bedrohung durch „Desinformation“ nicht schwerer als die Vorteile der Meinungsfreiheit? Und ist es nicht wichtiger, die Demokratie zu retten, als sich um Feinheiten der freien Rede zu kümmern?
Deshalb (wie ich in meinem letzten Buch The Identity Trap argumentiert habe) sind die stärksten Argumente für die Meinungsfreiheit nicht die, die auf das Gute hinweisen, das passiert, wenn wir sie schützen – sondern die, die auf das Schlimme zeigen, das passiert, wenn wir es nicht tun.
Traurigerweise illustrieren die Entwicklungen in Europa perfekt diesen Punkt: Anstatt die Demokratie zu stärken, haben Einschränkungen der Meinungsfreiheit sie geschwächt.
Das angebliche Ziel von Gesetzen gegen Hassrede ist es, die Schwachen vor Beleidigung oder Viktimisierung zu schützen.
Aber praktisch gesehen haben diejenigen, die entscheiden dürfen, welche Rede erlaubt ist und welche verboten, zwangsläufig viel Macht – seien es Richter und Politiker oder leitende Angestellte von Tech-Unternehmen.
Es ist deshalb kaum überraschend, dass viele der Menschen, die wegen ihrer Meinungsäußerungen strafrechtlich verfolgt wurden – von einer jungen dunkelhäutigen Studentin in Großbritannien bis hin zu einem alten Rentner in einer deutschen Kleinstadt – relativ machtlos wirken.
Ein weiterer negativer Effekt von Einschränkungen der Meinungsfreiheit ist, dass sie die Bedeutung von Machterhalt massiv erhöhen.
Ein zentrales Versprechen der Demokratie ist, dass du deine Ansichten auch dann vertreten kannst, wenn du eine Wahl verlierst – und deshalb einen Anreiz hast, die Spielregeln zu akzeptieren, in der Hoffnung, beim nächsten Mal zu gewinnen.
Aber wenn diejenigen, die an der Macht sind, die Meinungsäußerungen derjenigen kriminalisieren können, die es nicht sind, wird die Bereitschaft, die Spielregeln zu akzeptieren, drastisch sinken.
Deshalb führen Einschränkungen der Redefreiheit, die angeblich politische Mäßigung fördern sollen, oft dazu, dass sie die Flammen des Extremismus noch weiter anheizen – und der scheinbar unaufhaltsame Anstieg der Einschränkungen der Meinungsfreiheit fällt zusammen mit dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der extremen Rechten.
Das Argument für starke Einschränkungen der Meinungsfreiheit beruht unausgesprochen auf der Vorstellung, dass solche Maßnahmen historisch notwendig gewesen seien, um unsere demokratischen Institutionen zu bewahren – und dass sie deshalb gerade in Zeiten des zunehmenden Autoritarismus besonders gerechtfertigt seien.
Aber dieses Argument ist gleich in zweifacher Hinsicht historischer Unsinn.
Es setzt fälschlicherweise voraus, dass frühere Zusammenbrüche der Demokratie auf ein Zuviel an Meinungsfreiheit zurückzuführen seien – obwohl das Gegenteil näher an der Wahrheit liegt.
Die Weimarer Republik zum Beispiel, die oft als Paradebeispiel für die Notwendigkeit einer „wehrhaften Demokratie“ mit Zensurmaßnahmen angeführt wird, hatte weitreichende Einschränkungen der Meinungsfreiheit.
Tatsächlich verschaffte das Richtern erheblichen Spielraum, ihre Freunde zu begünstigen und ihre Feinde zu verfolgen, was das Vertrauen in die Neutralität der demokratischen Institutionen massiv untergrub, die Polarisierung beschleunigte und Extremisten in die Hände spielte.
Dieses Argument setzt außerdem fälschlicherweise voraus, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit heute dazu beitragen, die Demokratie zu stabilisieren, obwohl die Beweise, einmal mehr, eher in die entgegengesetzte Richtung deuten. Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg sind europäische Länder viel restriktiver darin geworden, was sie ihren Bürgern zu sagen erlauben und wie leicht sie sich das Recht vorbehalten, diejenigen ins Gefängnis zu werfen, die sich nicht daran halten. In denselben Jahrzehnten sind hasserfüllte Ansichten im öffentlichen Diskurs deutlich präsenter geworden, und Extremisten haben erheblich an Popularität gewonnen.
Korrelation muss natürlich nicht Kausalität bedeuten. Aber es gibt gute Gründe zu glauben, dass die beiden Phänomene miteinander zusammenhängen. Zensur verändert nicht, was Menschen denken. Im Gegenteil: Sie verdrängt echte Sorgen an den Rand der öffentlichen Diskussion, macht es moderaten politischen Kräften schwerer, auf sie einzugehen, untergräbt das Vertrauen in die Anständigkeit demokratischer Institutionen und stilisiert die Zensierten zu Märtyrern.
Wenige Dinge, die ich heutzutage tue, bringen mir so zuverlässig strenge Kritik von meinen Lesern ein – und manchmal sogar so wütende E-Mails, dass sie in irgendeinem europäischen Land womöglich wegen „böswilliger Kommunikation“ strafrechtlich verfolgt werden könnten – wie mein gelegentliches Beharren darauf, dass Europa ein ernsthaftes Problem mit der Meinungsfreiheit hat. Statt auf jede dieser Nachrichten einzeln zu antworten, habe ich mich entschieden, mich hinzusetzen und systematisch meinen Standpunkt darzulegen. Traurigerweise haben mich die schockierenden Beispiele, auf die ich bei der Recherche gestoßen bin, nur noch mehr davon überzeugt, wie gravierend das Problem ist. Ohne eine ernsthafte öffentliche Debatte darüber sind europäische Länder langsam in einen Zustand hineingerutscht, in dem der Staat mit erschreckender Leichtigkeit Menschen für das, was sie sagen, ins Gefängnis stecken kann.
Ja, einige Extremisten berufen sich aus eigennützigen Motiven auf die Meinungsfreiheit. Und ja, J. D. Vances scharfe Kritik an Europas Einschränkungen der Meinungsfreiheit war angesichts der Versuche der Trump-Regierung, die freie Rede ihrer Kritiker einzuschüchtern, ziemliche Heuchelei. Aber nur weil einige derjenigen, die auf ein Problem hinweisen, selbst nicht glaubwürdig sind, heißt das nicht, dass es das Problem nicht gibt – und wer sich blind darauf versteift, in jeder Frage das Gegenteil von Leuten wie Vance zu vertreten, überlässt ihnen letztlich die Entscheidung darüber, was er oder sie selbst glaubt.
Europas weitreichende Einschränkungen der Meinungsfreiheit haben bereits zu zahlreichen schweren Justizirrtümern geführt. Sie erzeugen inzwischen eine erhebliche abschreckende Wirkung auf die Möglichkeit, sich an einer lebendigen politischen Debatte zu beteiligen – eine Debatte, die auch die Freiheit einschließen muss, unpopuläre Meinungen zu äußern und die mächtigsten Personen der Gesellschaft zu parodieren, sei es geschmackvoll oder geschmacklos.
Anstatt den europäischen Ländern dabei zu helfen, die Extremisten, die nun an die Türen der Macht klopfen, einzudämmen, hat diese Einschränkung der freien Rede sie wahrscheinlich zu Märtyrern gemacht und ihre öffentliche Unterstützung vergrößert.
Europa hat ein ernsthaftes Problem mit der Meinungsfreiheit. Statt ihre Bürger immer weiter für das zu bestrafen, was sie sagen, ist es höchste Zeit, dass Länder von Deutschland bis Großbritannien die zutiefst illiberalen Gesetze abschaffen, die sie in den letzten Jahrzehnten – meist unbeachtet von Öffentlichkeit und Presse – eingeführt haben. Um den grundlegenden Werten der Demokratien, die heute unter Bedrohung stehen, gerecht zu werden, muss der Kontinent die Richtung wechseln – und die echte Meinungsfreiheit wiederherstellen.
Dieser Text wurde mit Hilfe von KI übersetzt und von Niya Krasteva redigiert.
Im Vereinigten Königreich gibt es 45 territoriale Polizeibehörden – die von der Times berichtete Zahl an Festnahmen erfasst die tatsächliche Gesamtzahl also noch nicht einmal vollständig.
Sehr geehrter Herr Mounk,
Bendels hat in dem Land, dem Sie schlimmere Einschränkungen der Meinungsfreiheit vorwerfen als sie in den Vereinigten Staaten mittlerweile anzutreffen sind – Beispiel dafür gibt’s genug, natürlich sind nur Migranten und antisemitische Universitäten davon betroffen – in zweiter Instanz gewonnen. Er ist keineswegs inhaftiert worden. (Nach der ersten Verurteilung wurde die Strafe auf Bewährung ausgesetzt.)
Den Link zu seinem Erfolg in der zweiten Instanz
https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-04/urteil-david-bendels-nancy-faeser-meinungsfreiheit-gericht
hätten Sie ruhig zur Kenntnis nehmen können. Und ach ja: zu Habeck diesen:
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/robert-habeck-geldstrafe-nach-schwachkopf-beleidigung-gegen-wirtschaftsminister-a-b5ce0c2a-ef69-4565-8e4f-736811f4fc5d
Ich bin versucht, zu sagen, dass sich hier die Erfahrung, die ich mit vielen Expats in vielen Ländern gemacht habe, wiederholt: aus Gründen, die sie selbst wohl am besten verstehen, sind sie unheimlich kritisch mit ihrem Herkunftsland. Das sage ich aber nicht.
Verhältnisse, die es wie in den USA ermöglichen, dass Gewalttäter, die in den Kongress eingebrochen sind, freigesprochen werden, und Palästinenser, deren Kritik am Staat Israel als Antisemitismus verunglimpft wird, wünsche ich mir für Deutschland nicht und sie gibt es auch nicht. Also: Schuster, bleibt bei deinen Leisten!
Ihr Beispiel mit dem Mittelfinger zeugt übrigens davon, dass sie offensichtlich wenig Ahnung haben, wie viele Unfälle nach derartigen Beleidigungen stattfinden, denn der Beleidigte neigt dazu, den Beleidiger im Auto zu verfolgen und das hat häufig recht negative Folgen. Wegen der potentiellen Aggressionen, die sich aus Beleidigungen ergeben, sind solche in Deutschland strafbewehrt, In den USA führen sie oft zu Schießereien, aber das ist natürlich normal.
Provokationen, die in Gewalt münden können, werden vom Gesetzgeber eben als strafwürdig angesehen – anders als im Fußball, wo der Provokateur meistens ohne Strafe davonkommt.. Ich finde auch das nicht richtig aber das tut hier ja nichts zur Sache. Ich kann einen Gesetzgeber verstehen, der Provokationen als gefährlich ansieht. D.h. nicht, dass ich noch nie den Mittelfinger gezeigt hätte…
Bitte nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass in Deutschland zwischen Meinungsäußerung und Beleidigung juristisch unterschieden wird. Wenn Sie in einem Land leben mochten, in dem Sie hasserfüllte Schimpfworte doch bitte schön erdulden sollen nach dem Motto, die Person habe ja nur ihre Meinung geäußert, dann hab ich natürlich damit kein Problem. Das würde ich sicher auch in Kauf nehmen. Wenn man aber wegen einst geäußerter Kritik an Israels Politik abends von vermummten Typen abtransportiert wird, sehe ich das als wesentlich größeres Problem an als das Verhältnis der Obrigkeit in D zum Mittelfinger (das mich im Übrigen auch nervt).
Sie kritisieren ja in anderen Artikeln deutlich die derzeitigen Missstände in Ihrer Heimat. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Jetzt könnte man natürlich den Satz mit dem Schuster auch mir entgegenschleudern, ja, das könnte man. Das Mittelfingerproblem ruiniert aber nicht gerade das Verhältnis Deutschlands zu seinen Verbündeten, und man wird nicht in Konzentrationslager in El Salvador deswegen geschickt.